Ñëàâÿíñêàÿ Ôåäåðàöèÿ

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Ïðèâåò, Ãîñòü! Âîéäèòå èëè çàðåãèñòðèðóéòåñü.


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Erich Maria Remarque - Drei Kameraden

Ñîîáùåíèé 21 ñòðàíèöà 40 èç 53

21

XX

Der August war warm und klar, und auch im September das Wetter noch fast sommerlich; — aber dann fing es Ende September an zu regnen, die Wolken hingen tagelang tief über der Stadt, die Dächer trieften, es begann zu stürmen, und als ich an einem Sonntag früh erwachte und ans Fenster trat, sah ich in den Bäumen auf dem Friedhof schwefelgelbe Flecken und die ersten kahlen Äste.
Ich blieb eine Zeitlang am Fenster stehen. Es war sonderbar gewesen in diesen Monaten, seit wir von der See zurückgekommen waren — ich hatte immer, in jeder Stunde, gewußt, daß Pat im Herbst fortmußte, aber ich hatte es gewußt, so wie man vieles weiß: — daß die Jahre vergehen, daß man älter wird und daß man nicht ewig leben kann. Die Gegenwart war stärker gewesen, sie hatte alle Gedanken stets wieder beiseite gedrängt, und solange Pat da war und die Bäume noch voll im grünen Laub gestanden hatten, waren Worte wie Herbst und Fortgehen und Abschied nie mehr gewesen als blasse Schatten am Horizont, die das Glück der Nähe und des Nochbeieinanderseins nur um so stärker empfinden ließen.
Ich sah hinaus auf den nassen, verregneten Friedhof und auf die Grabsteine, die von schmutzigem braunem Laub bedeckt waren. Wie ein bleiches Tier hatte der Nebel über Nacht den grünen Saft aus den Blättern der Bäume gesogen, matt und kraftlos hingen sie an den Zweigen, jeder Windstoß, der hindurchfuhr, riß neue ab und trieb sie vor sich her — und wie einen scharfen, schneidenden Schmerz spürte ich plötzlich, zum erstenmal, daß die Trennung bald da war, daß sie Wirklichkeit wurde, ebenso Wirklichkeit wie der Herbst, der durch die Wipfel draußen geschlichen war und seine gelben Spuren hinterlassen hatte.
Ich horchte zum Zimmer nebenan hinüber. Pat schlief noch. Ich ging zur Tür und blieb dort eine Weile stehen. Sie schlief ruhig und hustete nicht. Einen Augenblick packte mich eine jähe Hoffnung — ich stellte mir vor, daß Jaffé heute oder morgen oder in den nächsten Tagen anrufen würde, um mir zu sagen, sie brauche nicht fort — aber dann dachte ich an die Nächte, in denen ich das leise Rascheln ihres Atems gehört hatte, dieses regelmäßige, gedämpfte Scharren, das kam und ging wie das Geräusch einer sehr fernen, dünnen Säge — und die Hoffnung erlosch ebenso rasch, wie sie aufgeflackert war.
Ich ging zum Fenster zurück und starrte wieder hinaus in den Regen. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und begann mein Geld zu zählen. Ich rechnete mir aus, wie lange es für Pat reichen könnte, aber mir wurde elend dabei, und ich schloß es wieder weg.
Ich sah nach der Uhr. Es war kurz vor sieben. Ich hatte noch mindestens zwei Stunden Zeit, ehe Pat aufwachte. Rasch zog ich mich an, um noch etwas hinauszufahren. Es war besser, als mit seinen Gedanken allein im Zimmer zu bleiben.
Ich ging zur Werkstatt, holte die Droschke und fuhr langsam durch die Straßen. Es waren wenig Leute unterwegs. In den Arbeitergegenden standen die langen Reihen der Mietskasernen kahl und öde da wie alte, traurige Huren im Regen. Die Fassaden waren abgebröckelt und verschmutzt, die trüben Fenster blinzelten freudlos in den Morgen, und der zerblätternde Putz der Mauern zeigte an vielen Stellen tiefe gelbgraue Löcher, als wäre er von Geschwüren zerfressen.
Ich durchquerte die Altstadt und fuhr zum Dom. Vor dem kleinen Eingang ließ ich den Wagen stehen und stieg aus. Durch die schwere Eichentür hörte ich halblaut die Klänge der Orgel. Es war gerade die Zeit der Morgenmesse, und ich hörte an der Orgel, daß die Opferung soeben begonnen hatte — es mußte also noch mindestens zwanzig Minuten dauern, bevor die Messe beendet war und die Leute herauskamen.
Ich ging in den Kreuzgarten. Er lag in grauem Licht. Die Rosenbüsche trieften im Regen, aber die meisten hatten noch Blüten. Mein Regenmantel war ziemlich weit, und ich konnte die Zweige, die ich abschnitt, gut darunter verstecken. Obschon es Sonntag war, kam niemand vorüber, und ich brachte den ersten Armvoll Rosen ungehindert zum Wagen. Dann ging ich zurück, um noch einen zweiten zu holen. Als ich ihn gerade unter meinem Mantel hatte, hörte ich jemand durch den Kreuzweg kommen. Ich klemmte den Strauß mit dem Arm fest und blieb vor einer der Rosenkranzstationen stehen, als ob ich betete.
Die Schritte kamen näher, aber sie gingen nicht vorbei, sondern hielten an. Mir wurde etwas schwül. Ich blickte sehr vertieft auf das Steinbild, schlug ein Kreuz und ging langsam weiter zur nächsten Station, die etwas entfernter vom Kreuzgang war. Die Schritte folgten mir und hielten wieder an. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Weitergehen konnte ich jetzt nicht gleich, ich mußte mindestens so lange ausharren, wie es dauerte, um zehn Ave Maria und ein Vaterunser zu beten; — sonst hätte ich mich sofort verraten. Ich blieb also stehen und blickte, um festzustellen, was los war, vorsichtig, mit abweisendem Gesicht auf, als würde ich in der Andacht gestört.
Ich sah in das freundliche, runde Gesicht eines Pastors und atmete auf. Ich hielt mich schon für gerettet, weil ich wußte, daß er mich beim Beten nicht unterbrechen würde — da bemerkte ich, daß ich unglücklicherweise die letzte Station des Rosenkranzes erwischt hatte. Selbst wenn ich noch so langsam betete, mußte ich in ein paar Minuten fertig sein, und das war es auch, worauf er anscheinend wartete. Es hatte keinen Zweck, die Sache weiter hinzuziehen. Ich ging also langsam und unbeteiligt dem Ausgang zu.
»Guten Morgen«, sagte der Pfarrer. »Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen!« erwiderte ich. Es war der kirchliche Gruß der Katholiken.
»Es ist selten, daß jemand um diese Zeit schon hier ist«, sagte er freundlich und sah mich aus hellen blauen Kinderaugen an.
Ich murmelte irgend etwas.
»Leider ist es selten geworden«, fuhr er etwas bekümmert fort. »Besonders Männer sieht man kaum noch den Kreuzweg beten. Ich freue mich deshalb über Sie und habe Sie darum auch angesprochen. Sie haben sicher eine besondere Bitte, daß Sie so früh und bei diesem Wetter gekommen sind...«
Ja, daß du weitergehst, dachte ich und nickte erleichtert. Bis jetzt hatte er anscheinend nichts von den Blumen gemerkt. Jetzt galt es nur, ihn rasch loszuwerden, damit er nicht noch aufmerksam wurde.
Er lächelte mich wieder an. »Ich bin im Begriff, meine Messe zu lesen. Da werde ich Ihre Bitte in mein Gebet mit einschließen.«
»Danke«, sagte ich überrascht und verlegen.
»Ist es für das Seelenheil eines Verstorbenen?« fragte er.
Ich starrte ihn einen Augenblick an, und meine Blumen begannen zu rutschen. »Nein«, sagte ich dann rasch und preßte den Arm fest gegen den Mantel.
Er blickte mir mit seinen klaren Augen arglos forschend ins Gesicht. Wahrscheinlich wartete er darauf, daß ich ihm sagen würde, um was es sich handle. Aber mir fiel nichts Rechtes im Moment ein, und ich hatte auch etwas dagegen, ihn mehr zu belügen, als nötig war. Deshalb schwieg ich.
»Ich werde also um Hilfe in der Not für einen Unbekannten beten«, sagte er schließlich.
»Ja«, erwiderte ich, »wenn Sie das tun wollen. Ich danke Ihnen auch sehr.«
Er wehrte lächelnd ab. »Sie brauchen mir nicht zu danken. Wir stehen alle in Gottes Hand.« Er sah mich noch einen Augenblick an, den Kopf ein wenig schräg vorgeneigt, und mir schien, als husche irgend etwas über seine Züge. »Vertrauen Sie nur«, sagte er. »Der himmlische Vater hilft. Er hilft immer, auch wenn wir es manchmal nicht verstehen.« Dann nickte er mir zu und ging.
Ich blickte ihm nach, bis ich die Tür hinter ihm zuklappen hörte. Ja, dachte ich, wenn es so einfach wäre! Er hilft, er hilft immer! Aber hat er Bernhard Wiese geholfen, als er mit einem Bauchschuß schreiend im Houtholster Wald lag, hat er Katczinky geholfen, der in Handzaeme fiel und eine kranke Frau zurückließ und ein Kind, das er noch nicht gesehen hatte, hat er Müller geholfen und Leer und Kemmerich, hat er dem kleinen Friedmann geholfen und Jürgens und Berger und Millionen anderen? Verdammt, es war etwas zuviel Blut geflossen in der Welt für diese Art von Glauben an den himmlischen Vater!
Ich brachte die Blumen nach Hause, dann fuhr ich den Wagen zur Werkstatt und ging zurück. Aus der Küche kam jetzt der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee, und ich hörte Frida herumrumoren. Es war merkwürdig, aber der Kaffeegeruch stimmte mich heiterer. Ich kannte das vom Kriege her — es waren nie die großen Dinge, die einen trösteten —; es waren immer die belanglosen, kleinen.
Ich hatte kaum die Korridortür abgeschlossen, da schoß Hasse aus seinem Zimmer hervor. Sein Gesicht war gelb und gedunsen, die Augen überwach und rot, und er sah aus, als hätte er in seinem Anzug geschlafen. Als er mich erblickte, ging eine maßlose Enttäuschung über seine Züge.
»Ach so, Sie sind es«, murmelte er.
Ich sah ihn erstaunt an. »Haben Sie so früh schon jemand erwartet?«
»Ja«, sagte er leise, »meine Frau. Sie ist noch nicht nach Hause gekommen. Haben Sie sie nicht gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich war nur eine Stunde fort.«
Er nickte. »Ich dachte nur — es hätte doch sein können, daß Sie sie gesehen hätten.«
Ich zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich kommt sie später. Haben Sie nicht telefoniert?«
Er sah mich etwas scheu an. »Sie ist gestern abend zu ihren Bekannten gegangen. Ich weiß nicht, wo sie genau wohnen.«
»Wissen Sie denn den Namen? Dann kann man doch bei der Auskunft anfragen.«
»Das habe ich schon versucht. Die Auskunft kennt den Namen nicht.«
Er hatte einen Blick wie ein verprügelter Hund. »Sie war immer so geheimnisvoll mit den Leuten, und wenn ich einmal fragte, dann wurde sie sofort ärgerlich. Da habe ich's gelassen. Ich war froh, daß sie etwas Anschluß hatte. Sie sagte immer, ich gönnte ihr anscheinend auch den nicht.«
»Vielleicht kommt sie noch«, sagte ich. »Ich bin sogar sicher, daß sie bald kommt. Haben Sie zur Vorsicht mal die Unfallstationen und die Polizei angerufen?«
Er nickte. »Alles. Dort war nichts bekannt.«
»Na also«, sagte ich, »dann brauchen Sie sich noch gar nicht aufzuregen. Vielleicht ist ihr abends nicht ganz wohl gewesen, und sie ist über Nacht geblieben. So was kommt ja oft mal vor. Wahrscheinlich ist sie in ein, zwei Stunden wieder da.«
»Meinen Sie?«
Die Küchentür öffnete sich und Frida erschien mit einem Tablett.
»Für wen ist denn das?« fragte ich.
»Für Fräulein Hollmann«, erwiderte sie, leicht gereizt durch meinen Anblick.
»Ist sie denn schon auf?«
»Das muß sie doch«, erklärte Frida schlagfertig, »sonst hätte sie doch nicht nach Frühstück geklingelt.«
»Gott segne Sie, Frida«, erwiderte ich. »Morgens sind Sie manchmal direkt ein Labsal. Könnten Sie sich überwinden, auch meinen Kaffee gleich zu machen?«
Sie knurrte etwas und schritt den Gang hinauf, wobei sie verächtlich den Hintern schwenkte. Sie konnte das. Sie war das einzige Wesen, bei dem ich so was je so ausdrucksvoll gesehen hatte.
Hasse hatte gewartet. Ich schämte mich plötzlich, als ich mich umwandte und ihn so ergeben und still wieder neben mir sah. »In ein, zwei Stunden sind Sie sicher Ihre Sorge los«, sagte ich und hielt ihm die Hand hin.
Er nahm sie nicht, sondern blickte mich sonderbar an. »Könnten wir sie nicht suchen?« fragte er leise.
»Aber Sie wissen doch nicht, wo sie ist.«
»Man könnte sie vielleicht doch suchen«, wiederholte er. »Wenn wir Ihren Wagen nähmen — ich will selbstverständlich alles bezahlen«, fuhr er schnell fort.
»Darum handelt es sich nicht«, erwiderte ich. »Es ist nur ganz aussichtslos. Wohin sollten wir denn fahren? Sie wird auch um diese Zeit nicht auf der Straße sein.«
»Ich weiß es nicht«, sagte er, immer noch ebenso leise. »Ich meine nur, daß man sie suchen könnte.«
Frida kam mit ihrem leeren Tablett zurück. »Ich muß jetzt fort«, sagte ich, »und ich glaube, Sie machen sich unnötig Sorgen. Trotzdem würde ich Ihnen gern den Gefallen tun, aber Fräulein Hollmann muß bald verreisen, und ich möchte gern heute noch mit ihr zusammen sein. Es ist vielleicht ihr letzter Sonntag hier. Das verstehen Sie doch sicher?«
Er nickte.
Er tat mir leid, wie er so dastand, aber ich war ungeduldig, zu Pat zu kommen. »Wenn Sie trotzdem gleich losfahren wollen, können Sie ja ein Taxi unten nehmen«, fuhr ich fort, »aber ich rate Ihnen nicht dazu. Warten Sie lieber noch etwas — dann kann ich meinen Freund Lenz anrufen, und er wird mit Ihnen suchen.«
Ich hatte das Gefühl, daß er gar nicht zuhörte. »Sie haben sie heute morgen nicht gesehen?« fragte er dann plötzlich.
»Nein«, erwiderte ich verwundert. »Sonst hätte ich es Ihnen ja längst gesagt.«
Er nickte wieder und ging dann abwesend, ohne ein Wort in sein Zimmer zurück.

Pat war schon bei mir gewesen und hatte die Rosen gefunden. Sie lachte, als ich hereinkam. »Robby«, sagte sie, »ich bin doch ziemlich harmlos. Erst Frida hat mich aufgeklärt, daß frische Rosen sonntags früh um diese Zeit zweifellos etwas mit Diebstahl zu tun haben müßten. Sie hat mir auch erklärt, daß diese Sorte in den umliegenden Blumengeschäften nicht zu kaufen ist.«
»Glaub, was du willst«, erwiderte ich. »Die Hauptsache ist, daß sie dir Freude machen.«
»Jetzt noch mehr als sonst, Liebling. Du hast sie doch unter Gefahren erbeutet!«
»Na, und unter was für Gefahren!« Ich dachte an den Pastor. »Aber wieso bist du so früh schon auf?«
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Und dann habe ich auch geträumt. Nichts Schönes.«
Ich blickte sie aufmerksam an. Sie sah müde aus und hatte Schatten unter den Augen. »Seit wann träumst du so was?« sagte ich. »Ich dachte, das wäre bisher meine Spezialität.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hast du gesehen, daß es Herbst wird draußen?«
»Bei uns nennt man das Spätsommer«, erwiderte ich. »Die Rosen blühen ja noch. Es regnet, das ist alles, was ich sehe.«
»Es regnet«, wiederholte sie. »Es regnet schon viel zu lange, Liebling. Manchmal nachts, wenn ich aufwache, glaube ich, daß ich ganz begraben bin unter dem vielen Regen.«
»Du mußt nachts zu mir kommen«, sagte ich. »Dann hast du solche Gedanken nicht mehr. Im Gegenteil, es ist schön, beieinander zu sein, wenn es dunkel ist und wenn es draußen regnet.«
»Vielleicht«, erwiderte sie und lehnte sich an mich.
»Ich habe es ganz gern, wenn es sonntags regnet«, sagte ich. »Man merkt dann besser, wie gut man es hat. Wir sind zusammen, wir haben ein warmes, schönes Zimmer und einen freien Tag vor uns — ich finde, das ist eine ganze Menge.«
Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ja, wir haben es gut, nicht wahr?«
»Ich finde, daß wir es wunderbar haben. Wenn ich an früher denke — mein Gott! Ich hätte nie gedacht, daß ich es noch einmal so gut haben würde.«
»Es ist schön, wenn du das sagst. Ich glaube es dann sofort. Du mußt es öfter sagen.«
»Sage ich es nicht oft genug?«
»Nein.«
»Kann sein«, sagte ich. »Ich glaube, ich bin nicht sehr zärtlich. Ich weiß nicht warum, aber ich kann es einfach nicht sein. Dabei wäre ich es sehr gern.«
»Du brauchst es nicht, Liebling, ich verstehe dich auch so. Nur manchmal, da möchte man es trotzdem auch gern hören.«
»Ich werde es dir von jetzt an jedesmal sagen. Auch wenn ich mir albern dabei vorkomme.«
»Ach, albern«, erwiderte sie. »In der Liebe gibt es keine Albernheit.«
»Gottlob nicht«, sagte ich. »Es wäre sonst furchtbar, was aus einem würde.«
Wir frühstückten zusammen, dann legte Pat sich wieder zu Bett. Jaffé hatte das so angeordnet. »Bleibst du hier?« fragte sie unter ihrer Decke hervor.
»Wenn du willst«, sagte ich.
»Ich möchte schon, aber du brauchst nicht...«
Ich setzte mich zu ihr ans Bett. »So war es nicht gemeint.
Ich erinnere mich nur, daß du es früher nicht gern hattest, wenn man dir beim Schlafen zusah.«
»Früher, ja — aber jetzt habe ich manchmal Angst, allein...«
»Das hatte ich auch mal«, sagte ich. »Im Lazarett, nach einer Operation. Ich fürchtete mich damals, nachts zu schlafen. Ich blieb immer wach und las oder dachte an irgend etwas, und erst wenn es hell wurde, schlief ich ein. Aber das vergeht wieder.«
Sie legte ihr Gesicht auf meine Hand. »Man hat Angst, daß man nicht zurückkommt, Robby...«
»Ja«, sagte ich, »aber man kommt zurück, und es geht vorbei. Du siehst es an mir. Man kommt immer zurück — wenn auch nicht gerade an dieselbe Stelle.«
»Das ist es«, erwiderte sie schon ein wenig schläfrig, mit halbgeschlossenen Augen. »Davor habe ich auch Angst. Aber du paßt auf, nicht wahr?«
»Ich passe auf«, sagte ich und strich über ihre Stirn und über ihr Haar, das auch müde zu sein schien.
Sie atmete tiefer und drehte sich etwas zur Seite. Eine Minute später war sie fest eingeschlafen.
Ich setzte mich wieder ans Fenster und sah in den Regen hinaus. Er wehte jetzt in grauen Schauern vor den Scheiben vorbei, und das Haus wirkte wie eine kleine Insel in der trüben Unendlichkeit. Ich war unruhig, denn es kam selten vor, daß Pat morgens mutlos und traurig war. Aber dann dachte ich daran, daß sie vor einigen Tagen noch lebhaft und froh gewesen war und daß vielleicht alles schon anders sein würde, wenn sie wieder erwachte. Ich wußte, daß sie viel an ihre Krankheit dachte, und ich wußte auch von Jaffé, daß es noch nicht besser geworden war — aber ich hatte in meinem Leben so viele Tote gesehen, daß jede Krankheit für mich immer noch Leben und Hoffnung war. Ich wußte, daß man an einer Verwundung sterben konnte, und darin hatte ich große Erfahrung — aber es fiel mir gerade deshalb oft schwer, zu glauben, daß auch eine Krankheit, bei der der Mensch doch äußerlich heil blieb, gefährlich sein konnte. Dadurch kam ich immer rasch über solche Anfälle von Mutlosigkeit hinweg.
Es klopfte an die Tür. Ich ging hin und öffnete. Hasse stand draußen. Ich legte den Finger an den Mund und trat auf den Korridor.
»Verzeihen Sie«, stammelte er.
»Kommen Sie zu mir herein«, sagte ich und öffnete die Tür zu meinem Zimmer.
Hasse blieb an der Schwelle stehen. Sein Gesicht schien kleiner geworden. Es war kreideweiß. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß wir nicht mehr zu fahren brauchen«, sagte er, fast ohne die Lippen zu bewegen.
»Kommen Sie ruhig herein«, erwiderte ich, »Fräulein Hollmann schläft, ich habe Zeit.«
Er hatte einen Brief in der Hand und sah aus wie jemand, der einen Schuß bekommen hat, aber noch glaubt, es sei nur ein Stoß gewesen.
»Am besten ist, Sie lesen es selbst«, sagte er und gab mir den Brief.
»Haben Sie schon Kaffee getrunken?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Lesen Sie den Brief...«
»Ja, aber inzwischen können Sie etwas trinken...«
Ich ging hinaus und sagte Frida Bescheid. Dann las ich den Brief. Er war von Frau Hasse und bestand aus wenigen Zeilen. Sie teilte ihm mit, daß sie noch etwas von ihrem Leben haben wolle. Deshalb käme sie nicht mehr zurück. Es sei jemand da, der sie besser verstünde als Hasse. Es hätte keinen Zweck, daß er irgend etwas unternähme; sie käme auf keinen Fall zurück.
Das sei ja auch wohl für ihn das beste. Er brauche dann keine Sorgen mehr zu haben, ob sein Gehalt reiche oder nicht. Einen Teil ihrer Sachen habe sie mitgenommen; den Rest würde sie gelegentlich holen lassen.
Es war ein klarer und sachlicher Brief. Ich faltete ihn zusammen und gab ihn Hasse zurück. Er blickte mich an, als ob alles von mir abhinge. »Was soll man da tun?« fragte er.
»Trinken Sie zuerst einmal diese Tasse aus und essen Sie was«, sagte ich. »Es hat keinen Zweck, daß Sie herumlaufen und sich kaputtmachen. Dann wollen wir überlegen. Sie müssen versuchen, ganz ruhig zu werden, dann werden Sie den besten Entschluß fassen.«
Er trank gehorsam die Tasse leer. Seine Hand zitterte, und essen konnte er nichts. »Was soll man tun?« fragte er nochmals.
»Gar nichts«, sagte ich. »Abwarten.«
Er machte eine Bewegung. »Was möchten Sie denn tun?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht begreifen.«
Ich schwieg. Es war schwer, ihm etwas zu sagen. Man konnte ihn nur beruhigen, alles andere mußte er selbst finden. Er liebte die Frau nicht mehr, das war anzunehmen — aber er war an sie gewöhnt, und für einen Buchhalter konnte Gewohnheit mehr sein als Liebe.
Nach einer Weile begann er zu sprechen, verworrenes Zeug, das nur zeigte, wie er hin und her schwankte. Dann fing er an, sich Vorwürfe zu machen. Er sagte kein Wort gegen die Frau. Er versuchte sich nur klarzumachen, daß er die Schuld hätte.
»Hasse«, sagte ich, »was Sie da reden, ist Unsinn. In diesen Dingen gibt es weder Schuld noch Unschuld. Die Frau ist von Ihnen fortgegangen, nicht Sie von ihr. Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen.«
»Doch«, erwiderte er und sah auf seine Hände. »Ich habe es nicht geschafft.«
»Was?«
»Ich habe es nicht geschafft. Das ist eine Schuld, wenn man es nicht schafft.«
Ich blickte verwundert auf die kleine, armselige Gestalt in dem roten Plüschsessel. »Herr Hasse«, sagte ich dann ruhig, »so etwas ist höchstens ein Grund, aber keine Schuld. Außerdem haben Sie es bisher geschafft.«
Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, nein, ich habe die Frau verrückt gemacht mit meiner ewigen Angst vor der Kündigung. Und ich habe es auch nicht geschafft! Was habe ich ihr schon bieten können! Nichts...«
Er versank in stumpfes Brüten. Ich stand auf und holte die Kognakflasche. »Trinken wir etwas«, sagte ich. »Es ist ja noch nichts verloren.«
Er hob den Kopf.
»Es ist noch nichts verloren«, wiederholte ich. »Verloren hat man einen Menschen erst, wenn er tot ist.«
Er nickte hastig und griff nach dem Glase. Aber er stellte es wieder hin, ohne zu trinken. »Gestern bin ich Bürochef geworden«, sagte er leise. »Oberbuchhalter und Bürochef. Der Prokurist hat es mir abends gesagt. Ich bin es geworden, weil ich in den letzten Monaten immer Überstunden gemacht habe. Man hat zwei Büros zusammengelegt. Der andere Bürovorsteher ist entlassen worden. Ich bekomme fünfzig Mark Gehalt mehr.« Er sah mich plötzlich verzweifelt an. »Glauben Sie, daß sie dageblieben wäre, wenn sie es gewußt hätte?«
»Nein«, sagte ich.
»Fünfzig Mark mehr. Ich hätte sie ihr geben können. Sie hätte sich immer etwas kaufen können. Und zwölfhundert Mark habe ich doch auf der Sparkasse! Wozu habe ich das nun gespart? Ich wollte etwas für sie haben, wenn es uns schlecht ginge. Und nun ist sie weggegangen, weil ich dafür gespart habe.«
Er starrte wieder vor sich hin. »Hasse«, sagte ich, »ich glaube, das hat weniger miteinander zu tun, als Sie denken. Sie sollten gar nicht darüber nachgrübeln. Es ist für Sie nur nötig, über die nächsten paar Tage wegzukommen. Dann werden Sie besser wissen, was Sie tun wollen. Vielleicht ist Ihre Frau heute abend oder morgen schon wieder da. Sie denkt doch ebenso darüber nach wie Sie.«
»Sie kommt nicht wieder«, antwortete er.
»Das wissen Sie nicht.«
»Wenn man ihr sagen könnte, daß ich jetzt mehr Gehalt habe und daß wir Urlaub nehmen und von dem Ersparten eine Reise machen wollten...«
»Das werden Sie ihr alles sagen können. Man trennt sich nicht so ohne weiteres.«
Ich war verwundert, daß er überhaupt nicht daran dachte, daß noch ein anderer Mann da war. Aber er war anscheinend noch nicht soweit; er dachte nur daran, daß seine Frau fort war, und alles andere lag noch wie ein undeutlicher Nebel dahinter. Ich hätte ihm gern gesagt, daß er in einigen Wochen vielleicht froh sein würde, daß sie weg war — aber es wäre mir bei seiner Verstörtheit als unnötige Roheit erschienen. Wahrheit ist für ein verletztes Gefühl immer roh und fast unerträglich.
Ich sprach noch eine Zeitlang mit ihm — nur damit er sprechen konnte. Ich erreichte nichts — er drehte sich im Kreise herum, aber ich hatte den Eindruck, daß er etwas ruhiger wurde. Er trank auch einen Kognak. Dann hörte ich Pat nebenan rufen.
»Einen Augenblick!« sagte ich und stand auf.
»Ja«, erwiderte er wie ein gehorsamer Knabe und erhob sich ebenfalls.
»Bleiben Sie nur, ich bin gleich wieder da.«
»Verzeihen Sie...«
»Ich bin sofort zurück«, sagte ich und ging zu Pat hinüber.
Sie saß aufrecht im Bett und sah frisch und wohl aus. »Ich habe wunderbar geschlafen, Robby! Es ist sicher schon Mittag.«
»Du hast genau eine Stunde geschlafen«, sagte ich und hielt ihr die Uhr hin.
Sie sah auf das Zifferblatt. »Um so besser, dann haben wir noch eine Menge Zeit für uns. Ich stehe gleich auf.«
»Schön. Ich komme in zehn Minuten wieder 'rein.«
»Hast du Besuch?«
»Hasse«, sagte ich. »Aber es dauert nicht lange.«
Ich ging zurück, aber Hasse war nicht mehr da. Ich öffnete die Tür zum Korridor, aber der Gang war leer. Ich ging den Korridor hinunter und klopfte an seine Tür. Er antwortete nicht. Ich öffnete die Tür und sah ihn vor dem Schrank stehen. Ein paar Schubfächer waren herausgezogen.
»Hasse«, sagte ich, »nehmen Sie ein Schlafmittel, legen Sie sich zu Bett und überschlafen Sie die Sache erst einmal. Sie sind jetzt überreizt.«
Er wendete sich langsam mir zu. »Immer allein, jeden Abend! Immer wie gestern herumsitzen, denken Sie sich das mal aus...«
Ich sagte ihm, daß sich das ändern würde und daß es viele Leute gäbe, die abends allein wären. Er gab keine rechte Antwort darauf. Ich sagte ihm nochmals, er solle schlafen gehen, vielleicht stelle sich noch alles als harmlos heraus und die Frau sei abends schon wieder zurück. Er nickte und gab mir die Hand.
»Ich komme abends noch mal 'rein«, sagte ich und ging. Ich war froh, wegzukommen.
Pat hatte die Zeitung vor sich liegen. »Wir könnten heute morgen ins Museum gehen, Robby«, schlug sie vor.
»Ins Museum?« fragte ich.
»Ja. Da ist eine Ausstellung von persischen Teppichen. Du warst wohl nicht oft im Museum?«
»Nie!« erwiderte ich. »Was sollte ich da auch?«
»Da hast du recht«, sagte sie und lachte.
»Das macht nichts.« Ich stand auf. »Bei Regenwetter kann man ruhig mal was für seine Bildung tun.«
Wir zogen uns an und gingen. Die Luft draußen war herrlich. Sie roch nach Wald und Feuchtigkeit. Als wir beim International vorbeikamen, sah ich durch die offene Tür Rosa neben der Theke sitzen. Sie hatte ihre Tasse Schokolade vor sich stehen, weil Sonntag war. Auf dem Tisch lag ein kleines Paket. Wahrscheinlich wollte sie nachher wie immer zu ihrem Kinde hinausfahren. Ich war lange nicht im International gewesen, und es erschien mir merkwürdig, daß Rosa gleichmütig wie stets dasaß. Bei mir hatte sich so vieles geändert, daß ich dachte, es müsse auch überall anderswo so sein.
Wir kamen zum Museum. Ich hatte geglaubt, wir würden ziemlich allein sein, aber zu meinem Erstaunen waren sehr viele Leute da. Ich fragte einen Wärter, was los sei.
»Nichts«, erwiderte er, »das ist doch immer so an den Tagen, wo der Eintritt frei ist.«
»Siehst du«, sagte Pat. »Es gibt noch eine Menge Leute, die sich für so etwas interessieren.«
Der Wärter schob seine Mütze zurück. »So ist das nun nicht, meine Dame. Das sind fast alles Arbeitslose. Die kommen nicht wegen der Kunst, sondern weil sie nichts zu tun haben. Und hier haben sie wenigstens was zum Ansehen.«
»Das ist eine Erklärung, die ich besser verstehe«, sagte ich.
»Jetzt ist das noch gar nichts«, erwiderte der Wärter. »Im Winter müssen Sie mal kommen! Da ist alles proppenvoll. Wegen der Heizung.«
Wir gingen in den Saal, wo die Teppiche hingen. Es war ein stiller, etwas abgelegener Raum. Durch die hohen Fenster konnte man in einen Garten sehen, in dem eine riesige Platane stand. Sie war ganz gelb, und auch das Licht im Raum bekam durch sie einen gedämpften gelben Schein.
Die Teppiche waren wundervoll. Es waren zwei Tierteppiche des sechzehnten Jahrhunderts, einige Ispahans und ein paar seidene, lachsfarbene Polenteppiche mit smaragdgrünen Bordüren. Das Alter und die Sonne hatten ihren Tönen eine milde Patina verliehen, so daß sie wie große, märchenhafte Pastelle wirkten. Sie gaben dem Raum eine zeitlose Stimmung und Harmonie, wie sie durch Bilder nie hätte erreicht werden können. Das Fenster mit dem Herbstlaub der Platane und dem perlgrauen Himmel dahinter fügte sich ein, als ob es auch ein alter Teppich wäre.
Wir blieben eine Zeitlang, dann gingen wir zurück in die übrigen Säle des Museums. Es waren inzwischen noch mehr Leute hinzugekommen, und man sah jetzt deutlich, daß sie eigentlich nicht hierhergehörten. Mit blassen Gesichtern und abgetragenen Anzügen wanderten sie, die Hände auf dem Rücken, etwas scheu durch die Räume, mit Augen, die etwas ganz anderes sahen als die Bilder der Renaissance und die stillen Marmorfiguren der Antike. Viele saßen auf den roten, gepolsterten Bänken, die ringsum aufgestellt waren. Sie saßen müde da, in einer Haltung, als wären sie gleich bereit, aufzustehen, wenn jemand käme, um sie fortzuweisen. Man merkte ihnen an, daß gepolsterte Bänke etwas für sie waren, bei dem ihnen nicht ganz begreiflich war, daß es kein Geld kostete, sich darauf auszuruhen. Sie waren gewohnt, daß sie nichts umsonst erhielten.
Es war sehr still in all den Räumen, und man hörte trotz der vielen Besucher kaum ein Wort — aber mir schien trotzdem, als sähe ich einem ungeheuren Kampf zu —, dem lautlosen Kampf von Menschen, die niedergeschlagen waren, aber sich noch nicht ergeben wollten. Sie waren ausgestoßen aus den Bezirken ihrer Arbeit, ihres Strebens, ihrer Berufe — jetzt kamen sie in die stillen Räume der Kunst, um nicht der Erstarrung und der Verzweiflung anheimzufallen. Sie dachten an Brot, immer nur an Brot und Beschäftigung; aber sie kamen hierher, um ihren Gedanken für einige Stunden zu entrinnen — und zwischen den klaren Römerköpfen und der unvergänglichen Anmut weißer, griechischer Frauengestalten wanderten sie umher in dem schleppenden Gang, mit den vorgebeugten Schultern von Menschen, die kein Ziel haben —, ein erschütternder Kontrast, ein trostloses Bild dessen, was die Menschheit in Tausenden von Jahren erreichen und nicht erreichen konnte: den Gipfel ewiger Kunstwerke, aber nicht einmal Brot genug für jeden ihrer Brüder.
Nachmittags gingen wir in ein Kino. Als wir herauskamen, hatte der Himmel sich aufgeklärt. Er war apfelgrün und sehr klar.
In den Straßen und Läden brannte schon Licht. Wir gingen langsam nach Hause und sahen uns dabei die Schaufenster an.
Vor den hellerleuchteten Scheiben eines großen Pelzgeschäftes blieb ich stehen. Es war schon kühl abends, und in den Fenstern waren dicke Bündel Silberfüchse und warme Mäntel für den Winter ausgestellt. Ich sah Pat an; sie trug immer noch ihre kurze Pelzjacke und war eigentlich viel zu leicht angezogen.
»Wenn ich jetzt der Held aus dem Film wäre, würde ich da hineingehen und dir einen Mantel aussuchen«, sagte ich.
Sie lächelte. »Welchen denn?«
»Den da.« Ich zeigte auf den, der am wärmsten aussah.
Sie lachte. »Du hast einen guten Geschmack, Robby. Das ist ein sehr schöner kanadischer Nerz.«
»Möchtest du ihn haben?«
Sie blickte mich an. »Weißt du, was so ein Mantel kostet, Liebling?«
»Nein«, sagte ich, »das will ich auch gar nicht wissen. Ich will lieber denken, ich könnte dir schenken, was ich möchte. Warum sollen nur andere Leute das können?«
Sie sah mich aufmerksam an. »Ich will aber gar keinen solchen Mantel, Robby.«
»Doch«, erwiderte ich, »du bekommst ihn! Kein Wort mehr darüber. Morgen lassen wir ihn abholen.«
Sie lächelte. »Danke, Liebling«, sagte sie und küßte mich mitten auf der Straße. »Und jetzt kommst du dran.« Sie blieb vor einem Herrenmodengeschäft stehen. »Diesen Frack da! Du brauchst ihn zu dem Nerz. Und den Zylinder dort bekommst du auch. Wie magst du wohl im Zylinder aussehen?«
»Wie ein Schornsteinfeger.« Ich schaute mir den Frack an. Er lag in einem Fenster, das mit grauem Samt ausgeschlagen war. Ich blickte noch einmal genauer hin. Es war das Geschäft, in dem ich mir im Frühjahr die Krawatte gekauft hatte, nachdem ich zum erstenmal allein mit Pat zusammengewesen war und mich betrunken hatte. Es würgte mich plötzlich etwas im Hals; ich wußte nicht warum. Im Frühjahr — da hatte ich noch nichts von allem geahnt.
Ich nahm Pats schmale Hand und legte sie eine Sekunde an meine Wange. »Du brauchst noch etwas dazu«, sagte ich dann, »so ein Nerz allein ist wie ein Auto ohne Motor. Zwei oder drei Abendkleider...«
»Abendkleider«, erwiderte sie und blieb vor den großen Schaufenstern stehen, »Abendkleider, das ist wahr — die kann ich schon schwerer abschlagen...«
Wir suchten drei wunderbare Kleider aus. Ich sah, wie diese Spielerei Pat belebte. Sie war ganz bei der Sache, denn Abendkleider waren ihre Schwäche. Wir suchten auch gleich die Sachen aus, die dazugehörten, und sie wurde immer lebhafter. Ihre Augen glänzten. Ich stand neben ihr und hörte ihr zu und lachte und dachte, was für eine verdammte Sache es doch sei, eine Frau zu lieben und arm zu sein. »Komm«, sagte ich schließlich in einer Art verzweifelter Lustigkeit, »wenn man etwas macht, muß man es ganz machen!« Ich zog sie vor ein Juwelengeschäft. »Dort das Smaragdarmband! Dazu die beiden Ringe und die Ohrgehänge! Sprechen wir nicht weiter darüber. Smaragde sind die richtigen Steine für dich.«
»Dann bekommst du aber die Platinuhr da und die Perlen fürs Hemd.«
»Und du den ganzen Laden! Unter dem tue ich es jetzt nicht mehr...«
Sie lachte und lehnte sich tief atmend an mich. »Genug, Liebling, genug! Jetzt kaufen wir uns nur noch ein paar Koffer und gehen zum Reisebüro, und dann packen wir und reisen los, fort aus dieser Stadt und diesem Herbst und diesem Regen.«
Ja, dachte ich, mein Gott, ja, und du würdest dann rasch gesund!
»Wohin denn?« fragte ich. »Nach Ägypten? Oder noch weiter? Nach Indien und China?«
»In die Sonne, Liebling, irgendwohin in die Sonne und den Süden und die Wärme. Zu Palmstraßen und Felsen und weißen Häusern am Meer und Agaven. Aber vielleicht regnet es dort auch. Vielleicht regnet es überall.«
»Dann fahren wir einfach weiter«, sagte ich, »bis es irgendwo nicht mehr regnet. Mitten in die Tropen und die Südsee hinein.«
Wir standen vor den hellen Fenstern des Reisebüros der Hamburg-Amerika-Linie. In der Mitte war das Modell eines Dampfers aufgestellt. Es schwamm auf blauen Pappwellen, und dahinter erhob sich mächtig die vergrößerte Fotografie der Wolkenkratzer Manhattans. An den Fenstern hingen große, bunte Landkarten mit rot eingezeichneten Routen.
»Nach Amerika fahren wir auch«, sagte Pat. »Nach Kentucky und Texas und New York und San Franzisko und Hawaii. Und dann über Südamerika weiter. Über Mexiko und den Panamakanal nach Buenos Aires. Und dann über Rio de Janeiro zurück.«
»Ja...« Sie sah mich strahlend an.
»Ich war noch nicht da«, sagte ich. »Ich habe dir das damals vorgeschwindelt.«
»Das weiß ich«, erwiderte sie.
»Das weißt du?«
»Aber, Robby! Natürlich weiß ich es. Ich wußte es gleich.«
»Ich war damals ziemlich verrückt. Unsicher und dumm und verrückt. Deshalb habe ich geschwindelt.«
»Und heute?«
»Heute noch mehr«, sagte ich. »Du siehst es ja.« Ich zeigte auf den Dampfer im Schaufenster. »Verflucht, daß man nicht mitfahren kann!«
Sie lächelte und legte ihren Arm in meinen. »Ach, Liebling, warum sind wir nicht reich? Wir wüßten so großartig, was wir damit anfangen sollten! Es gibt doch so viele reiche Leute, die nichts Besseres kennen, als immer wieder in ihre Büros oder ihre Banken zu gehen.«
»Deshalb sind sie ja reich«, sagte ich. »Wenn wir es wären, würden wir es bestimmt nicht lange bleiben.«
»Das glaube ich auch. Wir würden es sicher irgendwie verlieren.«
»Vielleicht würden wir auch aus Sorge, es zu verlieren, nichts davon haben. Heute ist Reichsein direkt ein Beruf. Und gar kein so ganz einfacher.«
»Die armen Reichen!« sagte Pat. »Da ist es wahrscheinlich besser, wir bilden uns ein, wir wären es schon gewesen und hätten alles bereits wieder verloren. Du hast einfach vor einer Woche Bankrott gemacht und alles verkaufen müssen — unser Haus und meinen Schmuck und deine Autos. Was meinst du dazu?« »Das ist sogar höchst zeitgemäß«, erwiderte ich.
Sie lachte. »Dann komm! Wir beiden Bankrotteure gehen jetzt in unser kleines Pensionszimmer und erzählen uns Geschichten aus den vergangenen großen Zeiten.«
»Das ist eine gute Idee.« Wir gingen langsam weiter durch die abendlichen Straßen. Immer mehr Lichter flammten auf, und als wir am Friedhof waren, sahen wir durch den grünen Himmel ein Flugzeug ziehen, dessen Kabinen hell erleuchtet waren. Es flog einsam und schön durch den klaren, hohen, einsamen Himmel, wie ein wunderbarer Vogel der Sehnsucht aus einem alten Märchen. Wir blieben stehen und sahen ihm nach, bis es verschwunden war.
Wir waren kaum eine halbe Stunde zu Hause, als es an meine Zimmertür klopfte. Ich dachte, es sei wieder Hasse, und ging, um zu öffnen.
Aber es war Frau Zalewski. Sie sah verstört aus.
»Kommen Sie doch rasch einmal«, flüsterte sie.
»Was ist denn los?«
»Hasse.«
Ich sah sie an. Sie zuckte mit den Achseln. »Er hat sich eingeschlossen und antwortet nicht.«
»Augenblick.«
Ich ging zurück und sagte zu Pat, sie solle sich etwas ausruhen; ich hätte inzwischen etwas mit Hasse zu besprechen.
»Gut, Robby. Ich bin auch schon wieder müde.«
Ich folgte Frau Zalewski über den Korridor. Vor Hasses Tür stand bereits fast die ganze Pension — Erna Bönig im bunten Drachenkimono, mit roten Haaren; vierzehn Tage vorher war sie noch weißblond gewesen — der Briefmarken sammelnde Rechnungsrat in einer Hausjacke von militärischem Schnitt —Orlow, blaß und ruhig, gerade heimgekehrt vom Tanztee —Georgie, nervös klopfend und mit gedämpfter Stimme Hasse anrufend —; und endlich Frida, schielend vor Aufregung, Angst und Neugier.
»Wie lange klopfst du schon, Georgie?« fragte ich.
»Über 'ne Viertelstunde«, platzte Frida sofort hochrot dazwischen, »und zu Hause ist er, er ist überhaupt nicht mehr 'rausgegangen, seit Mittag nicht, nur 'rumgelaufen ist er fortwährend, ewig hin und her, und dann war es ruhig...«
»Der Schlüssel steckt von innen«, sagte Georgie. »Es ist abgeschlossen.«
Ich sah Frau Zalewski an. »Wir müssen den Schlüssel herausstoßen und aufmachen. Haben Sie noch einen zweiten Schlüssel?«
»Ich hol' mal das Schlüsselbund«, erklärte Frida ungewohnt dienstfertig. »Vielleicht paßt einer.«
Ich ließ mir einen Draht geben, schob damit den Schlüssel gerade und stieß ihn aus dem Loch. Er fiel klappernd auf der anderen Seite zu Boden. Frida schrie auf und hielt die Hände vors Gesicht.
»Scheren Sie sich möglichst weit weg«, sagte ich zu ihr und probierte die Schlüssel. Einer davon paßte. Ich schloß auf und öffnete die Tür. Das Zimmer lag im Halbdunkel, und man sah im ersten Augenblick niemand. Die beiden Betten schimmerten grauweiß, die Stühle waren leer, die Schranktüren geschlossen.
»Da steht er!« zischte Frida, die sich wieder herangedrängt hatte, über meine Schultern hinweg. Ihr Zwiebelatem streifte heiß mein Gesicht. »Da hinten am Fenster.«
»Nein«, sagte Orlow, der rasch ein paar Schritte ins Zimmer gemacht hatte und zurückkam. Er stieß mich an, griff nach der Klinke und zog die Tür wieder zu. Dann wandte er sich an die andern. »Es ist besser, Sie gehen. Vielleicht ist es nicht gut, das zu sehen.«
Er sprach langsam, in seinem harten, russischen Deutsch, und blieb vor der Tür stehen.
»O Gott!« stammelte Frau Zalewski und wich zurück. Auch Erna Bönig machte ein paar Schritte rückwärts. Nur Frida versuchte, sich vorbeizudrängen und die Klinke zu fassen. Orlow schob sie weg. »Es ist wirklich besser...«, sagte er noch einmal.
»Herr!« schnauzte der Rechnungsrat plötzlich und richtete sich auf.
»Was erlauben Sie sich! Als Ausländer!«
Orlow sah ihn unbewegt an. »Ausländer —«, sagte er — »Ausländer — ist hier egal. Kommt nicht darauf an...«
»Tot, was?« zischte Frida.
»Frau Zalewski«, sagte ich, »ich glaube auch, es ist besser, nur Sie bleiben hier und vielleicht Orlow und ich.«
»Telefonieren Sie sofort einem Arzt«, sagte Orlow.
Georgie hob bereits den Hörer ab. Das Ganze hatte keine fünf Sekunden gedauert. »Ich bleibe!« erklärte der Rechnungsrat puterrot. »Als deutscher Mann habe ich das Recht...«
Orlow zuckte die Achseln und öffnete wieder die Tür. Dann knipste er das elektrische Licht an. Mit einem Schrei fuhren die Frauen zurück. Mit blauschwarzem Gesicht, die schwarze Zunge zwischen den Zähnen, hing Hasse am Fenster.
»Abschneiden«, rief ich.
»Keinen Zweck«, sagte Orlow langsam, hart und traurig.
»Ich kenne das — dieses Gesicht — tot, schon paar Stunden...«
»Wir wollen es wenigstens versuchen...«
»Besser nein — Polizei erst kommen lassen.«
Im gleichen Augenblick klingelte es. Der Arzt, der nebenan wohnte, war da. Er warf nur einen Blick auf den schmalen, geknickten Körper. »Nichts mehr zu machen«, sagte er. »Wir müssen aber trotzdem künstliche Atmung versuchen. Rufen Sie die Polizei sofort an, und geben Sie mir ein Messer.«
Hasse hatte sich mit einer dicken, rosaseidenen Kordelschnur erhängt. Sie stammte von einem Morgenrock seiner Frau, und er hatte sie sehr geschickt oben an einem Haken über dem Fenster festgemacht. Sie war mit Seife eingerieben. Er mußte auf der Fensterbank gestanden haben, und dann hatte er sich von dort wahrscheinlich herabgleiten lassen. Seine Hände waren verkrampft, und sein Gesicht sah furchtbar aus. Es war sonderbar in diesem Augenblick, aber mir fiel auf, daß er einen anderen Anzug trug als morgens. Es war sein bester, ein blauer Kammgarnanzug, den ich kannte. Er war auch rasiert und hatte frische Wäsche an. Auf dem Tisch lagen nebeneinander, pedantisch ordentlich, sein Paß, sein Sparkassenbuch, vier Zehnmarkscheine und etwas Silbergeld. Daneben zwei Briefe, einer an seine Frau und einer an die Polizei. Neben dem Brief an seine Frau lag noch ein silbernes Zigarettenetui und sein Trauring.
Er mußte es lange überlegt und alles vorher in Ordnung gebracht haben; denn das Zimmer war vollkommen aufgeräumt, und als wir genauer nachsahen, fanden wir auf der Kommode noch etwas Geld und einen Zettel, auf dem stand: Rest der Miete für diesen Monat. Er hatte es extra gelegt, so als ob er zeigen wollte, daß es mit seinem Tode nichts zu tun hätte.
Es klingelte, und zwei Beamte in Zivil kamen. Der Arzt, der den Körper inzwischen abgeschnitten hatte, stand auf. »Tot«, sagte er, »Selbstmord, ohne allen Zweifel.«
Die Beamten erwiderten nichts. Sie sahen aufmerksam das ganze Zimmer durch, nachdem sie die Tür geschlossen hatten. Sie holten ein paar Briefe aus einem Schrankschubfach und verglichen die Schrift mit den Briefen auf dem Tisch. Der jüngere von beiden nickte. »Weiß jemand den Grund?«
Ich erzählte, was ich wußte. Er nickte wieder und schrieb meine Adresse auf. »Können wir ihn wegbringen lassen?« fragte der Arzt.
»Ich habe ein Krankenauto bestellt bei der Charité«, erwiderte der jüngere Beamte. »Es muß gleich kommen.«
Wir warteten. Es war still im Zimmer. Der Arzt kniete auf dem Boden neben Hasse. Er hatte ihm alle Kleider geöffnet und frottierte abwechselnd die Brust mit einem Handtuch und machte Wiederbelebungsversuche. Man hörte nur das Pfeifen und Röcheln der Luft, die in die toten Lungen aus¬und einströmte.
»Der zwölfte in dieser Woche«, sagte der jüngere Beamte.
»Aus dem gleichen Grund?« fragte ich.
»Nein. Fast alle wegen Arbeitslosigkeit. Zwei Familien, eine mit drei Kindern. Mit Gas natürlich. Familien nehmen fast immer Gas.«
Die Träger kamen mit ihrer Bahre. Frida huschte mit ihnen hinein. In einer Art Gier starrte sie Hasses kläglichen Körper an. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und schwitzte. »Was wollen Sie hier?« fragte der ältere Beamte grob.
Sie fuhr zurück. »Ich muß doch meine Aussage machen«, stotterte sie.
»'raus!« sagte der Beamte.
Die Träger legten eine Decke über Hasse und brachten ihn hinaus. Dann gingen auch die beiden Beamten. Sie nahmen die Papiere mit. »Er hat das Geld für das Begräbnis deponiert«, sagte der jüngere. »Wir werden es der zuständigen Stelle übergeben. Wenn die Frau kommt, sagen Sie ihr bitte, sie möge sich bei der Kriminalpolizei des Reviers melden. Er hat ihr sein Geld vermacht. Können die übrigen Sachen einstweilen hier bleiben?«
Frau Zalewski nickte. »Das Zimmer ist doch nicht mehr zu vermieten.«
»Schön.«
Der Beamte grüßte und ging. Wir gingen ebenfalls hinaus. Orlow schloß die Tür ab und gab Frau Zalewski den Schlüssel. »Am besten ist, es wird möglichst wenig über die ganze Sache geredet«, sagte ich.
»Das meine ich auch«, sagte Frau Zalewski.
»Ich denke vor allem an Sie, Frida«, fügte ich hinzu.
Frida wachte aus einer Art von Geistesabwesenheit auf. Ihre Augen glänzten. Sie antwortete nicht.
»Sollten Sie ein Wort zu Fräulein Hollmann erzählen«, sagte ich, »dann gnade Ihnen Gott!«
»Das weiß ich selbst«, erwiderte sie patzig. »Die arme Dame ist viel zu krank dazu!«
Ihre Augen funkelten. Ich mußte mich beherrschen, ihr keine Ohrfeige herunterzuhauen.
»Der arme Hasse!« sagte Frau Zalewski.
Es war ganz dunkel auf dem Korridor. »Sie waren ziemlich grob gegen den Grafen Orlow«, sagte ich zu dem Rechnungsrat.
»Wollen Sie ihm nicht ein paar Worte der Entschuldigung sagen?«
Der Alte starrte mich an. Dann stieß er hervor: »Ein deutscher Mann entschuldigt sich nicht! Schon gar nicht bei einem Asiaten!« und warf die Tür krachend hinter sich zu.
»Was ist denn mit dem Briefmarkenhengst los?« fragte ich erstaunt.
»Der war doch immer sanft wie ein Lamm.«
»Er läuft seit ein paar Monaten in jede Wahlversammlung«, erwiderte Georgie aus dem Dunkel.
»Ach so!«
Orlow und Erna Bönig waren schon gegangen. Frau Zalewski begann plötzlich zu weinen. »Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen«, sagte ich. »Es ist ja doch nichts dran zu ändern.«
»Es ist zu schrecklich«, schluchzte sie. »Ich muß ausziehen, ich komme nicht darüber weg!«
»Sie werden schon darüber wegkommen«, sagte ich. »Ich habe einmal ein paar hundert Leute so gesehen. Gasvergiftete Engländer. Bin auch drüber weggekommen.«
Ich gab Georgie die Hand und ging in mein Zimmer. Es war dunkel. Unwillkürlich sah ich zum Fenster, ehe ich Licht machte. Dann horchte ich zu Pat hinüber. Sie schlief. Ich ging zum Schrank, holte die Flasche Kognak und schenkte mir ein Glas ein. Es war guter Kognak, und es war gut, ihn zu haben. Ich stellte die Flasche auf den Tisch. Das letzte Glas daraus hatte Hasse getrunken. Ich dachte darüber nach, daß es besser gewesen wäre, ihn nicht allein zu lassen. Ich war bedrückt, aber ich konnte mir keinen Vorwurf machen. Ich hatte so vieles mitgemacht, daß ich wußte, daß entweder alles, was man tat, ein Vorwurf war, oder daß es nie einen gab. Es war das Unglück Hasses gewesen, daß ihm das an einem Sonntag passiert war. An einem Wochentag wäre er ins Büro gegangen und vielleicht darüber hinweggekommen.
Ich trank noch einen Kognak. Es hatte keinen Zweck, darüber nachzudenken. Wer weiß, was einem selber noch alles bevorstand. Kein Mensch wußte, ob er den, den er jetzt bedauerte, nicht noch einmal für glücklich halten würde.
Ich hörte, wie Pat sich regte, und ging hinüber. Sie sah mir entgegen.
»Es ist doch zum Verzweifeln mit mir, Robby«, sagte sie. »Da habe ich schon wieder fest geschlafen.«
»Das ist doch gut«, erwiderte ich.
»Nein.« Sie stützte sich auf die Ellbogen. »Ich will nicht so viel schlafen.«
»Warum nicht? Ich möchte manchmal in einem durch die nächsten fünfzig Jahre verschlafen.«
»Aber du möchtest dann nicht fünfzig Jahre älter sein!«
»Das weiß ich nicht. Das kann man immer erst nachher sagen.«
»Bist du traurig?« fragte sie.
»Nein«, sagte ich. »Im Gegenteil. Ich habe gerade beschlossen, daß wir uns anziehen und ganz wunderbar essen gehen werden. Alle Dinge, die du gern magst Und dazu werden wir uns ein bißchen betrinken.«
»Das ist gut«, erwiderte sie. »Gehört das noch mit zu unserm großen Bankrott?«
»Ja«, sagte ich, »das gehört noch mit dazu.«

22

XXI

Mitte Oktober ließ Jaffé mich rufen. Es war zehn Uhr morgens, aber das Wetter war so trübe, daß in der Klinik noch Licht brannte. Es vermischte sich mit der Nebeldämmerung von draußen zu einer fahlen, krankhaften Helligkeit.
Jaffé saß allein in seinem großen Sprechzimmer. Er hob den kahlen, beglänzten Kopf, als ich eintrat. Mürrisch zeigte er auf das große Fenster, gegen das der Regen klatschte. »Was sagen Sie zu diesem verdammten Wetter?«
Ich zuckte die Achseln. »Hoffentlich hört es bald mal auf.«
»Das hört nicht auf.«
Er sah mich an und schwieg. Dann nahm er einen Bleistift vom Schreibtisch, betrachtete ihn, klopfte damit auf die Platte und legte ihn wieder beiseite.
»Ich kann mir denken, weshalb Sie mich gerufen haben«, sagte ich.
Jaffé knurrte irgend etwas. Ich wartete einen Augenblick. Dann sagte ich: »Pat muß wohl jetzt bald fort?«
»Ja...«
Jaffé starrte ärgerlich vor sich hin. »Ich hatte mit Ende Oktober gerechnet. Aber bei diesem Wetter...« Er griff nach dem silbernen Bleistift.
Der Wind warf einen Schauer Regen prasselnd gegen das Fenster. Es klang wie fernes Maschinengewehrfeuer. »Wann denken Sie, daß sie reisen soll?« fragte ich.
Er sah mich plötzlich von unten herauf voll an. »Morgen«, sagte er.
Ich spürte eine Sekunde keinen Boden unter den Füßen.
Die Luft war wie Watte und klebte mir in der Lunge. Dann ging es vorüber, und ich fragte, so ruhig ich konnte, aber meine Stimme kam weit her, als fragte ein anderer: »Ist es auf einmal so viel schlimmer geworden?«
Jaffé schüttelte heftig den Kopf und stand auf. »Wenn es sich so schnell verändert hätte, könnte sie doch überhaupt nicht fahren«, erklärte er unfreundlich. »Es ist nur besser. Bei diesem Wetter ist jeder Tag eine Gefahr. Erkältungen und so was...«
Er nahm ein paar Briefe vom Schreibtisch. »Ich habe schon alles vorbereitet. Sie brauchen nur abzufahren. Den Chefarzt des Sanatoriums kenne ich seit meiner Studienzeit. Er ist sehr tüchtig. Ich habe ihn genau informiert.«
Er gab mir die Briefe. Ich nahm sie, aber ich steckte sie nicht ein. Er sah mich an, dann blieb er vor mir stehen und legte eine Hand auf meinen Arm. Sie war leicht wie ein Vogelflügel, ich spürte sie überhaupt nicht. »Schwer«, sagte er leise mit veränderter Stimme, »ich weiß es. Deshalb habe ich auch damit gewartet, solange es ging.«
»Es ist nicht schwer...«, erwiderte ich.
Er wehrte ab. »Lassen Sie nur...«
»Nein«, sagte ich, »so meine ich das auch nicht. Ich möchte nur eines wissen: Kommt sie zurück?«
Jaffé schwieg einen Augenblick. Seine dunklen, schmalen Augen glänzten in dem trüben gelben Licht. »Weshalb wollen Sie das jetzt wissen?« fragte er nach einer Weile.
»Weil es sonst besser ist, daß sie nicht fährt«, sagte ich.
Er blickte rasch auf. »Was sagen Sie da?«
»Es ist sonst besser, daß sie hierbleibt.«
Er starrte mich an. »Wissen Sie auch, was das mit Sicherheit bedeuten würde?« fragte er dann leise und scharf.
»Ja«, sagte ich. »Es würde bedeuten, daß sie nicht allein sterben würde. Und was das heißt, weiß ich auch.«
Jaffé hob die Schultern hoch, als fröstele er. Dann ging er langsam zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Als er zurückkam, war sein Gesicht eine Maske. Er blieb dicht vor mir stehen. »Wie alt sind Sie?« fragte er.
»Dreißig«, erwiderte ich. Ich begriff nicht, was er wollte.
»Dreißig«, wiederholte er in einem merkwürdigen Tone, als spräche er zu sich selbst und hätte mich gar nicht verstanden. »Dreißig, mein Gott!« Er ging zu seinem Schreibtisch und blieb dort stehen, klein und abwesend neben dem riesigen, blanken Möbel. »Ich bin jetzt bald sechzig«, sagte er, ohne mich anzusehen, »aber ich könnte das nicht. Ich würde immer wieder alles versuchen, immer wieder, und wenn ich genau wüßte, daß es zwecklos wäre.«
Ich schwieg. Jaffé stand da, als hätte er alles um sich herum vergessen. Dann machte er eine Bewegung, und sein Gesicht wechselte den Ausdruck. Er lächelte. »Ich glaube bestimmt, daß sie oben den Winter gut überstehen wird.«
»Nur den Winter?« fragte ich.
»Ich hoffe, daß sie dann im Frühjahr wieder herunter kann.«
»Hoffen«, sagte ich, »was heißt hoffen?«
»Alles«, erwiderte Jaffé. »Immer alles. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen. Das andere sind Möglichkeiten. Man muß sehen, wie es oben wird. Aber ich hoffe bestimmt, daß sie im Frühjahr zurückkommen kann.«
»Bestimmt?«
»Ja.« Er ging um den Schreibtisch herum und stieß mit dem Fuß eine offenstehende Schublade so heftig zu, daß die Gläser klirrten. »Verdammt, Mann, es geht mir doch selber nahe, daß sie weg muß!« murmelte er.
Eine Schwester kam herein. Jaffé winkte ihr ab. Sie blieb trotzdem stehen, untersetzt, vierschrötig, mit einem Bulldoggengesicht unter grauem Haar.
»Nachher!« knurrte Jaffé, »kommen Sie nachher wieder!«
Die Schwester drehte sich ärgerlich um. Im Hinausgehen knipste sie das elektrische Licht aus. Grau und milchig stand plötzlich der Tag in dem großen Raum. Jaffés Gesicht war auf einmal ganz fahl. »Alte Hexe!« sagte er. »Seit zwanzig Jahren will ich sie schon 'rauswerfen. Ist nur zu tüchtig.«
Dann wandte er sich mir zu. »Nun?«
»Wir fahren heute abend«, sagte ich.
»Heute?«
»Ja. Wenn es schon sein muß, dann ist heute besser als morgen. Ich werde sie hinbringen. Ein paar Tage kann ich schon hier weg.«
Er nickte und gab mir die Hand.
Ich ging. Der Weg zur Tür erschien mir sehr weit.
Draußen blieb ich stehen. Ich merkte, daß ich die Briefe noch in der Hand hatte. Der Regen klatschte auf das Papier. Ich wischte die Briefe ab und steckte sie in die Brusttasche. Dann sah ich mich um. Ein Omnibus hielt gerade vor dem Hause. Er war voll besetzt, und ein Schwarm von Leuten drängte hinaus. Ein paar Mädchen in schwarzen, glänzenden Regenmänteln lachten mit dem Schaffner. Er war jung, und die weißen Zähne blitzten in seinem braunen Gesicht. Das geht doch nicht, dachte ich, das kann doch alles nicht stimmen! So viel Leben, und Pat muß fort!
Der Omnibus fuhr klingelnd ab. Seine Räder spritzten eine Garbe Wasser über den Bürgersteig. Ich ging weiter, um Köster Bescheid zu sagen und die Fahrkarten zu besorgen.
Mittags kam ich nach Hause. Ich hatte alles erledigt und auch dem Sanatorium schon telegrafiert. »Pat«, sagte ich noch in der Tür, »kannst du bis heute abend alles gepackt haben?«
»Muß ich fort?«
»Ja«, sagte ich. »Ja, Pat.«
»Allein?«
»Nein. Wir fahren zusammen. Ich bringe dich hin.«
Ihr Gesicht bekam wieder Farbe. »Wann muß ich fertig sein?« fragte sie.
»Der Zug fährt heute abend um zehn.«
»Und gehst du jetzt noch einmal fort?«
»Nein. Ich bleibe hier, bis wir wegfahren.«
Sie atmete tief. »Dann ist es ganz einfach, Robby«, sagte sie. »Wollen wir gleich anfangen?«
»Wir haben noch Zeit.«
»Ich möchte gleich anfangen. Dann ist es fertig.«
»Gut.«
Ich verstaute die paar Sachen, die ich mitnehmen wollte, rasch und war in einer halben Stunde fertig. Dann ging ich zu Frau Zalewski hinüber und sagte ihr, daß wir abends reisen würden. Ich machte mit ihr ab, daß das Zimmer zum ersten November frei würde, wenn sie es nicht früher vermieten könnte. Sie wollte ein langes Gespräch beginnen, aber ich ging rasch wieder zurück.
Pat kniete vor ihrem Schrankkoffer, rundum hingen ihre Kleider, auf dem Bett lag Wäsche, und sie packte gerade ihre Schuhe ein. Ich erinnerte mich daran, daß sie auch so gekniet hatte, als sie in dieses Zimmer eingezogen war und ausgepackt hatte, und mir schien, als wäre das endlos lange her und doch eigentlich erst gestern gewesen. Sie sah auf. »Nimmst du das silberne Kleid auch mit?« fragte ich.
Sie nickte. »Was machen wir nur mit all den andern Sachen, Robby? Mit den Möbeln?«
»Ich habe schon mit Frau Zalewski gesprochen. Soviel ich kann, nehme ich in mein Zimmer hinüber. Das übrige geben wir einer Speditionsfirma zum Aufbewahren. Da holen wir es dann wieder ab, wenn du zurückkommst.«
»Wenn ich zurückkomme«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich, »im Frühling, wenn du braun von der Sonne zurückkommst.«
Ich half ihr packen, und nachmittags, als es schon dunkel draußen wurde, waren wir fertig. Es war sonderbar: die Möbel standen alle noch am gleichen Platz, nur die Schränke und Schubladen waren geleert, und trotzdem erschien das Zimmer plötzlich kahl und traurig. Pat setzte sich auf ihr Bett. Sie sah müde aus. »Soll ich Licht machen?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Laß es noch etwas so.«
Ich setzte mich neben sie. »Willst du eine Zigarette?«
»Nein, Robby. Nur ein bißchen so sitzen.«
Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen brannten die Laternen unruhig im Regen. Der Wind wühlte in den Bäumen. Unten ging Rosa langsam vorüber. Ihre hohen Stiefel glänzten. Sie trug ein Paket unter dem Arm und war auf dem Wege zum International. Wahrscheinlich hatte sie ihr Strickzeug bei sich, um für ihre Kleine wollene Sachen zu stricken. Ihr folgten Fritzi und Marion, beide in neuen weißen, enganliegenden Regenmänteln, und nach einer Weile schlich Mimi, abgerissen und müde, hinter ihnen her.
Ich drehte mich um. Es war jetzt so dunkel geworden, daß ich Pat nicht mehr sehen konnte. Ich hörte sie nur atmen. Langsam und trübe begannen hinter den Bäumen des Friedhofs die Lichtreklamen emporzuklettern. Die rote Leuchtschrift der Zigarettenreklame zog wie ein buntes Ordensband über die Hausdächer dahin, die blauen und smaragdgrünen Kreise der Weinfirmen begannen zu sprühen, und die hellen Konturen der Wäschereklame leuchteten auf. Ihr Licht warf einen matten, verschwommenen Schein durch die Fenster auf die Wände und die Decke. Er wanderte hin und her, und das Zimmer erschien plötzlich wie eine verlorene, kleine Taucherglocke auf dem Grunde des Meeres, um die die Regenwellen rauschten und zu der aus weiter Ferne noch ein schwacher Abglanz der bunten Welt herabdrang.
Es war acht Uhr abends. Draußen röhrte ein Klaxon. »Das ist Gottfried mit dem Taxi«, sagte ich, »er will uns zum Essen abholen.«
Ich stand auf, ging zum Fenster und rief hinunter, daß wir kämen. Dann knipste ich die kleine Tischlampe an und ging in mein Zimmer. Es war mir verflucht fremd. Ich holte die Rumflasche und trank rasch ein Glas. Dann setzte ich mich in den Sessel und starrte auf die Tapete. Nach einer Weile stand ich wieder auf und ging zum Waschtisch, um mir die Haare zu bürsten. Ich vergaß es darüber, weil ich im Spiegel plötzlich mein Gesicht sah. Kalt und neugierig betrachtete ich es. Ich verzog die Lippen und grinste es an. Es grinste gespannt und blaß zurück. »Du«, sagte ich lautlos. Dann ging ich zu Pat zurück.
»Wollen wir los, alter Bursche?« fragte ich.
»Ja«, sagte sie, »aber ich will noch einmal in dein Zimmer gehen.«
»Warum?« erwiderte ich. »Die alte Bude...«
»Bleib du hier«, sagte sie. »Ich komme gleich wieder.«
Ich wartete eine Zeitlang, dann ging ich hinüber. Sie stand in der Mitte des Zimmers und fuhr zusammen, als sie mich erblickte. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie war ganz ausgelöscht. Es war nur eine Sekunde, dann lächelte sie wieder.
»Komm«, sagte sie. »Jetzt wollen wir gehen.«
An der Küche erwartete uns Frau Zalewski. Ihre grauen Löckchen wogten, und sie trug die Brosche mit dem seligen Zalewski auf dem schwarzen Seidenkleid. »Fassung!« flüsterte ich Pat zu, »sie wird dich umarmen.«
Im nächsten Moment verschwand Pat bereits an dem ungeheuren Busen. Das gewaltige Gesicht über ihr zuckte. Es handelte sich nur noch um Sekunden, und Pat wäre unabsehbar überschwemmt worden; wenn Mutter Zalewski weinte, dann standen ihre Augen unter Druck wie Syphonflaschen.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich, »wir müssen eiligst los! Es ist höchste Zeit!«
»Höchste Zeit?« Frau Zalewski maß mich mit einem vernichtenden Blick. »Der Zug geht erst in zwei Stunden! Inzwischen wollen Sie das arme Kind doch wahrscheinlich nur betrunken machen!«
Pat mußte lachen. »Nein, Frau Zalewski. Wir wollen uns noch von den andern verabschieden.«
Mutter Zalewski schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie sehen bei diesem jungen Mann in einen goldenen Topf, Fräulein Hollmann. Dabei ist er allerhöchstens eine goldene Schnapsflasche.«
»Ein schönes Bild«, sagte ich.
»Mein Kind...«, Frau Zalewski wurde wieder von Rührung gepackt. »Kommen Sie bald wieder! Ihr Zimmer ist immer für Sie da. Und wenn der Kaiser selbst darin wohnte, er müßte 'raus, wenn Sie kommen!«
»Danke schön, Frau Zalewski«, sagte Pat. »Vielen Dank für alles. Auch für das Kartenlegen. Ich werde mir alles merken.«
»Das ist schön. Und erholen Sie sich gut, und werden Sie ganz gesund!«
»Ja«, erwiderte Pat, »ich werde es versuchen. Auf Wiedersehen, Frau Zalewski. Auf Wiedersehen, Frida.«
Wir gingen. Die Korridortür klappte hinter uns zu. Im Treppenhaus war es halbdunkel; ein paar elektrische Birnen waren ausgebrannt. Pat schwieg, während sie leise und weich die Treppen hinunterstieg. Ich hatte das Gefühl, als wäre ein Urlaub zu Ende und wir gingen jetzt im grauen Morgen zum Bahnhof, um an die Front zu fahren.
Lenz öffnete die Tür zum Taxi. »Vorsicht!« sagte er.
Der Wagen war voller Rosen. Zwei riesige Büsche weißer und roter Blüten lagen auf den hinteren Sitzen. Ich erkannte sofort, woher sie kamen — aus dem Domgarten. »Die letzten«, erklärte Gottfried selbstzufrieden. »Haben eine gewisse Mühe gekostet. Mußte mit einem Pfarrer längere Zeit darüber diskutieren.«
»War das einer mit so hellen blauen Kinderaugen?« fragte ich.
»Aha, also du warst das, Bruder!« erwiderte Gottfried. »Von dir hat er mir also erzählt. Der Mann war mächtig enttäuscht, als er merkte, was es mit dem Kreuzwegbeten auf sich hatte. Er hatte schon geglaubt, die Frömmigkeit der männlichen Bevölkerung nähme wieder zu.«
»Hat er dich denn mit den Blumen so losziehen lassen?« fragte ich.
»Er ließ mit sich reden. Zuletzt hat er mir sogar geholfen zu pflücken.«
Pat lachte. »Ist das wahr?«
Gottfried schmunzelte. »Natürlich. Es sah fabelhaft aus, wie der geistliche Herr im Halbdunkel nach den höchsten Zweigen sprang. Er entwickelte direkt Sportgeist. Erzählte mir, daß er früher auf dem Gymnasium guter Fußballspieler war. Rechter Innenstürmer, glaube ich.«
»Du hast einen Pastor zum Diebstahl verleitet«, sagte ich. »Das kostet ein paar hundert Jahre Hölle. Aber wo ist Otto?«
»Der ist schon bei Alfons. Wir gehen doch zu Alfons essen?«
»Ja, natürlich«, sagte Pat.
»Also los!«
Es gab bei Alfons gespickten Hasen mit Rotkohl und geschmorten Äpfeln. Hinterher spielte er zum Abschluß auf seinem Grammophon einen Chor der Donkosaken. Es war ein sehr leises Lied, bei dem der Chor nur gedämpft wie eine ferne Orgel brummte, während eine einsame, klare Stimme darüber schwebte. Mir schien, als ginge lautlos die Tür auf und ein alter, müder Mann träte herein, setzte sich schweigend an einen Tisch und lauschte dem Lied seiner Jugend.
»Kinder«, sagte Alfons, als der Chor immer leiser und leiser geworden war, bis er schließlich wie ein Seufzer verhauchte, »Kinder, wißt ihr, woran ich immer denken muß, wenn ich das höre? An Ypern 1917, Gottfried, damals im März, an den einen Abend mit Bertelsmann...«
»Ja«, sagte Lenz, »ich weiß es noch, Alfons. Es war der Abend mit den Kirschbäumen...«
Alfons nickte.
Köster stand auf. »Ich glaube, es wird Zeit.« Er sah nach der Uhr.
»Ja, wir müssen los.«
»Noch einen Kognak«, sagte Alfons. »Von dem echten Napoleon! Habe ihn doch extra für euch mitgebracht!«
Wir tranken den Kognak, dann brachen wir auf.
»Auf Wiedersehen, Alfons!« sagte Pat. »Ich bin immer so gern hier gewesen.« Sie gab ihm die Hand.
Alfons wurde rot. Er hielt ihre Hand fest zwischen seinen beiden Pranken. »Also, wenn mal was ist — einfach nur Bescheid geben.« Er sah sie äußerst verlegen an. »Sie gehören ja jetzt dazu. Hätte nie gedacht, daß eine Frau mal dazugehören könnte.«
»Danke«, sagte Pat, »danke, Alfons. Sie hätten mir nichts Schöneres sagen können! Auf Wiedersehen und alles Gute!«
»Auf Wiedersehen! Bald!«
Köster und Lenz brachten uns zur Bahn. Vor unserm Hause hielten wir einen Augenblick, und ich holte den Hund herunter. Die Koffer hatte Jupp schon zum Bahnhof gebracht.
Wir kamen gerade rechtzeitig an. Kaum waren wir eingestiegen, da fuhr der Zug schon los. Als die Lokomotive anzog, griff Gottfried in die Tasche und reichte mir eine eingewickelte Flasche hinauf. »Hier, Robby, nimm das mal. So was kann man unterwegs immer gebrauchen.«
»Danke«, sagte ich, »trinkt sie heute abend selbst, Kinder. Ich habe schon was bei mir.«
»Nimm sie«, erwiderte Lenz, »man kann nie genug davon haben!« Er ging neben dem fahrenden Zug her und warf mir die Flasche zu. »Auf Wiedersehen, Pat!« rief er. »Wenn wir hier pleite sind, kommen wir alle zu Ihnen hinauf. Otto als Skiläufer, ich als Tanzlehrer, Robby als Klavierspieler. Dann bilden wir eine Truppe mit Ihnen und ziehen von Hotel zu Hotel!«
Der Zug wurde schneller, und Gottfried blieb zurück. Pat lehnte aus dem Fenster und winkte, bis der Bahnhof hinter einer Kurve verschwand. Dann wandte sie sich um. Sie war sehr blaß, und ihre Augen glänzten feucht. Ich nahm sie in den Arm. »Komm«, sagte ich, »jetzt trinken wir was. Du hast dich großartig gehalten.«
»Mir ist aber gar nicht großartig zumute«, erwiderte sie mit einem Versuch zu lächeln.
»Mir auch nicht«, sagte ich. »Deshalb wollen wir ja was trinken.«
Ich machte die Flasche auf und gab ihr einen Becher Kognak. »Gut?« fragte ich.
Sie nickte und lehnte sich an meine Schulter. »Ach, Liebling, was soll das alles werden?«
»Du mußt nicht weinen«, sagte ich. »Ich war so stolz, daß du nicht geweint hast, den ganzen Tag.«
»Ich weine ja gar nicht«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf, und die Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht.
»Komm, trink noch etwas«, sagte ich und hielt sie fest. »Es ist nur immer der erste Moment, dann wird es schon besser.«
Sie nickte. »Ja, Robby. Du mußt dich auch gar nicht darum kümmern. Es ist gleich vorbei, und es ist besser, wenn du es gar nicht siehst. Laß mich nur ein paar Minuten hier allein sitzen, dann werde ich schon damit fertig.«
»Warum denn? Du warst den ganzen Tag so tapfer, da kannst du jetzt ruhig so viel weinen, wie du willst.«
»Ich war gar nicht tapfer. Du hast es nur nicht gemerkt.«
»Vielleicht«, sagte ich, »aber das war es dann gerade.«
Sie versuchte zu lächeln. »Warum denn eigentlich, Robby?«
»Weil man sich nicht ergibt.« Ich strich ihr über das Haar. »Solange man sich nicht ergibt, ist man mehr als das Schicksal.«
»Bei mir ist es kein Mut, Liebling«, murmelte sie. »Bei mir ist es einfach nur Angst. Jämmerliche Angst vor der großen, letzten Angst.«
»Das ist alles Mut, Pat.«
Sie lehnte sich an mich. »Ach, Robby, du weißt ja gar nicht, was Angst ist.«
»Doch«, sagte ich.
Die Tür ging auf. Der Schaffner verlangte die Fahrkarten.
Ich gab sie ihm. »Ist die Schlafwagenkarte für die Dame?« fragte er.
Ich nickte.
»Dann müssen Sie in den Schlafwagen gehen«, sagte er zu Pat. »Die Karte gilt nicht für die übrigen Abteile.«
»Gut.«
»Und der Hund muß in den Packwagen«, erklärte er. »Das Hundeabteil ist im Packwagen.«
»Schön«, sagte ich. »Wo ist denn der Schlafwagen?«
»Rechts der dritte Wagen. Der Packwagen ist ganz vorn.«
Er ging. Auf seiner Brust baumelte eine kleine Laterne.
Das sah aus, als ginge er durch die Schächte eines Bergwerks.

»Dann wollen wir mal umziehen, Pat«, sagte ich. »Billy schmuggle ich schon zu dir 'rein. Der hat im Packwagen nichts zu suchen.«
Ich hatte für mich keinen Schlafwagenplatz genommen. Es machte mir nichts, in einer Abteilecke die Nacht zu verbringen. Außerdem war es billiger.
Jupp hatte Pats Gepäck schon in den Schlafwagen gebracht. Das Abteil war ein hübscher, kleiner, mit Mahagoniholz getäfelter Raum. Pat hatte das untere Bett. Ich fragte den Schaffner, ob auch das obere belegt sei.
»Ja«, sagte er, »ab Frankfurt.«
»Wann sind wir in Frankfurt?«
»Um halb drei.«
Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging in seine Wagenecke zurück.
»In einer halben Stunde bin ich mit dem Hund wieder bei dir«, sagte ich zu Pat.
»Aber das geht doch nicht; der Schaffner bleibt ja im Wagen.«
»Es geht schon. Schließ nur deine Tür nicht ab.«
Ich ging zurück, an dem Schaffner vorbei, der mich ansah. Auf der nächsten Station stieg ich mit dem Hund aus und ging über den Bahnsteig am Schlafwagen vorbei bis zum nächsten Wagen. Hier wartete ich, bis der Schaffner ausstieg, um mit dem Zugführer zu schwätzen. Dann stieg ich wieder ein, ging durch den Wagen bis zu den Schlafwagenabteilen und kam zu Pat, ohne daß mich jemand gesehen hatte. Sie trug einen weichen weißen Mantel und sah wunderschön aus. Ihre Augen glänzten. »Ich bin jetzt ganz darüber weg, Robby«, sagte sie.
»Das ist gut. Aber willst du dich nicht zu Bett legen? Es ist mächtig knapp hier. Ich setze mich dann zu dir.«
»Ja, aber...«, sie zögerte und zeigte auf das obere Bett. »Wenn nun die Vorsteherin des Vereins für gefallene Mädchen plötzlich in der Tür steht...«
»Bis Frankfurt ist's noch lange«, sagte ich. »Ich passe schon auf. Ich schlafe nicht ein.«
Kurz vor Frankfurt ging ich in mein Abteil zurück. Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen. Aber in Frankfurt stieg ein Mann mit einem Seehundsbart ein, der sofort einen Koffer auspackte und zu essen begann. Er aß so intensiv, daß ich nicht zum Schlafen kam. Die Mahlzeit dauerte fast eine Stunde. Dann wischte der Seehund sich den Bart, legte sich lang und begann ein Konzert, wie ich es nie vorher gehört hatte. Es war kein einfaches Schnarchen; es war ein heulendes Seufzen, unterbrochen von stoßweisem Stöhnen und langgezogenem Blubbern. Ich konnte kein System darin entdecken, so vielfältig war es. Zum Glück stieg der Mann um halb sechs Uhr aus.
Als ich aufwachte, war draußen alles weiß. Es schneite in großen Flocken, und das Abteil war in ein seltsam unwirkliches Zwielicht getaucht. Wir fuhren schon durchs Gebirge. Es war fast neun Uhr. Ich dehnte mich und ging mich waschen und rasieren. Als ich zurückkam, stand Pat im Abteil. Sie sah frisch aus. »Hast du gut geschlafen?« fragte ich.
Sie nickte.
»Und wie war die alte Spiritistin in deinem Abteil?«
»Jung und hübsch. Sie heißt Helga Guttmann und fährt ins selbe Sanatorium wie ich.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Robby. Aber du hast schlecht geschlafen, das sieht man. Du mußt ein ordentliches Frühstück haben.«
»Kaffee«, sagte ich. »Kaffee mit etwas Kirsch.«
Wir gingen zum Speisewagen. Ich war plötzlich guter Stimmung. Es schien alles nicht mehr so schlimm wie am Abend vorher.
Helga Guttmann saß schon da. Sie war ein schlankes, lebhaftes Mädchen von südlichem Typ. »Merkwürdig«, sagte ich, »daß sich das so getroffen hat mit demselben Sanatorium.«
»Gar nicht so merkwürdig«, erwiderte sie.
Ich sah sie an. Sie lachte. »Um diese Zeit sammeln sich doch die Zugvögel alle wieder. Drüben...«, sie zeigte in die Ecke des Speisewagens, »der ganze Tisch dort fährt auch hin.«
»Woher wissen Sie das?« fragte ich.
»Ich kenne sie alle vom vorigen Jahr. Da oben kennt doch jeder den andern.«
Der Kellner kam und brachte den Kaffee. »Bringen Sie mir noch einen großen Kirsch dazu«, sagte ich. Ich mußte etwas trinken. Es war auf einmal alles so einfach. Da saßen Leute und fuhren zum Sanatorium, zum zweitenmal sogar, und es schien ihnen nicht viel mehr als eine Spazierfahrt zu sein. Es war dumm, so viel Angst zu haben. Pat würde zurückkommen, wie alle diese Leute zurückgekommen waren. Ich dachte nicht daran, daß alle diese Leute jetzt auch wieder hinfuhren — es war genug zu wissen, daß man zurückkam und wieder ein ganzes Jahr vor sich hatte. In einem Jahr konnte viel passieren. Unsere Vergangenheit hatte uns gelehrt, kurzfristig zu denken.
Wir kamen spätnachmittags an. Es war ganz klar geworden, die Sonne schien golden auf die Schneefelder, und der Himmel war so blau, wie wir ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Am Bahnhof wartete eine Menge Leute. Sie grüßten und winkten, und aus dem Zuge winkten die Ankommenden zurück. Helga Guttmann wurde von einer lachenden blonden Frau und zwei Männern in hellen Knickerbockern in Empfang genommen. Sie war ganz aufgeregt und wirbelig, so als wäre sie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen. »Auf Wiedersehen, nachher, oben!« rief sie uns zu und bestieg mit ihren Freunden einen Schlitten.
Die Leute zerstreuten sich rasch, und wir standen ein paar Minuten später allein auf dem Bahnsteig. Ein Gepäckträger trat zu uns heran.
»Welches Hotel?« fragte er.
»Sanatorium Waldfrieden«, erwiderte ich.
Er nickte und winkte einem Kutscher. Die beiden verstauten die Koffer in einem hellblauen Schlitten, der mit zwei Schimmeln bespannt war. Die Pferde hatten bunte Federbüschel auf den Köpfen, und der Dampf ihres Atems umwehte ihre Mäuler wie perlmutterfarbenes Gewölk.
Wir stiegen ein. »Wollen Sie zur Drahtseilbahn oder mit dem Schlitten 'rauf?« fragte der Kutscher.
»Wie weit ist es mit dem Schlitten?«
»Eine halbe Stunde.«
»Dann mit dem Schlitten.«
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und wir fuhren los. Es ging aus dem Dorf hinaus und dann in Kehren aufwärts. Das Sanatorium lag auf einer Anhöhe über dem Dorf. Es war ein langgestrecktes Gebäude mit langen Fensterreihen. Vor jedem Fenster befand sich ein Balkon. Auf dem Dache wehte eine Fahne im schwachen Wind. Ich hatte erwartet, es wäre wie ein Krankenhaus eingerichtet; aber es glich, wenigstens im unteren Stock, viel mehr einem Hotel. In der Halle brannte ein Kamin, und eine Anzahl kleiner Tische war mit Teegeschirr gedeckt.
Wir meldeten uns im Büro. Ein Hausdiener holte unser Gepäck herein, und eine ältere Dame erklärte uns, daß Pat Zimmer neunundsiebzig habe. Ich fragte, ob ich für ein paar Tage ebenfalls ein Zimmer haben könne. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht im Sanatorium. Wohl aber in der Dependance.«
»Wo ist die Dependance?«
»Gleich nebenan.«
»Gut«, sagte ich, »dann geben Sie mir dort ein Zimmer und lassen Sie mein Gepäck hinüberbringen.«
Wir fuhren in einem völlig geräuschlosen Lift zum zweiten Stock hinauf. Oben sah es allerdings mehr nach Krankenhaus aus. Nach einem sehr komfortablen Krankenhaus zwar, aber immerhin nach Krankenhaus. Weiße Gänge, weiße Türen, alles blitzend von Glas, Nickel und Sauberkeit. Eine Oberschwester nahm uns in Empfang.
»Fräulein Hollmann?«
»Ja«, sagte Pat, »Zimmer neunundsiebzig, nicht wahr?«
Die Oberschwester nickte, ging voran und öffnete eine Tür.
»Hier ist Ihr Zimmer.«
Es war ein heller, mittelgroßer Raum, in den durch ein breites Fenster die Abendsonne schien. Auf dem Tisch stand ein Strauß gelber und roter Astern, und draußen lagen die beglänzten Schneefelder, in die sich das Dorf wie eine große, weiche Decke schmiegte.
»Gefällt es dir?« fragte ich Pat.
Sie sah mich einen Augenblick an. »Ja«, sagte sie dann.
Der Hausknecht brachte die Koffer. »Wann muß ich zur Untersuchung?« fragte Pat die Schwester.
»Morgen vormittag. Heute abend gehen Sie am besten früh schlafen, damit Sie ausgeruht sind.«
Pat zog ihren Mantel aus und legte ihn auf das weiße Bett, über dem eine neue Fiebertafel angebracht war. »Ist kein Telefon im Zimmer?« fragte ich.
»Es ist ein Anschluß da«, sagte die Schwester. »Man kann ein Telefon hereinstellen.«
»Muß ich noch irgend etwas tun?« fragte Pat.
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Erst morgen nach der Untersuchung wird alles festgelegt. Die Untersuchung ist um zehn. Ich hole Sie ab.«
»Danke, Schwester«, sagte Pat.
Die Schwester ging. Der Hausknecht wartete noch an der Tür. Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging auch. Es wurde plötzlich sehr still im Zimmer. Pat stand am Fenster und sah hinaus. Ihr Kopf war ganz dunkel vor dem Glänzen draußen.
»Bist du müde?« fragte ich.
Sie drehte sich um. »Nein.«
»Du siehst so aus«, sagte ich.
»Ich bin anders müde, Robby. Aber dafür habe ich immer noch Zeit.«
»Willst du dich umziehen?« fragte ich. »Oder wollen wir erst noch eine Stunde 'runtergehen? Ich denke, es ist besser, wir gehen erst noch einmal 'runter.«
»Ja«, sagte sie. »Es ist besser.«
Wir fuhren mit dem lautlosen Lift abwärts und setzten uns an einen der kleinen Tische in der Halle. Nach einer Weile kam Helga Guttmann mit ihren Freunden. Sie setzten sich zu uns. Helga Guttmann war aufgeregt und von einer etwas überhitzten Lustigkeit, aber ich war froh, daß sie da war und daß Pat schon ein paar Bekannte hatte. Es war immer schwer, über den ersten Tag hinwegzukommen.

23

XXII

Eine Woche später fuhr ich zurück. Vom Bahnhof ging ich gleich zur Werkstatt. Es war Abend, als ich ankam, es regnete noch immer, und mir schien, als wäre es ein Jahr her, seit ich mit Pat abgefahren war.
Köster und Lenz saßen im Büro. »Du kommst gerade recht«, sagte Gottfried.
»Was ist denn los?« fragte ich.
»Laß ihn erst mal 'reinkommen«, sagte Köster.
Ich setzte mich zu ihnen. »Wie geht es Pat?« fragte Otto.
»Gut. So gut es eben kann. Aber nun sagt mir schon, was hier los ist.«
Es handelte sich um den Stutz. Wir hatten ihn repariert und vor vierzehn Tagen abgeliefert. Nun war Köster gestern hingegangen, um das Geld abzuholen. Inzwischen aber hatte der Mann, dem der Wagen gehörte, Pleite gemacht, und der Wagen war in die Konkursmasse gekommen.
»Das ist doch nicht schlimm«, sagte ich. »Wir haben ja nur mit der Versicherung zu tun.«
»Haben wir auch gedacht«, erklärte Lenz trocken. »Der Wagen ist aber nicht versichert.«
»Verdammt! Ist das wahr, Otto?«
Köster nickte. »Habe es heute erst erfahren.«
»Dafür haben wir diesen Bruder wie barmherzige Schwestern behandelt und uns um die Klamotte noch geprügelt«, knurrte Lenz. »Damit wir jetzt mit viertausend Mark in der Luft hängen.«
»Wer kann so was ahnen!« sagte ich.
Lenz fing an zu lachen. »Es ist zu blödsinnig!«
»Was machen wir nun, Otto?« fragte ich.
»Ich habe unsere Forderung beim Konkursverwalter angemeldet. Aber ich fürchte, es wird nicht viel dabei herauskommen.«
»Wir machen die Bude zu, das wird dabei herauskommen«, sagte Gottfried. »Das Finanzamt ist auch schon rebellisch wegen der Steuern.«
»Möglich«, gab Köster zu.
Lenz erhob sich. »Gleichmut und gute Haltung in schwierigen Situationen zieren den Soldaten.« Er ging zum Schrank und holte den Kognak.
»Bei dem Kognak können wir sogar heroische Haltung haben«, sagte ich. »Wenn ich nicht irre, ist das unsere letzte gute Flasche.«
»Heroische Haltung, Knabe«, erwiderte Lenz verweisend, »ist was für schwere Zeiten. Wir aber leben in verzweifelten Zeiten. Da ist die einzige anständige Haltung der Humor.« Er trank sein Glas aus. »So, und jetzt werde ich mal unsere alte Rosinante besteigen und etwas Kleingeld zusammenfahren.«
Er ging über den dunklen Hof und fuhr mit dem Taxi los. Köster und ich blieben noch eine Weile sitzen. »Pech, Otto«, sagte ich. »Wir haben verdammt viel Pech in der letzten Zeit.«
»Ich habe mir angewöhnt, nicht mehr nachzudenken, als unbedingt nötig ist«, erwiderte Köster. »Das ist immer noch genug. Wie war's oben?«
»Wenn diese Krankheit nicht wäre, ein Paradies. Schnee und Sonne.«
Er hob den Kopf. »Schnee und Sonne. Klingt ein bißchen unwahrscheinlich, was?« »Ja. Verflucht unwahrscheinlich. Da oben ist alles unwahrscheinlich.«
Er sah mich an. »Was hast du heute abend vor?«
Ich zuckte die Achseln. »Werde erst mal meinen Koffer nach Hause bringen.«
»Ich muß noch auf eine Stunde weg. Kommst du nachher in die Bar?«
»Auf jeden Fall«, sagte ich. »Was soll ich sonst machen?«
Ich holte meinen Koffer vom Bahnhof und brachte ihn nach Hause. Ich öffnete die Tür, so leise ich konnte, denn ich hatte keine Lust, mit irgend jemand zu reden. Es gelang mir durchzukommen, ohne Frau Zalewski in die Hände zu fallen. Eine Weile blieb ich in meinem Zimmer sitzen. Auf dem Tisch lagen Briefe und Zeitungen. Die Briefe waren lauter Drucksachen. Ich hatte niemand, der mir schrieb. Jetzt würde ich jemand haben, dachte ich.
Nach einiger Zeit stand ich auf, wusch mich und zog mich um. Meinen Koffer packte ich nicht aus; ich wollte nachher, wenn ich allein nach Hause kam, noch etwas zu tun haben. Ich ging auch nicht in Pats Zimmer, obschon ich wußte, daß niemand da wohnte. Leise schlich ich mich über den Korridor und atmete auf, als ich draußen war.
Ich ging ins Café International, um da etwas zu essen. Der Kellner Alois begrüßte mich an der Tür. »Auch mal wieder da?«
»Ja«, sagte ich. »Schließlich kommt man ja immer mal wieder zurück.«
Rosa saß mit den andern Mädchen um einen großen Tisch herum. Sie waren fast alle da; es war die Zeit zwischen dem ersten und zweiten Patrouillengang. »Mein Gott, Robert!« sagte Rosa. »Ein seltener Gast.«
»Frag mich nicht soviel«, sagte ich. »Hauptsache, daß ich wieder da bin.«
»Wieso? Kommst du denn jetzt öfter?«
»Wahrscheinlich.«
»Mach dir nichts draus«, sagte sie und sah mich an. »Es geht alles vorüber.«
»Stimmt«, sagte ich. »Das ist die sicherste Wahrheit, die es auf der Welt gibt.«
»Klar«, erwiderte Rosa. »Lilly kann auch ein Lied davon singen.«
»Lilly?« Ich sah sie jetzt erst neben Rosa sitzen. »Was machst du denn hier? Du bist doch verheiratet und solltest zu Hause sitzen in deinem Installationsgeschäft.«
Lilly antwortete nicht. »Installationsgeschäft«, sagte Rosa höhnisch.
»Als sie ihr Geld noch hatte, war alles in Butter, Lilly hier und Lilly da, es machte alles nichts, was früher gewesen war. Genau ein halbes Jahr hat die Herrlichkeit gedauert! Als der letzte Pfennig aus ihr 'rausgeholt war, konnte der feine Herr, der er mit ihrem Gelde geworden war, auf einmal keine Hure als Frau mehr brauchen.« Sie schnaufte. »Hat natürlich plötzlich von nichts was gewußt! War maßlos überrascht über ihre Vergangenheit! So maßlos, daß es einen Scheidungsgrund abgab. Aber das Geld ist natürlich weg.«
»Wieviel war's denn?« fragte ich.
»Viertausend Mark, keine Kleinigkeit! Was meinst du, mit wieviel Schweinehunden sie dafür hat schlafen müssen!«
»Viertausend Mark«, sagte ich. »Schon wieder. Scheint heute in der Luft zu liegen.«
Rosa sah mich verständnislos an. »Spiel lieber etwas«, sagte sie, »damit wir eine andere Stimmung kriegen.«
»Schön — wo wir jetzt alle wieder hier sind.«
Ich setzte mich ans Klavier und spielte ein paar Schlager. Während ich spielte, dachte ich daran, daß Pats Geld nur ungefähr bis Ende Januar für das Sanatorium reichen würde und daß ich mehr verdienen müßte als bisher. Ich schlug mechanisch auf die Tasten los und sah neben mir im Sofa Rosa hingerissen lauschen und daneben das blasse, von einer ungeheuren Enttäuschung völlig versteinerte Gesicht Lillys, kälter und lebloser, als wenn es tot gewesen wäre.
Ein Schrei weckte mich aus meinem Dahinbrüten. Rosa war aus ihren Träumen aufgefahren. Sie stand hinter dem Tisch, der Hut war schief gerutscht, die Augen waren weit aufgerissen, und langsam, ohne daß sie es merkte, lief der Kaffee aus ihrer umgeworfenen Tasse den Tisch herunter in ihre aufgeklappte Handtasche. »Arthur!« stammelte sie, »Arthur, bist du's wirklich?«
Ich hörte auf zu spielen. Ein Mann war eingetreten, hager, mit schlenkrigen Bewegungen, eine Melone weit hinten auf dem Kopf. Er hatte eine gelbe, ungesunde Gesichtsfarbe, eine große Nase und einen zu kleinen, eiförmigen Kopf.
»Arthur«, stammelte Rosa immer noch. »Du?«
»Na, wer sonst?« knurrte Arthur.
»Mein Gott, wo kommst du her?«
»Wo soll ich denn herkommen? Von der Straße durch die Tür.«
Arthur war dafür, daß er nach so langer Zeit heimkehrte, nicht besonders liebenswürdig. Ich betrachtete ihn neugierig. Das also war das sagenhafte Idol Rosas, der Vater ihres Kindes. Er sah aus, als käme er frisch aus dem Gefängnis. Ich konnte gar nichts an ihm entdecken, was einen Anhaltspunkt für Rosas Affenliebe gegeben hätte. Aber vielleicht war es das gerade. Es war sonderbar, auf was diese diamantharten Männerkennerinnen hereinfielen.
Arthur griff, ohne jemand zu fragen, nach einem vollen Glas Bier, das in der Nähe Rosas auf dem Tisch stand, und trank es aus. Der Adamsapfel seines dünnen, sehnigen Halses stieg dabei wie ein Fahrstuhl hinauf und herunter. Rosa schaute ihm strahlend zu.
»Willst du noch eins?« fragte sie.
»Natürlich«, brummte Arthur. »Aber größer.«
»Alois!« Rosa winkte glücklich dem Kellner. »Er will noch ein Bier!«
»Seh' ich«, erklärte Alois ungerührt und zapfte ab.
»Und das Kleine! Arthur, du hast Klein-Elvira ja noch gar nicht gesehen!«
»Du!« Arthur wurde zum erstenmal lebhafter. Er hob die Hand abwehrend in Brusthöhe. »Damit meckere mich nicht an! Das geht mich nischt an! Ich wollte dir den Balg wegmachen lassen. Wär' auch weggekommen, wenn ich nicht...« Er versank in trübes Nachsinnen. »Jetzt kostet der natürlich und kostet.«
»Ist nicht so schlimm, Arthur. Und dann ist's ein Mädchen.«
»Kostet auch«, sagte Arthur und goß das zweite Bier hinter den Kragen. »Vielleicht findet man mal so ein verrücktes, reiches Weib, das es als Kind annimmt. Gegen 'ne anständige Abfindung natürlich. Wäre das einzige.«
Er erwachte aus seinen Überlegungen. »Hast du cash bei dir?«
Rosa holte dienstfertig ihre kaffeebeschmierte Handtasche hervor.
»Fünf Mark nur, Arthur, ich konnte ja nicht ahnen, daß du kommst, aber zu Hause hab' ich mehr.«
Arthur ließ das Silber wie ein Pascha in die Westentasche gleiten.
»Kannst auch nichts verdienen, wenn du hier mit dem Hintern im Sofa sitzt«, murrte er mißmutig.
»Ich geh' ja schon, Arthur. Aber jetzt ist doch nicht viel los. Abendbrotzeit.«
»Kleinvieh macht auch Mist«, erklärte Arthur.
»Ich geh' schon.«
»Na...«, Arthur tippte an die Melone. »Ich komme so um zwölf wieder vorbei.«
Er stakste mit seinen schlenkrigen Bewegungen davon. Rosa blickte ihm selig nach. Er sah sich nicht um und ließ die Tür hinter sich offen. »Kamel«, fluchte Alois und schloß die Tür.
Rosa schaute uns stolz an. »Ist er nicht fabelhaft? Den kriegt nichts weich. Wo er wohl die ganze Zeit gesteckt haben mag?«
»Das siehst du doch an der Haut«, erwiderte Wally. »In Nummer Sicher. Ein Ekel mit Eichenlaub und Schwertern!«
»Du kennst ihn nicht...«
»Hab' schon genug«, sagte Wally.
»Das verstehst du nicht.« Rosa stand auf. »Ein richtiger Mann ist das. Nicht so ein Tränenbruder. Na, dann will ich mal los. Servus, Kinder!«
Verjüngt und beschwingt schaukelte sie hinaus. Jetzt war wieder einer da, dem sie ihr Geld abliefern durfte, damit er es versoff und sie hinterher verprügelte. Sie war glücklich.
Eine halbe Stunde später gingen auch die andern. Nur Lilly blieb mit ihrem steinernen Gesicht sitzen. Ich klimperte noch etwas auf dem Klavier herum, dann aß ich ein Butterbrot und verschwand ebenfalls. Es war nicht lange auszuhalten, so allein mit Lilly.
Ich schlenderte durch die nassen, dunklen Straßen. Am Friedhof hatte sich eine Abteilung der Heilsarmee aufgestellt. Sie sang mit Posaunen und Trompeten vom himmlischen Jerusalem. Ich blieb stehen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich es nicht aushalten könnte, allein, ohne Pat. Ich starrte auf die bleich schimmernden Steine des Friedhofs, ich sagte mir, daß ich vor einem Jahr doch viel mehr allein gewesen sei, daß ich Pat damals gar nicht gekannt hatte und daß sie doch jetzt da war, wenn sie auch nicht bei mir war, aber es half alles nichts — ich war plötzlich ganz verstört und ratlos. Schließlich ging ich in mein Zimmer hinauf, um nachzusehen, ob vielleicht Post von ihr da wäre. Es war ganz unsinnig, denn es konnte noch' nichts dasein, und es war auch nichts da — aber ich ging trotzdem hinauf.
Als ich wieder fortging, traf ich Orlow an der Tür. Er trug einen Smoking unter dem offenen Mantel und wollte in sein Hotel zum Tanzdienst. Ich fragte ihn, ob er von Frau Hasse inzwischen was gehört hätte.
»Nein«, sagte er. »Sie ist noch nicht wieder dagewesen.
Auch auf der Polizei war sie nicht. Ist auch besser, wenn sie nicht wiederkommt.«
Wir gingen zusammen die Straße entlang. An der Ecke stand ein Lastauto mit Kohlensäcken. Der Chauffeur hatte die Kühlerhaube hochgeklappt und arbeitete am Motor herum. Dann kletterte er auf seinen Sitz. Gerade als wir vorüberkamen, ließ er den Motor an und gab kräftig im Leerlauf Gas. Orlow zuckte zusammen. Ich sah ihn an. Er war schneeweiß geworden. »Sind Sie krank?« fragte ich. Er lächelte mit blassen Lippen und schüttelte den Kopf. »Nein — aber ich erschrecke manchmal, wenn ich das da unvermutet höre. Als mein Vater in Rußland erschossen wurde, ließ man draußen auch den Motor eines Lastautos laufen, damit man die Schüsse nicht so hörte. — Wir hörten sie trotzdem.«
Er lächelte wieder, als müsse er sich entschuldigen. »Bei meiner Mutter machte man nicht so viele Umstände. Man erschoß sie frühmorgens in einem Keller. Mein Bruder und ich konnten dann nachts fliehen. Wir hatten noch Diamanten. Aber mein Bruder erfror unterwegs.«
»Weshalb wurden Ihre Eltern erschossen?« fragte ich.
»Mein Vater war vor dem Kriege Kommandeur eines Kosakenregiments, das einen Aufstand unterdrücken half. Er wußte, daß es so kommen würde. Er fand es, wie man so sagt, ganz in Ordnung. Meine Mutter nicht.«
»Und Sie?«
Er machte eine müde, wegwischende Bewegung. »Es ist so viel geschehen seitdem.«
»Ja«, sagte ich, »das ist es. Mehr als man verarbeiten kann.«
Wir waren vor dem Hotel angekommen, in dem er arbeitete. Eine Dame stieg gerade aus einem Buick und stürzte mit freudigem Geschrei auf ihn zu. Sie war ziemlich dick und elegant und hatte das verwaschene Gesicht einer vierzigjährigen Blondine, die nie Sorgen und Gedanken gekannt hat. »Entschuldigen Sie«, sagte Orlow mit einem kaum merkbaren Blick, »das Geschäft...«
Er verbeugte sich vor der Blondine und küßte ihr die Hand.
In der Bar waren Valentin, Köster und Ferdinand Grau, Lenz kam etwas später. Ich setzte mich zu ihnen und bestellte mir eine halbe Flasche Rum. Ich fühlte mich immer noch verdammt schlecht.
Ferdinand hockte in einer Ecke, breit und massig, mit verfallenem Gesicht und ganz klaren blauen Augen. Er hatte schon allerlei getrunken. »Na, kleiner Robby«, sagte er und schlug mir auf die Schulter, »was ist mit dir los?«
»Nichts, Ferdinand«, erwiderte ich, »das ist ja gerade das Schlimme.«
Er betrachtete mich eine Weile. »Nichts?« sagte er dann, »nichts? Das ist viel! Das Nichts ist der Spiegel, in dem man die Welt erkennt.«
»Bravo!« rief Lenz. »Unerhört originell, Ferdinand!«
»Sei du ruhig, Gottfried.« Ferdinand wandte ihm seinen mächtigen Schädel zu. »Ein Romantiker wie du ist nur ein pathetischer Hopser am Rande des Lebens. Er versteht es immer falsch und macht sich daraus seine Sensationen. Was weißt du vom Nichts, du Leichtgewicht?«
»Genug, um ein Leichtgewicht bleiben zu wollen«, erklärte Lenz.
»Anständige Menschen haben Respekt vor dem Nichts, Ferdinand. Sie wühlen nicht darin herum wie ein Maulwurf.«
Grau starrte ihn an. »Prost«, sagte Gottfried.
»Prost«, sagte Ferdinand. »Prost, du Kork!«
Sie tranken ihre Gläser leer. »Ich möchte ganz gern ein Kork sein«, sagte ich und trank mein Glas ebenfalls aus. »So einer, der alles richtig macht und dem alles gelingt. Wenigstens eine Zeitlang mal.«
»Apostata!« Ferdinand warf sich in seinen Sessel zurück, daß er krachte. »Willst du zum Deserteur werden? Die Brüderschaft verraten?«
»Nein«, sagte ich, »ich will nichts verraten. Aber ich wollte, es ginge uns nicht immer alles in die Brüche.«
Ferdinand beugte sich vor. Sein großes, wildes Gesicht zuckte. »Dafür gehörst du einem Orden an, Bruder — dem Orden der Erfolglosen, Untüchtigen, mit ihren Wünschen ohne Ziel, ihrer Sehnsucht, die nichts einbringt, ihrer Liebe ohne Zukunft, ihrer Verzweiflung ohne Vernunft.« Er lächelte. »Der geheimen Brüderschaft, die lieber verkommt, als daß sie Karriere macht, die das Leben lieber verspielt, zerbröckelt, verliert, als daß sie das unerreichbare Bild betriebsam verfälscht oder vergißt — das Bild, Bruder, das sie im Herzen trägt, unverlöschlich eingegraben in den Stunden und Tagen und Nächten, wo es nichts gab als das eine: das nackte Leben und das nackte Sterben.«
Er hob sein Glas und winkte Fred an der Bar. »Gib mir zu trinken.«
Fred brachte die Flasche. »Soll ich noch etwas Grammophon spielen?« fragte er.
»Nein«, sagte Lenz. »Wirf dein Grammophon 'raus und bring größere Gläser. Und dann mach die Hälfte von dem Licht aus, stell ein paar Flaschen her und verschwinde in deinem Büro nebenan.«
Fred nickte und knipste die Deckenbeleuchtung aus. Nur noch die kleinen Lampen mit den Pergamentschirmen aus alten Landkarten brannten. Lenz füllte die Gläser. »Prost, Kinder! Weil wir leben! Weil wir atmen! Weil wir das Leben so stark empfinden, daß wir nichts mehr damit anzufangen wissen!«
»So ist es«, sagte Ferdinand. »Nur der Unglückliche kennt das Glück. Der Glückliche ist ein Mannequin des Lebensgefühls. Er führt es nur vor; er besitzt es nicht. Licht leuchtet nicht im Licht; es leuchtet im Dunkel. Prost auf das Dunkel! Wer einmal im Gewitter gewesen ist, kann mit einer Elektrisiermaschine nichts mehr anfangen. Verflucht sei das Gewitter! Gesegnet sei unser bißchen Leben! Und weil wir es lieben, wollen wir es nicht auf Zinsen legen! Wir wollen es kaputtmachen! Trinkt, Kinder! Es gibt Sterne, die jede Nacht noch leuchten, obwohl sie schon vor zehntausend Lichtjahren zerplatzt sind! Trinkt, solange es noch Zeit ist! Es lebe das Unglück! Es lebe das Dunkel!«
Er schenkte sich ein Wasserglas voll Kognak ein und trank es aus.
Der Rum klopfte hinter meiner Stirn. Ich stand leise auf und ging zu Fred ins Büro. Er schlief. Ich weckte ihn und ließ eine Verbindung mit dem Sanatorium anmelden.
»Sie können drauf warten«, sagte er. »Um diese Zeit geht das rasch.«
Fünf Minuten später klingelte das Telefon, und das Sanatorium meldete sich. »Ich möchte mit Fräulein Hollmann sprechen«, sagte ich.
»Einen Augenblick, ich verbinde mit der Station.«
Die Oberschwester meldete sich. »Fräulein Hollmann schläft schon.«
»Hat sie kein Telefon im Zimmer?«
»Nein.«
»Können Sie sie nicht wecken?«
Die Stimme zögerte. »Nein. Sie soll heute auch nicht aufstehen.«
»Ist etwas passiert?«
»Nein. Sie muß nur die nächsten Tage im Bett bleiben.«
»Ist bestimmt nichts passiert?«
»Nein, nein, das ist immer so im Anfang. Sie muß im Bett bleiben und sich erst gewöhnen.«
Ich hängte ab. »Schon zu spät, was?« fragte Fred.
»Wie meinst du das?«
Er zeigte mir seine Uhr. »Es geht schon auf zwölf.«
»Ja«, sagte ich. »Hätte gar nicht anrufen sollen.«
Ich ging zurück und trank weiter.
Um zwei Uhr brachen wir auf. Lenz brachte Valentin und Ferdinand mit dem Taxi nach Hause. »Komm«, sagte Köster zu mir und ließ Karls Motor an.
»Ich kann die paar Schritte schon zu Fuß gehen, Otto.«
Er sah mich an. »Wir fahren noch etwas 'raus.«
»Gut.« Ich stieg ein.
»Fahr du«, sagte Köster.
»Unsinn, Otto. Ich kann nicht fahren, ich bin betrunken.«
»Fahr schon! Auf meine Verantwortung.«
»Du wirst es sehen«, sagte ich und setzte mich ans Steuer.
Der Motor röhrte. Das Steuerrad zitterte in meiner Hand. Die Straßen schaukelten an mir vorüber, die Häuser schwankten, und die Laternen standen schräg im Regen. »Es geht nicht, Otto«, sagte ich. »Ich haue irgendwo gegen.«
»Hau dagegen«, erwiderte er.
Ich sah ihn an. Sein Gesicht war klar, gespannt und beherrscht. Er blickte auf die Straße vor uns. Ich drückte den Rücken gegen die Sitzlehne und faßte das Steuerrad fester. Ich biß die Zähne aufeinander und kniff die Augen zusammen. Langsam wurde die Straße deutlicher.
»Wohin, Otto?« fragte ich.
»Weiter 'raus.«
Wir erreichten die Ausfallstraße, die aus der Stadt führte, und kamen auf die Chaussee. »Große Scheinwerfer«, sagte Köster.
Die Betonstraße leuchtete hellgrau vor uns auf. Es regnete nur noch wenig, aber die Tropfen schlugen mir wie Hagelkörner ins Gesicht. Der Wind kam in schweren Stößen, die Wolken hingen niedrig, dicht über dem Walde waren sie zerrissen und Silber tropfte hindurch. Der Nebel hinter meinen Augen verflog. Das Brausen des Motors schlug durch meine Arme in meinen Körper. Ich spürte die Maschine und ihre Kraft. Die Explosionen der Zylinder erschütterten die dumpfe Starrheit meines Schädels. Die Kolben hämmerten wie Pumpen durch mein Blut. Ich griff zu. Der Wagen schoß die Landstraße entlang.
»Schneller«, sagte Köster.
Die Reifen begannen zu pfeifen. Bäume und Telegrafenstangen flogen surrend vorüber. Ein Dorf polterte vorbei. Ich war jetzt ganz klar.
»Mehr Gas«, sagte Köster.
»Kann ich ihn dann noch halten? Die Straße ist naß.«
»Wirst es schon merken. Vor den Kurven umschalten auf den dritten Gang und mit Gas herum.«
Der Motor brüllte auf. Die Luft knallte gegen mein Gesicht. Ich duckte mich hinter die Windschutzscheibe. Und plötzlich rutschte ich in das Donnern der Maschine hinein, Wagen und Körper wurden eins, eine einzige Spannung, ein hohes Vibrieren, ich fühlte die Räder unter meinen Füßen, ich fühlte den Boden, die Straße, die Geschwindigkeit, mit einem Ruck schob sich etwas zurecht, die Nacht heulte und sauste, sie schlug alles andere aus mir heraus, die Lippen preßten sich aufeinander, die Hände wurden Klammern, ich war nur noch Fahren und Rasen, besinnungslos gleichzeitig und mit höchster Aufmerksamkeit.
In einer Kurve schleuderte der Wagen hinten weg. Ich steuerte gegen, einmal, zweimal und gab Gas. Einen Augenblick war alles lose wie ein Luftballon, dann fing sich der Wagen wieder.
»Gut«, sagte Köster.
»Es war nasses Laub«, erwiderte ich und spürte die Wärme und Gelöstheit, die nach jeder Gefahr über die Haut strömt.
Köster nickte. »Das ist das Verfluchte bei Waldkurven im Herbst. Willst du eine Zigarette?«
»Ja«, sagte ich.
Wir hielten an und rauchten. »Können jetzt umkehren«, sagte Köster dann.
Ich fuhr in die Stadt zurück und stieg aus. »War gut, daß wir gefahren sind, Otto. Bin jetzt drüber weg.«
»Ich zeige dir nächstens mal eine andere Kurventechnik«, sagte er. »'rumwerfen mit der Bremse. Kann man aber nur machen, wenn die Straßen trockener sind.«
»Schön, Otto. Schlaf gut.«
»Schlaf gut, Robby.«
Karl fegte los. Ich ging ins Haus. Ich war sehr erschöpft, aber ganz ruhig und nicht mehr traurig.

24

XXIII

Anfang November verkauften wir den Citroen. Das Geld reichte, um die Werkstatt eine Weile weiterzuführen, aber unsere Lage wurde von Woche zu Woche schlechter. Die Leute stellten im Winter ihre Wagen ein, um Benzin und Steuern zu sparen, und Reparaturen kamen immer weniger vor. Wir halfen uns zwar mit dem Taxi durch, aber der Verdienst war für drei zu knapp, und ich war deshalb ganz froh, als der Wirt vom International mir vorschlug, vom Dezember ab wieder jeden Abend bei ihm Klavier zu spielen. Er hatte in der letzten Zeit Glück gehabt; der Viehhändlerverband hatte seine wöchentlichen Vereinsabende in ein Hinterzimmer des International verlegt, dann war der Pferdehändlerverband nachgefolgt und zum Schluß noch die Gesellschaft für Feuerbestattung auf gemeinnütziger Grundlage. Auf diese Weise konnte ich Lenz und Köster das Taxi lassen, und mir war es auch sonst ganz recht — wußte ohnehin oft nicht, wie ich die Abende herumbringen sollte.
Pat schrieb mir regelmäßig. Ich wartete auf ihre Briefe, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie lebte, und manchmal, in den dunklen, schmutzigen Dezemberwochen, wo es nicht einmal mittags richtig hell wurde, glaubte ich, sie sei mir längst entglitten, und alles sei vorbei. Es schien mir endlos, seit sie fort war, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie wiederkommen würde. Dann kamen Abende voll schwerer, wilder Sehnsucht, wo nichts mehr half, als mit den Huren und den Viehhändlern bis morgens zu sitzen und zu trinken.
Der Wirt hatte die Erlaubnis bekommen, das International am Weihnachtsabend offenzuhalten. Es sollte eine große Feier für die Junggesellen aller Vereine stattfinden. Der Vorsitzende des Viehhändlerverbandes, der Schweinehändler Stefan Grigoleit, stiftete dazu zwei Spanferkel und eine Anzahl Eisbeine. Er war seit zwei Jahren Witwer und eine weiche Natur; da wollte er Weihnachten in Gesellschaft verbringen.
Der Wirt erstand eine vier Meter hohe Edeltanne, die neben der Theke aufgebaut wurde. Rosa, die Autorität in allem, was traulich und gemütlich hieß, übernahm es, den Baum zu schmücken. Marion und der schwule Kiki, der infolge seiner Veranlagung auch viel Sinn für Schönheit hatte, halfen ihr. Die drei begannen mittags mit ihrer Arbeit. Sie verbrauchten eine Unmenge bunter Kugeln, Kerzen und Lametta, aber der Baum sah zum Schluß dafür auch großartig aus. Als besondere Aufmerksamkeit für Grigoleit wurde eine Anzahl rosa Marzipanschweinchen hineingehängt.
Ich hatte mich nachmittags zu Bett gelegt, um ein paar Stunden zu schlafen. Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich mußte mich einen Augenblick besinnen, ob es Abend oder Morgen war. Ich hatte geträumt, aber ich wußte nicht mehr wovon. Ich war weit weg gewesen, und ich glaubte noch zu hören, daß eine schwarze Tür hinter mir zuschlug. Dann merkte ich, daß jemand klopfte.
»Wer ist da?« rief ich.
»Ich, Herr Lohkamp.«
Ich erkannte die Stimme Frau Zalewskis. »Kommen Sie herein«, rief ich. »Die Tür ist offen.«
Die Klinke knirschte, und ich sah Frau Zalewski vor dem gelben Licht des Korridors im Türrahmen stehen. »Frau Hasse ist da«, flüsterte sie. »Kommen Sie rasch. Ich kann es ihr nicht sagen.«
Ich rührte mich nicht. Ich mußte mich erst zurechtfinden.
»Schicken Sie sie zur Polizei«, erwiderte ich dann.
»Herr Lohkamp!« Frau Zalewski hob die Hände. »Es ist niemand sonst da. Sie müssen mir helfen. Sie sind doch ein Christenmensch!«
Sie stand wie ein tanzender schwarzer Schatten im Viereck der Türöffnung. »Hören Sie auf«, sagte ich ärgerlich. »Ich komme schon.«
Ich zog mich an und ging hinaus. Frau Zalewski wartete draußen auf mich. »Weiß sie schon was?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und preßte ihr Taschentuch an die Lippen.
»Wo ist sie denn?«
»In ihrem früheren Zimmer.«
Vor der Küche stand Frida, schwitzend vor Aufregung. »Sie hat einen Hut auf, ganz mit Reihern, und eine Diamantbrosche an«, flüsterte sie.
»Passen Sie auf, daß dieser verkorkste Küchentrampel nicht lauscht«, sagte ich zu Frau Zalewski und ging hinein.
Frau Hasse stand am Fenster. Sie schnellte herum, als ich hereinkam. Sie hatte sichtlich jemand anderes erwartet. Es war idiotisch, aber mein erster Blick galt dem Hut und der Brosche, obschon ich es nicht wollte. Frida hatte recht; der Hut war pompös. Die Brosche weniger. Die ganze Person war ziemlich aufgedonnert, so wie jemand, der einem andern zeigen will, wie gut es ihm geht. Im ganzen sah sie nicht schlecht aus; besser jedenfalls als das ganze Jahr, während sie hier gewesen war.
»Hasse arbeitet wohl noch am Heiligen Abend, wie?« fragte sie spitz.
»Nein«, sagte ich. »Wo ist er denn? Auf Urlaub?«
Sie kam auf mich zu, schaukelnd in den Hüften. Ich roch ihr zu starkes Parfüm. »Was wollen Sie denn noch von ihm?« fragte ich.
»Meine Sachen erledigen. Abrechnen. Schließlich gehört mir doch ein Teil davon.«
»Das brauchen Sie nicht mehr«, sagte ich. »Es gehört Ihnen jetzt alles.« Sie starrte mich an.
»Er ist tot«, sagte ich.
Ich hätte es ihr gern anders gesagt. Mit mehr Vorbereitung und langsamer. Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Außerdem war mein Kopf noch wüst vom Nachmittagsschlaf; diesem Schlaf, bei dem man dem Selbstmord nahe ist, wenn man aufwacht.
Frau Hasse stand mitten im Zimmer, und merkwürdigerweise sah ich im Moment, wo ich es ihr sagte, ganz deutlich, daß sie nirgendwo gegenschlagen würde, wenn sie jetzt umfiele. Es war sonderbar, aber ich sah wirklich nichts anderes und dachte auch nichts anderes.
Doch sie fiel nicht um. Sie blieb stehen und blickte mich an. »So«, sagte sie, »so...« Nur die Federn ihres Reiherhutes zitterten. Und plötzlich, ohne daß ich merken konnte, was vor sich ging, sah ich, wie die aufgeputzte, parfümierte Frau vor mir alt wurde. Es war, als schlüge die Zeit wie ein Gewitterregen auf sie ein, jede Sekunde wie ein Jahr — die Spannung zerbrach, der Triumph erlosch, das Gesicht wurde morsch. Falten krochen wie Würmer hinein, und als sie dann mit einer tastenden, unsicheren Bewegung nach einer Stuhllehne griff und sich hinsetzte, als fürchte sie, etwas zu zerbrechen, da war es, als wäre das nicht derselbe Mensch — so müde, verfallen und alt sah sie aus.
»Was hat er gehabt?« fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Es ist plötzlich gekommen«, sagte ich.
Sie hörte nicht zu. Sie blickte auf ihre Hände. »Was mache ich jetzt?« murmelte sie. »Was mache ich nur jetzt?«
Ich wartete eine Zeitlang. Ich fühlte mich scheußlich. »Sie haben doch sicher jemand, zu dem Sie gehen können«, sagte ich schließlich. »Es ist am besten, Sie bleiben nicht hier. Sie wollten doch auch nicht hierbleiben...«
»Das ist doch alles anders nun«, erwiderte sie, ohne aufzusehen. »Was soll ich jetzt nur machen?«
»Sie haben doch sicher jemand, der auf Sie wartet. Gehen Sie zu ihm und besprechen Sie alles mit ihm. Und dann gehen Sie nach Weihnachten zum Polizeirevier. Da sind die Sachen hinterlegt, auch die Bankausweise. Sie müssen sich dort melden, damit Sie das Geld ausgezahlt bekommen.«
»Geld, Geld«, murmelte sie stumpf. »Was für Geld?«
»Ziemlich viel. Zwölfhundert Mark ungefähr.«
Sie hob den Kopf. Ihre Augen hatten plötzlich einen irrsinnigen Ausdruck. »Nein!« kreischte sie, »das ist nicht wahr!«
Ich gab keine Antwort. »Sagen Sie, daß es nicht wahr ist«, flüsterte sie.
»Vielleicht ist es nicht wahr. Aber vielleicht hat er es auch heimlich als Notgroschen zurückgelegt.«
Sie stand auf. Sie war auf einmal völlig verändert. Ihre Bewegungen hatten etwas ruckartig Mechanisches. Sie näherte ihr Gesicht ganz dicht dem meinen. »Ja, es ist wahr«, zischte sie, »ich fühle, es ist wahr! Dieser Schuft! Oh, dieser Schuft! Läßt mich das alles durchmachen, und dann ist es so! Aber ich werde es nehmen und werde es 'rausschmeißen, alles an einem Abend, auf die Straße werde ich es schmeißen, damit nichts mehr davon bleibt! Nichts! Nichts!«
Ich schwieg. Ich hatte genug. Sie war über den Anfang hinweg, sie wußte, daß Hasse tot war, mit dem andern mußte sie nun selbst fertig werden. Wahrscheinlich würde sie noch einmal umkippen, wenn sie hörte, daß er sich erhängt hatte, aber das war ihre eigene Sache. Man konnte Hasse ihretwegen nicht wieder lebendig machen.
Sie weinte jetzt. Sie quoll nur so über von Tränen. Sie weinte hoch und kläglich, wie ein Kind. Es dauerte eine Zeitlang. Ich hätte viel gegeben, wenn ich eine Zigarette hätte rauchen können. Ich konnte nicht sehen, wenn jemand weinte.
Endlich hörte sie auf. Sie trocknete ihr Gesicht, holte mechanisch ihre Puderdose hervor und puderte sich, ohne in den Spiegel zu schauen. Dann steckte sie die silberne Dose wieder weg, aber sie vergaß ihre Handtasche zu schließen. »Ich weiß nichts mehr«, sagte sie mit gebrochener Stimme, »ich weiß nichts mehr. Er war wohl ein guter Mann.«
»Das war er.«
Ich sagte ihr noch die Adresse des Polizeireviers und daß es heute schon geschlossen sei. Es schien mir besser, wenn sie nicht gleich hinging. Es war genug für heute.
Als sie fort war, kam Frau Zalewski aus ihrem Salon. »Ist denn außer mir kein Mensch hier?« fragte ich, wütend über mich selbst.
»Nur Herr Georgie. Was hat sie denn gesagt?« — »Nichts.«
»Um so besser.«
»Je nachdem. Manchmal ist es auch nicht besser.«
»Ich habe kein Mitleid mit ihr«, erklärte Frau Zalewski energisch. »Nicht das geringste.«
»Mitleid ist der nutzloseste Artikel, den es auf der Welt gibt«, sagte ich ärgerlich. »Es ist die Kehrseite der Schadenfreude, das sollten Sie wissen. Wie spät ist es denn jetzt?«
»Dreiviertel sieben.«
»Ich möchte um sieben mit Fräulein Hollmann telefonieren. Aber so, daß keiner zuhört. Geht das?«
»Es ist ja niemand da, außer Herr Georgie. Frida habe ich schon fortgeschickt. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch in die Küche setzen. Das Kabel reicht gerade so weit.«
»Gut.«
Ich klopfte bei Georgie. Es war lange her, daß ich bei ihm gewesen war. Er hockte an seinem Schreibtisch und sah verdammt schlecht aus. Rund um ihn herum lag ein Haufen zerrissenes Papier. »Tag, Georgie«, sagte ich, »was machst du denn da?«
»Inventur«, erwiderte er mit einem matten Lächeln. »Gute Weihnachtsbeschäftigung.«
Ich bückte mich nach einem der Papierfetzen. Es waren Kolleghefte mit chemischen Formeln. »Wozu?« fragte ich.
»Hat keinen Zweck mehr, Robby.«
Er sah ziemlich durchsichtig aus. Die Ohren waren wie aus Wachs. »Was hast du heute gegessen?« fragte ich.
Er wehrte ab. »Das ist ja egal. Das ist es auch nicht. Das Essen nicht. Aber ich kann einfach nicht mehr weiter. Ich muß es aufgeben.«
»Ist das so schlimm?«
»Ja«, sagte er.
»Georgie«, erwiderte ich ruhig, »sieh mich mal an. Glaubst du nicht, daß ich auch mal was anderes werden wollte als Klavierspieler in der Hurenbude, dem Café International?«
Er knetete an seinen Händen herum. »Ich weiß es, Robby. Aber es hilft mir nichts. Für mich war es alles. Und jetzt habe ich eingesehen, daß es keinen Zweck hat. Daß nichts einen Zweck hat. Wozu lebt man da eigentlich?«
Ich mußte lachen, so jämmerlich er auch dasaß, und so bitterernst es ihm war. »Du kleiner Esel«, sagte ich, »da hast du aber was entdeckt! Glaubst du, du bist allein mit deiner grandiosen Weisheit? Natürlich hat's keinen Zweck. Man lebt auch nicht für einen Zweck. So einfach ist das nun doch nicht. Komm, zieh dich an. Du gehst mit mir ins International. Wir wollen feiern, daß du ein Mann geworden bist. Bislang warst du ein Schuljunge. Ich hole dich in einer halben Stunde ab.«
»Nein«, sagte er.
Er war verdammt herunter. »Doch«, sagte ich. »Du wirst mir den Gefallen tun. Ich möchte heute nicht allein sein.«
Er blickte mich zweifelnd an. »Meinetwegen«, erwiderte er dann mutlos. »Ist ja schließlich egal.«
»Na siehst du«, sagte ich. »Für den Anfang ist das schon ein ganz hübscher Wahlspruch.«
Um sieben Uhr meldete ich das Gespräch mit Pat an. Von dieser Zeit an kostete es die halbe Taxe, und ich konnte doppelt so lange telefonieren. Ich setzte mich auf den Tisch im Vorzimmer und wartete. In die Küche wollte ich nicht gehen. Es roch da nach grünen Bohnen, und damit wollte ich Pat nicht einmal beim Telefonieren zusammenbringen. Eine Viertelstunde später kam das Gespräch. Pat war gleich am Apparat. Als ich ihre warme, dunkle, etwas zögernde Stimme so dicht neben mir hörte, wurde ich so aufgeregt, daß ich kaum sprechen konnte. Es war wie ein Zittern, wie ein Beben des Blutes, gegen das man mit allem Willen nichts machen konnte.
»Mein Gott, Pat«, sagte ich, »bist du wirklich da?«
Sie lachte. »Wo bist du denn, Robby? Im Büro?«
»Nein, ich sitze bei Frau Zalewski auf dem Tisch. Wie geht es dir?«
»Gut, Liebling.«
»Bist du auf?«
»Ja. Ich sitze auf der Fensterbank in meinem Zimmer und habe meinen weißen Bademantel an. Draußen schneit es.«
Ich sah sie plötzlich deutlich vor mir. Ich sah die Schneeflocken wirbeln, ich sah den schmalen, dunklen Kopf, die geraden, etwas vorgebeugten Schultern, die bronzefarbene Haut.
»Herrgott, Pat«, sagte ich, »das verfluchte Geld! Ich würde mich sonst auf der Stelle in ein Flugzeug setzen und heute abend noch ankommen.«
»Ach, Liebling...«
Sie schwieg. Ich horchte in das leise Kratzen und Summen der Leitung. »Bist du noch da, Pat?«
»Ja, Robby. Aber du mußt so etwas nicht sagen. Mir ist ganz schwindlig geworden.«
»Mir ist auch verdammt schwindlig«, sagte ich. »Erzähl mir, was du da oben alles machst.«
Sie begann zu sprechen, aber ich hörte bald nicht mehr auf das, was sie sagte. Ich hörte nur ihre Stimme, und während ich so auf dem dunklen Vorplatz hockte, zwischen dem Wildschweinschädel und der Küche mit den grünen Bohnen, schien es mir, als ginge die Tür auf und eine Welle von Wärme und Glanz käme herein, schmeichelnd und bunt, voll von Träumen, Sehnsucht und Jugend. Ich stemmte die Füße gegen den Tisch, ich stützte den Kopf in die Hand, ich sah den Wildschweinschädel an und die abgestoßene Küchentür, aber ich konnte mir nicht helfen — Sommer war auf einmal da, Wind, Abend über Ährenfeldern und das grüne Licht der Waldwege. Die Stimme schwieg. Ich atmete tief. »Es ist schön mit dir zu sprechen, Pat. Und heute abend, was tust du da?«
»Heute abend ist ein kleines Fest. Um acht beginnt es. Ich ziehe mich gerade dazu an.«
»Was ziehst du denn dazu an? Das silberne Kleid?«
»Ja, Robby. Das silberne Kleid, in dem du mich durch den Korridor getragen hast.«
»Und mit wem gehst du?«
»Mit niemand. Es ist doch hier im Sanatorium. Unten in der Halle. Da kennen sich alle.«
»Es muß schwer sein für dich, mich nicht zu betrügen«, sagte ich. »In dem silbernen Kleid.«
Sie lachte. »In dem schon gar nicht. Da habe ich Erinnerungen.«
»Ich auch. Ich habe gesehen, wie es wirkt. Aber ich will es auch gar nicht so genau wissen. Du kannst mich betrügen, ich will es nur nicht wissen. Nachher, wenn du zurückkommst, ist es dann nur wie geträumt für dich und vergessen und vorbei.«
»Ach, Robby«, sagte sie langsam, und ihre Stimme klang tiefer als vorher. »Ich kann dich nicht betrügen. Dafür denke ich viel zuviel an dich. Du weißt nicht, wie das hier oben ist. Ein strahlendes, schönes Gefängnis. Man lenkt sich ab, so gut es geht, das ist alles. Wenn ich an dein Zimmer denke, dann weiß ich manchmal nicht, was ich tun soll, dann gehe ich an den Bahnhof und sehe die Züge an, die von unten kommen, und denke, daß ich dir dann näher bin, wenn ich in ein Abteil einsteige oder so tue, als ob ich jemand abholen will.«
Ich biß die Lippen zusammen. Ich hatte sie noch nie so sprechen hören. Sie war immer scheu gewesen, und ihre Zuneigung hatte viel mehr in einer Gebärde, einem Blick gelegen als in Worten.
»Ich werde zusehen, daß ich dich einmal besuchen kann, Pat«, sagte ich.
»Wirklich, Robby?«
»Ja, vielleicht Ende Januar.«
Ich wußte, daß es kaum möglich war, denn von Februar an mußten wir ja auch noch das Geld für das Sanatorium aufbringen. Aber ich sagte es ihr, damit sie etwas hatte, woran sie denken konnte. Es war dann später nicht so schwer, es weiter zu verschieben, bis der Tag kam, wo sie wieder herunter konnte.
»Leb wohl, Pat«, sagte ich. »Laß es dir gut gehen. Sei froh, dann bin ich auch froh. Sei froh heute abend.«
»Ja, Robby, heute bin ich glücklich.«
Ich holte Georgie ab und ging mit ihm zum Café International. Die alte, verräucherte Bude war kaum wiederzuerkennen. Der Weihnachtsbaum brannte, und sein warmes Licht spiegelte sich in allen Flaschen, Gläsern und dem Nickel und Kupfer der Theke. Die Huren saßen in Abendkleidern, mit falschem Schmuck behangen, erwartungsvoll um einen Tisch herum.
Punkt acht Uhr marschierte die Liedertafel der vereinigten Viehkommissionäre ein. Sie formierten sich an der Tür nach Stimmen, rechts der erste Tenor, ganz links der zweite Baß. Stefan Grigoleit, der Witwer und Schweinehändler, zog eine Stimmgabel hervor, verteilte die Töne, und dann ging es vierstimmig los: »Heilige Nacht, o gieße du — Himmelsfrieden in dies Herz — Schenk dem armen Pilger Ruh — Holde Labung seinem Schmerz — Hell schon erglühn die Sterne — Leuchten aus blauer Ferne — Möchten zu dir mich gerne ziehn — himmelwärts.«
»Rührend«, sagte Rosa und wischte sich die Augen.
Die zweite Strophe verklang. Donnernder Beifall erscholl. Die Liedertafel verbeugte sich dankend. Stefan Grigoleit wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Beethoven bleibt Beethoven«, erklärte er.
Niemand widersprach. Stefan steckte das Schnupftuch ein. »Und nun 'ran an die Gewehre!«
Der Eßtisch war im großen Vereinszimmer gedeckt. In der Mitte prangten auf silbernen Platten über kleinen Spirituslämpchen braun und knusprig die beiden Spanferkel. Sie hatten Zitronen in den Schnauzen, kleine, brennende Tannenbäume auf dem Rücken und wunderten sich über gar nichts mehr.
Alois erschien in einem neu aufgefärbten Frack, einem Geschenk des Wirts. Er brachte ein halbes Dutzend Kruken mit Steinhäger und schenkte ein. Mit ihm kam Potter von der Feuerbestattungsgesellschaft, der noch eine Verbrennung geleitet hatte.
»Friede auf Erden!« sagte er großartig, reichte Rosa die Hand und nahm neben ihr Platz. Stefan Grigoleit, der Georgie sofort mit an die Tafel geladen hatte, stand auf und hielt die kürzeste und beste Rede seines Lebens. Er hob sein Glas mit dem glitzernden Wacholderschnaps hoch, sah sich strahlend um und rief: »Prost!«
Dann setzte er sich wieder, und Alois schleppte die Eisbeine, das Sauerkraut und die Salzkartoffeln herein. Der Wirt kam mit großen, gläsernen Stangen goldgelben Pilseners.
»Iß langsam, Georgie«, sagte ich. »Dein Magen muß sich erst an das fette Fleisch gewöhnen.«
»Ich muß mich überhaupt erst gewöhnen«, erwiderte er und sah mich an.
»Das geht schnell«, sagte ich. »Man darf nur nicht vergleichen. Dann geht's immer.«
Er nickte und beugte sich wieder über seinen Teller.
Plötzlich entstand am untern Tischende Streit. Potters krähende Stimme war zu hören. Er hatte dem Zigarrenhändler Busch, einem Gast, zutrinken wollen, aber Busch hatte sich geweigert mit der Begründung, er wolle nicht trinken, um mehr essen zu können.
»Das ist Blödsinn«, schimpfte Potter. »Zum Essen muß man doch trinken! Wer trinkt, kann sogar noch mehr essen.«
»Quatsch!« brummte Busch, ein hagerer, langer Mensch mit platter Nase und Hornbrille.
Potter fuhr hoch. »Quatsch? Das sagst du zu mir, du Tabakeule?«
»Ruhe!« rief Stefan Grigoleit. »Keinen Krach am Weihnachtsabend!«
Er ließ sich erklären, um was es sich handelte, und fällte ein salomonisches Urteil. Die Sache sollte ausprobiert werden. Vor jeden der beiden Kämpfer wurden mehrere gleich große Schüsseln aufgestellt mit Fleisch, Kartoffeln und Kraut. Es waren riesenhafte Portionen. Potter durfte dazu trinken, was er wollte, Busch mußte trocken bleiben. Um dem Ganzen Reiz zu geben, wurde auf beide gewettet. Grigoleit übernahm den Totalisator.
Potter baute einen Kranz von Biergläsern um sich auf, dazwischen wie Diamanten kleine Gläser mit Steinhäger. Die Wetten standen 3:1 für ihn. Dann startete Grigoleit die beiden.
Busch fraß verbissen, tief über den Teller geduckt. Potter kämpfte in offener, aufrechter Haltung.
Bei jedem Schluck, den er nahm, rief er Busch ein frohlockendes Prost zu, das dieser mit einem gehässigen Blick beantwortete.
»Mir wird schlecht«, sagte Georgie zu mir.
»Komm mit 'raus.«
Ich brachte ihn in den Waschraum und setzte mich dann in den Vorderraum, um auf ihn zu warten.
Der süße Duft der Kerzen mischte sich mit dem Knistern und dem Geruch verbrennender Tannennadeln. Und plötzlich war es mir, als hörte ich leichte, geliebte Schritte, als spürte ich einen warmen Atem und sähe zwei Augen dicht vor mir...
»Verdammt«, sagte ich und stand auf. »Was ist denn mit mir los?«
Im selben Moment hörte ich gewaltiges Gebrüll. »Potter! Bravo, Aloysius!«
Die Feuerbestattung hatte gesiegt.
Im Hinterzimmer qualmten die Zigarren, und der Kognak wurde aufgefahren. Ich saß immer noch neben der Theke. Die Mädchen kamen nach vorn und tuschelten eifrig.
»Was habt ihr denn?« fragte ich.
»Wir haben doch auch unsere Bescherung«, erwiderte Marion.
»Ach so.« Ich lehnte den Kopf an die Theke und dachte daran, was Pat jetzt wohl täte. Ich stellte mir die Halle des Sanatoriums vor, den brennenden Kamin und Pat an einem der Fenstertische mit Helga Guttmann und irgendwelchen Leuten. Es war alles schon so schrecklich lange her. Manchmal dachte ich, daß man morgens einmal aufwachen könnte und daß dann alles vorbei wäre, was früher gewesen war, vergessen, versunken, ertrunken. Es gab nichts Sicheres — nicht einmal die Erinnerung. Eine Klingel läutete. Die Mädchen rannten wie eine Schar aufgescheuchter Hühner zum Billardzimmer hinüber. Da stand Rosa mit der Klingel. Sie winkte mir, auch zu kommen. Unter einer kleinen Tanne stand auf dem Billardtisch eine Anzahl mit Seidenpapier verdeckter Teller. Auf jedem lag ein Zettel mit einem Namen, darunter die Päckchen mit den Geschenken, die die Mädchen sich gegenseitig machten. Rosa hatte das alles arrangiert. Jede hatte ihr ihre eingepackten Geschenke für die andern geben müssen, und sie hatte alles auf die Teller geordnet.
Aufgeregt plapperten die Mädchen durcheinander, eilig wie Kinder, um so rasch wie möglich zu sehen, was sie bekommen hatten. »Willst du deinen Teller nicht haben?« fragte Rosa.
»Was für einen Teller?«
»Deinen. Du wirst doch auch beschert.«
Wahrhaftig, da stand mein Name, in zwei Farben, rot und schwarz, in Rundschrift sogar. Äpfel, Nüsse, Apfelsinen — von Rosa ein selbstgestrickter Pullover, von der Wirtin ein grasgrüner Schlips, vom schwulen Kiki ein Paar echt kunstseidene rosa Socken, von Wally, der Schönen, ein Ledergürtel, vom Kellner Alois eine halbe Flasche Rum, von Marion, Lina und Mimi zusammen ein halbes Dutzend Taschentücher, und vom Wirt zwei Flaschen Kognak.
»Kinder«, sagte ich. »Kinder, das ist aber ganz unerwartet.«
»Überraschung?« rief Rosa.
»Total!«
Ich stand beschämt da, und, verdammt, ich war gerührt bis auf die Knochen. »Kinder«, sagte ich, »wißt ihr, wann ich zum letztenmal beschert worden bin? Ich weiß es gar nicht mehr. Es muß vor dem Kriege gewesen sein. Aber nun habe ich gar nichts für euch.«
Eine gewaltige Freude brach los, weil ich so glänzend überrumpelt worden war. »Weil du uns immer was vorgespielt hast«, sagte Lina errötend.
»Ja, du spielst uns was vor, das ist dein Geschenk«, erklärte Rosa.
»Was ihr wollt«, sagte ich. »Alles, was ihr wollt.«
»Aus der Jugendzeit«, rief Marion.
»Nein, was Lustiges«, widersprach Kiki.
Er wurde überstimmt. Als Homo wurde er ohnehin nicht ganz für voll genommen. Ich setzte mich ans Klavier und begann. Alle sangen mit.
»Aus der Jugendzeit — klingt ein Lied mir immerdar — O wie liegt so weit — was mein einst war...«
Die Wirtin drehte alles elektrische Licht aus. Nur noch das milde Licht der Kerzen war da. Leise plätscherte der Bierhahn wie eine ferne Quelle im Walde, und der plattfüßige Alois geisterte im Hintergrunde wie ein schwarzer Pan hin und her. Ich fing die zweite Strophe an. Mit glänzenden Augen und guten Kleinbürgerinnengesichtern standen die Mädchen um das Klavier herum — aber sieh da, wer heulte Rotz und Tränen? Kiki, Salzbrezelkiki aus Luckenwalde.
Leise öffnete sich die Tür des großen Vereinszimmers. Melodisch brummend zog im Gänsemarsch die Liedertafel herein und stellte sich hinter den Mädchen auf. Grigoleit mit einer schwarzen Brasilzigarre an der Spitze.
»Als ich Abschied nahm — war die Welt mir voll so sehr — Als ich wiederkam — war alles leer...«
Leise verhallte der gemischte Chor. »Schön«, sagte Lina.
Rosa zündete die Wunderkerzen an. Sie zischten und sprühten. »So, und nun was Lustiges!« rief sie. »Kiki muß aufgeheitert werden.«
»Ich auch«, sagte Stefan Grigoleit.
Um elf Uhr kamen Köster und Lenz. Wir setzten uns mit dem blassen Georgie an einen Tisch neben der Theke. Georgie bekam ein paar Schnitten trockenes Brot zu essen, damit er wieder taktfest wurde. Bald darauf war Lenz im Tumult der Viehkommissionäre verschwunden. Eine Viertelstunde später sahen wir ihn mit Grigoleit an der Theke auftauchen. Beide schlangen die Arme ineinander und tranken Brüderschaft.
»Stefan!« sagte Grigoleit.
»Gottfried!« erwiderte Lenz, und beide schütteten den Kognak hinunter.
»Ich schicke dir morgen ein Paket Blut- und Leberwurst, Gottfried. In Ordnung?«
»In bester Ordnung!« Lenz schlug ihm auf die Schulter. »Alter, guter Stefan!«
Stefan strahlte. »Du kannst so schön lachen«, sagte er begeistert. »Ich habe gern, wenn einer gut lachen kann. Ich werde zu leicht traurig, das ist mein Fehler.«
»Meiner auch«, erwiderte Lenz, »deshalb lache ich ja. Komm, Robby, trink einen mit auf das endlose Weltgelächter!«
Ich ging zu ihnen hin. »Was hat denn der Kleine da?« fragte Stefan und zeigte auf Georgie. »Der sieht mächtig traurig aus.«
»Der ist leicht glücklich zu machen«, sagte ich. »Der braucht nur etwas Arbeit.«
»Kunststück«, antwortete Stefan. »Heutzutage.«
»Er macht alles.«
»Machen alle alles heutzutage.« Stefan wurde nüchterner.
»Der Junge braucht fünfundsiebzig Mark im Monat.«
»Unsinn. Damit kommt er nicht aus.«
»Der kommt damit aus«, sagte Lenz.
»Gottfried«, erwiderte Grigoleit, »ich bin ein alter Säufer.

Gut. Aber Arbeit ist etwas Ernstes. Kann man jemand nicht heute geben und morgen wieder wegnehmen. So was ist schlimmer als heiraten lassen und morgen die Frau wieder wegnehmen. Aber wenn der Junge ehrlich ist und mit fünfundsiebzig Mark auskommt, hat er Schwein gehabt. Kann sich Dienstag acht Uhr bei mir melden. Brauche eine Hilfe für meine Laufereien mit dem Verein und so. Ab und zu ein Paket mit Geschlachtetem gibt's extra. Scheint was in die Rippen haben zu müssen.«
»Ist das ein Wort?« fragte Lenz.
»Es ist ein Wort von Stefan Grigoleit.«
»Georgie«, rief ich, »komm mal her.«
Er begann zu zittern, als er es hörte. Ich ging zu Köster zurück. »Hör mal, Otto«, sagte ich, »wenn du dein Leben noch einmal von vorn leben könntest, möchtest du das?« »Genauso, wie es war?« »Ja.« »Nein«, sagte Köster. »Ich auch nicht«, sagte ich.

25

XXIV

Es war drei Wochen später, an einem kalten Abend im Januar. Ich saß im International und spielte mit dem Wirt »Siebzehn und vier«. Das Lokal war leer, nicht einmal die Huren waren gekommen. Die Stadt war unruhig. Draußen marschierten alle Augenblicke Kolonnen vorüber, manche mit schmetternden Militärmärschen, andere mit der Internationale, und dann wieder schweigende, lange Züge, denen Schilder vorangetragen wurden mit Forderungen nach Arbeit und Brot. Man hörte die vielen Schritte auf dem Pflaster wie das Gehen einer riesigen, unerbittlichen Uhr. Nachmittags war es zwischen Streikenden und der Polizei bereits zu einem Zusammenstoß gekommen, bei dem zwölf Leute verletzt worden waren, und die ganze Polizei stand seit Stunden unter Alarm. Die Pfiffe der Überfallautos gellten durch die Straßen.
»Es gibt keine Ruhe«, sagte der Wirt und zeigte eine Sechzehn vor.
»Seit dem Krieg hat's keine Ruhe mehr gegeben. Und damals haben wir doch alle nichts anderes gewollt als Ruhe. Verrückte Welt!«
Ich zeigte Siebzehn vor und strich den Pott ein. »Die Welt ist nicht verrückt«, sagte ich. »Nur die Menschen.«
Alois, der hinter dem Stuhl des Wirtes stand und kiebitzte, erhob Einspruch. »Verrückt sind die nicht. Bloß habgierig. Einer gönnt dem andern nischt. Und weil zuviel von allem da ist, haben die meisten gar nischt. Es liegt bloß an der Verteilung.«
»Klar«, sagte ich und paßte bei zwei Karten. »Daran liegt's aber seit ein paar tausend Jahren.«
Der Wirt deckte auf. Er hatte fünfzehn und sah mich zweifelnd an. Dann kaufte er weiter ein, ein As, und war kaputt. Ich zeigte meine Karten vor. Es waren nur zwölf Augen, und er hätte mit fünfzehn gewonnen gehabt. »Verdammt, jetzt höre ich auf«, fluchte er. »So was an gemeinem Bluff! Ich dachte, Sie hätten mindestens achtzehn.«
Alois meckerte. Ich strich das Geld ein. Der Wirt gähnte und sah nach der Uhr: »Fast elf. Ich glaube, wir machen Schluß. Kommt doch keiner mehr.«
»Da kommt noch einer«, sagte Alois.
Die Tür ging auf. Es war Köster. »Gibt's was Neues draußen, Otto?«
Er nickte. »Eine Saalschlacht in den Borussiasälen. Zwei Schwerverletzte, ein paar Dutzend Leichtverletzte und ungefähr hundert Verhaftungen. Zwei Schießereien im Norden. Ein Schupo tot. Weiß nicht, wieviel Verletzte. Na, und jetzt geht's ja wohl erst noch los, wenn die großen Versammlungen zu Ende sind. Bist du hier fertig?«
»Ja«, sagte ich. »Wir wollten gerade Schluß machen.«
»Dann komm mit.«
Ich sah zum Wirt hinüber. Er nickte. »Also, Servus«, sagte ich.
»Servus«, erwiderte der Wirt träge. »Nehmt euch in acht.«
Wir gingen hinaus. Draußen roch es nach Schnee. Flugblätter lagen wie große, tote, weiße Schmetterlinge auf der Straße.
»Gottfried ist nicht da«, sagte Köster. »Er steckt in einer dieser Versammlungen. Ich habe gehört, daß sie gesprengt werden sollen, und glaube, daß noch allerhand passieren wird. Es wäre ganz gut, wenn wir ihn vor Schluß erwischen könnten. Er ist ja nicht gerade der Ruhigste.«
»Weißt du denn, wo er ist?« fragte ich.
»Nicht genau. Aber ziemlich sicher in einer der drei Hauptversammlungen. Wir müssen sie abfahren. Gottfried mit seinem leuchtenden Haarschopf ist ja leicht zu erkennen.«
»Gut.« Wir stiegen ein und jagten mit Karl los zum ersten Versammlungslokal.
Auf der Straße stand ein Lastwagen mit Schupos. Die Sturmriemen der Tschakos waren heruntergelassen. Karabinerläufe schimmerten stumpf im Laternenlicht. Bunte Fahnen hingen in den Fenstern. Vor dem Eingang drängte sich eine Anzahl uniformierter Leute. Fast alle waren sehr jung.
Wir kauften zwei Billetts, lehnten Broschüren, Sammelbüchsen und Mitgliedserklärungen ab und gingen in den Saal. Er war voll besetzt und gut beleuchtet, um Zwischenrufer sofort herausfinden zu können. Wir blieben am Eingang stehen, und Köster, der sehr scharfe Augen hatte, musterte die Reihen.
Auf dem Podium stand ein kräftiger, untersetzter Mann und redete. Er hatte eine volle Bruststimme, die mühelos in den entferntesten Winkeln verständlich war. Es war eine Stimme, die überzeugte, ohne daß man viel darauf achtete, was sie sagte. Und was sie sagte, war leicht verständlich. Der Mann ging auf der Bühne umher, ungezwungen, mit kleinen Armbewegungen, ab und zu trank er einen Schluck Wasser und machte einen Witz. Dann aber stand er plötzlich still, voll dem Publikum zugekehrt, und peitschte mit veränderter, greller Stimme Satz um Satz hinaus, Wahrheiten, die jeder kannte, von der Not, vom Hunger, von der Arbeitslosigkeit, sich immer weiter steigernd, die Zuhörer mitreißend, bis er in einem Furioso herausschmetterte: »Das kann nicht so weitergehen! Das muß anders werden!«
Das Publikum tobte Beifall, es klatschte und schrie, als sei damit schon alles anders geworden. Der Mann oben wartete ab. Sein Gesicht glänzte. Und dann kam es, breit, überzeugend, unwiderstehlich, Versprechen über Versprechen, es regnete nur so Versprechen, ein Paradies erstand über den vielen Köpfen, es wölbte sich zauberhaft bunt, es war eine Lotterie, in der alle Lose Haupttreffer waren und in der jeder sein Privatglück und sein Privatrecht und seine Privatrache fand.
Ich sah mir die Zuhörer an. Es waren Leute aller Berufe, Buchhalter, kleine Gewerbetreibende, Beamte, eine Anzahl Arbeiter und viele Frauen. Sie saßen jetzt da in dem heißen Saal, zurückgelehnt oder vorgebeugt. Reihe an Reihe, Gesicht neben Gesicht, der Strom der Worte spülte über sie hin, und es war sonderbar: So verschieden sie auch waren, die Gesichter hatten alle den gleichen, abwesenden Ausdruck, einen schläfrig-süchtigen Blick in die Ferne einer nebeligen Fata Morgana, es war Leere darin und zugleich eine übermächtige Erwartung, die alles auslöschte, Kritik, Zweifel, Widersprüche und Fragen, den Alltag, die Gegenwart, die Realität. Der da oben wußte alles — er hatte für jede Frage eine Antwort, für jede Not eine Hilfe. Es war gut, sich ihm anzuvertrauen. Es war gut, jemand zu haben, der für einen dachte. Es war gut, zu glauben.
Köster stieß mich an. Lenz war nicht da. Er winkte mit dem Kopf nach dem Ausgang. Ich nickte, und wir gingen.
Die Saalwachen sahen uns finster und argwöhnisch nach. Im Vorraum stand eine Kapelle, fertig zum Einmarsch in den Saal. Ein Wald von Fahnen und Abzeichen dahinter.
»Gut gemacht, was?« fragte Köster draußen.
»Erstklassig. Das kann ich als alter Propagandachef beurteilen.«
Wir fuhren ein paar Straßen weiter. Dort war die zweite politische Versammlung. Andere Fahnen, andere Uniformen, ein anderer Saal; aber sonst alles ähnlich. Auf den Gesichtern der gleiche Ausdruck von Ungewisser Hoffnung und gläubiger Leere. Ein weißgedeckter Vorstandstisch, quer vor den Stuhlreihen. Daran die Parteisekretäre, der Vorstand, ein paar eifrige alte Jungfern. Der Redner, ein Beamtentyp, war schwächer als der vorige. Er redete Papierdeutsch, er brachte Zahlen, Beweise, es stimmte alles, was er sagte, aber trotzdem überzeugte er weniger als der andere, der überhaupt nichts bewies, sondern nur behauptete. Müde dösten die Parteisekretäre am Vorstandstisch vor sich hin; sie hatten Hunderte solcher Versammlungen hinter sich.
»Komm«, sagte Köster nach einer Weile. »Hier ist er auch nicht. Habe ich übrigens auch nicht erwartet.«
Wir fuhren weiter. Die Luft war kalt und frisch nach dem verbrauchten Dunst in den überfüllten Sälen. Der Wagen schoß durch die Straßen. Wir kamen am Kanal vorbei. Die Laternen warfen öliggelbe Reflexe auf das dunkle Wasser, das leise an die betonierten Ufer klatschte. Eine Zille zog schwarz und langsam vorüber. Der Schleppdampfer hatte rote und grüne Signallichter gesetzt. Ein Hund bellte herüber, dann ging ein Mann vor dem Licht her und verschwand in einer Luke, die einen Augenblick golden aufschimmerte. Jenseits des Kanals lagen hell angestrahlt die Häuser des Westens. Ein Brückenbogen schwang sich von ihnen zur anderen Seite hinüber. Ruhelos schoben sich Autos, Omnibusse und elektrische Bahnen darauf hin und her. Er sah aus wie eine funkelnde bunte Schlange über dem trägen schwarzen Wasser.
»Ich denke, wir lassen den Wagen hier stehen und gehen das letzte Stück zu Fuß«, sagte Köster nach einer Weile. »Ist unauffälliger.«
Wir hielten Karl unter einer Laterne vor einer Kneipe an. Eine weiße Katze huschte weg, als wir ausstiegen. Ein paar Huren mit Schürzen standen etwas weiter unter einem Torbogen und verstummten, als wir vorübergingen. In einer Hausecke lehnte ein Drehorgelspieler und schlief. Eine alte Frau wühlte in den Abfällen am Straßenrand.
Wir kamen an eine riesige, schmutzige Mietskaserne mit mehreren Hinterhäusern, Höfen und Durchgängen. Im untersten Stock befanden sich Läden, eine Bäckerei und eine Annahmestelle für Lumpen und altes Eisen. Auf der Straße vor dem ersten Durchgang standen zwei Lastwagen mit Schupos.
Im ersten Hof war in einer Ecke aus Holzlatten ein Stand aufgebaut, an dem ein paar große Sternkarten hingen. Vor einem Tisch mit Papieren stand auf einem kleinen Podium ein Mann mit einem Turban. Über seinem Kopf hing ein Schild: Astrologie, Handlesekunst, Zukunftsdeutung — Ihr Horoskop für 50 Pfennig. Ein Schwarm Menschen umdrängte ihn. Das grelle Licht einer Karbidlampe fiel auf sein gelbes, faltiges Gesicht. Er redete auf die Zuschauer ein, die schweigend zu ihm aufschauten — mit dem gleichen verlorenen, abwesenden, wundersüchtigen Blick wie vorher die Zuhörer in den Versammlungen mit den Fahnen und den Musikkapellen.
»Otto«, sagte ich zu Köster, der vor mir her ging, »jetzt weiß ich, was die Leute wollen. Sie wollen gar keine Politik. Sie wollen Religionsersatz.«
Er sah sich um. »Natürlich. Sie wollen an irgend etwas wieder glauben. An was, ist ganz egal. Deshalb sind sie auch so fanatisch.«
Wir kamen auf den zweiten Hof, an dem das Versammlungslokal lag. Alle Fenster waren erleuchtet. Plötzlich hörten wir Lärm von drinnen. Im selben Moment stürzte aus einem dunklen Seiteneingang eine Anzahl junger Leute in Windjacken, wie auf ein verabredetes Zeichen über den Hof, dicht unter den Fenstern entlang, auf die Tür des Lokals los. Der vorderste riß sie auf, und sie stürmten hinein.
»Ein Stoßtrupp«, sagte Köster. »Komm hier an die Wand hinter die Bierfässer.«
Ein Brüllen und Toben begann im Saal. In der nächsten Sekunde splitterte ein Fenster und jemand flog heraus. Gleich darauf brach die Tür auf, ein Haufen Menschen wälzte sich heraus, die ersten stürzten, die andern fielen darüber hinweg. Eine Frau schrie gellend um Hilfe und rannte durch den Torbogen hinaus. Ein zweiter Schub folgte mit Stuhlbeinen und Biergläsern, wütend ineinander verfilzt. Ein riesiger Zimmermann sprang heraus, stellte sich etwas außerhalb auf, und jedesmal, wenn er den Kopf eines Gegners vor sich sah, fegte sein langer Arm im Kreise herum und schlug ihn in das Gewühl zurück. Er machte das völlig ruhig, als ob er Holz hackte.
Ein neuer Knäuel stürzte heran, und plötzlich sahen wir, drei Meter vor uns, den gelben Schöpf Gottfrieds in den Händen eines tobenden Schnauzbartes.
Köster duckte sich und verschwand in dem Haufen. Ein paar Sekunden später ließ der Schnauzbart Gottfried los, warf mit einer Miene äußersten Erstaunens die Arme hoch und fiel wie ein entwurzelter Baum in die Menge zurück. Gleich darauf entdeckte ich Köster, der Lenz am Kragen hinter sich herschleppte.
Lenz wehrte sich. »Laß mich nur noch einen Augenblick hin, Otto«, keuchte er.
»Unsinn«, rief Köster, »die Schupo kommt sofort! Los, da hinten 'rauf.«
Wir liefen über den Hof, dem dunklen Seiteneingang zu. Es war keinen Augenblick zu früh. Im gleichen Moment schrillte jähes Pfeifen über den Hof, die schwarzen Tschakos der Schupo blitzten auf, und die Polizei riegelte den Hof ab. Wir rannten die Treppen hinauf, um nicht mit zur Wache geschleppt zu werden. Von einem Flurfenster aus sahen wir, wie es weiterging. Die Schupo arbeitete glänzend. Sie sperrte ab, trieb einen Keil in den Knäuel, riß die Haufen auseinander, löste sie auf und begann sofort abzutransportieren. Als ersten den verblüfften Zimmermann, der vergeblich etwas zu erklären suchte. Hinter uns schnappte eine Tür. Eine Frau im Hemd, mit bloßen, dünnen Beinen, eine Kerze in der Hand, steckte den Kopf heraus. »Bist du das?« fragte sie mürrisch.
»Nein«, sagte Lenz, der sich erholt hatte. Die Frau warf die Tür zu. Lenz leuchtete mit seiner Taschenlampe die Tür ab. Es war der Maurerpolier Gerhard Peschke, der hier erwartet wurde.
Unten wurde es still. Die Schupo zog ab, und der Hof wurde leer. Wir warteten noch etwas, dann gingen wir die Treppen hinunter. Hinter einer Tür weinte ein Kind. Es weinte leise und klagend im Dunkel.
Wir gingen durch den vorderen Hof. Der Astrologe stand verlassen vor seinen Sternkarten. »Ein Horoskop, die Herrschaften?« rief er. »Oder die Zukunft aus der Hand?«
»Immer los«, sagte Gottfried und hielt ihm die Hand hin.
Der Mann studierte eine Zeitlang. »Sie haben einen Herzfehler«, sagte er dann kategorisch. »Ihr Gefühl ist stark entwickelt, Ihre Verstandeslinie sehr kurz, dafür sind Sie musikalisch begabt. Sie träumen viel, aber Sie taugen nicht als Ehemann. Trotzdem sehe ich hier drei Kinder. Sie sind eine diplomatische Natur, neigen zur Verschlossenheit und werden etwa achtzig Jahre alt.«
»Stimmt«, erklärte Gottfried. »Das hat mein Fräulein Mutter auch schon immer gesagt: Wer böse ist, wird alt. Moral ist eine Erfindung der Menschen; nicht eine Konsequenz des Lebens.«
Er gab dem Mann sein Geld, und wir gingen weiter. Die Straße war leer. Eine schwarze Katze huschte vor uns her. Lenz zeigte hin. »Jetzt müßten wir eigentlich umkehren.«
»Laß man«, sagte ich, »wir haben vorhin eine weiße gesehen; das hebt sich auf.«
Wir gingen die Straße entlang. Ein paar Leute kamen uns auf der anderen Seite entgegen. Es waren vier junge Burschen. Einer trug hellgelbe, neue Ledergamaschen, die andern eine Art von Militärstiefeln. Sie blieben stehen und sahen zu uns herüber. »Da ist er!« rief plötzlich der mit den Gamaschen und lief schräg über die Straße auf uns zu. Im nächsten Augenblick krachten zwei Schüsse, der Bursche sprang weg, und alle vier rissen aus, so schnell sie konnten.
Ich sah, wie Köster zum Sprung ansetzte, aber dann in einer merkwürdigen Drehung abbog, die Arme ausstreckte, einen gepreßten, wilden Laut ausstieß und Gottfried Lenz aufzufangen versuchte, der schwer aufs Pflaster schlug.
Eine Sekunde dachte ich, er sei nur gefallen; dann sah ich das Blut. Köster riß ihm die Jacke auf, zerrte das Hemd weg — das Blut quoll dicht hervor. Ich preßte mein Taschentuch dagegen. »Bleib hier, ich hole den Wagen«, rief Köster und rannte los.
»Gottfried«, sagte ich, »hörst du mich?«
Sein Gesicht wurde grau. Die Augen waren halb geschlossen. Die Lider bewegten sich nicht. Ich hielt mit der einen Hand seinen Kopf, mit der anderen drückte ich das Taschentuch auf die blutende Stelle. Ich kniete neben ihm, ich lauschte auf sein Röcheln, seinen Atem, aber ich hörte nichts, lautlos war alles, die endlose Straße, die endlosen Häuser, die endlose Nacht — ich hörte nur leise klatschend das Blut auf das Pflaster fallen und wußte, daß das schon einmal so gewesen sein mußte und daß es nicht wahr sein konnte.
Köster raste heran. Er riß die Lehne des linken Sitzes nach hinten herum. Wir hoben Gottfried vorsichtig hoch und legten ihn auf die beiden Sitze. Ich sprang in den Wagen und Köster schoß los. Wir fuhren zur nächsten Unfallstelle. Köster bremste vorsichtig. »Sieh nach, ob ein Arzt da ist. Sonst müssen wir weiter.«
Ich lief hinein. Ein Sanitäter kam mir entgegen. »Ist ein Arzt da?« »Ja. Habt ihr jemand?« »Ja. Kommen Sie mit 'ran! Eine Tragbahre.« Wir hoben Gottfried auf die Bahre und trugen ihn hinein.
Der Arzt stand schon in Hemdsärmeln bereit. »Hierher!« Er zeigte auf einen flachen Tisch. Wir hoben die Bahre hinauf. Der Arzt zog eine Lampe herunter, dicht über den Körper.
»Was ist es?« — »Revolverschuß.«
Er nahm einen Bausch Watte, wischte das Blut fort, griff nach Gottfrieds Puls, horchte ihn ab und richtete sich auf. »Nichts mehr zu machen.«

Köster starrte ihn an. »Der Schuß sitzt doch ganz seitlich.
Es kann doch nicht schlimm sein!«
»Es sind zwei Schüsse!« sagte der Arzt.
Er wischte wieder das Blut weg. Wir beugten uns vor. Da sahen wir, daß schräg unter der stark blutenden Wunde eine zweite war — ein kleines, dunkles Loch in der Herzgegend.
»Er muß fast augenblicklich tot gewesen sein«, sagte der Arzt. Köster richtete sich auf. Er sah Gottfried an. Der Arzt bedeckte die Wunden mit Tampons und klebte Heftpflasterstreifen darüber. »Wollen Sie sich waschen?« fragte er mich.
»Nein«, sagte ich.
Gottfrieds Gesicht war jetzt gelb und eingefallen. Der Mund war etwas schiefgezogen, die Augen waren halb geschlossen, das eine etwas mehr als das andere. Er sah uns an. Er sah uns immerfort an.
»Wie ist es denn gekommen?« fragte der Arzt.
Niemand antwortete. Gottfried sah uns an. Er sah uns unverwandt an.
»Er kann hierbleiben«, sagte der Arzt.
Köster rührte sich. »Nein«, erwiderte er. »Wir nehmen ihn mit!«
»Das geht nicht«, sagte der Arzt. »Wir müssen die Polizei anrufen. Die Kriminalpolizei auch. Es muß doch sofort alles getan werden, um den Täter zu finden.«
»Den Täter?« Köster blickte den Arzt an, als verstünde er ihn nicht.
»Gut«, sagte er dann, »ich werde hinfahren und die Polizei holen.«
»Sie können telefonieren. Dann sind sie schneller hier.«
Köster schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Ich werde sie holen.«
Er ging hinaus, und ich hörte Karl anspringen. Der Arzt schob mir einen Stuhl hin. »Wollen Sie sich nicht solange setzen?«
»Danke«, sagte ich und blieb stehen. Das helle Licht lag immer noch auf Gottfrieds blutiger Brust. Der Arzt schob die Lampe etwas höher.
»Wie ist es denn gekommen?« fragte er nochmals.
»Ich weiß nicht. Es muß eine Verwechslung mit jemand gewesen sein.«
»War er im Krieg?« fragte der Arzt.
Ich nickte.
»Man sieht es an den Narben«, sagte er. »Und an dem zerschossenen Arm. Er ist mehrere Male verwundet worden.«
»Ja. Viermal.«
»Eine Gemeinheit«, sagte der Sanitäter. »Sind doch alles Lausebengels, die damals noch in den Windeln lagen.«
Ich erwiderte nichts. Gottfried sah mich an. Immerfort an.
Es dauerte lange, bis Köster wiederkam. Er war allein. Der Arzt legte die Zeitung weg, in der er gelesen hatte. »Sind die Beamten da?« fragte er.
Köster blieb stehen. Er hatte nicht gehört, was der Arzt gesagt hatte.
»Ist die Polizei da?« fragte der Arzt noch einmal.
»Ja«, erwiderte Köster. »Die Polizei. Wir müssen telefonieren, daß sie kommt.«
Der Arzt sah ihn an, sagte aber nichts und ging zum Telefon. Ein paar Minuten später kamen zwei Beamte. Sie setzten sich an einen Tisch, und einer von ihnen nahm Gottfrieds Personalien auf. Ich weiß nicht, aber es schien mir irrsinnig, zu sagen, wie er hieß und wann er geboren war und wo er wohnte, jetzt, wo er tot war. Ich starrte auf den schwärzlichen Bleistiftstummel, den der Beamte ab und zu mit den Lippen befeuchtete, und gab mechanisch Antwort.
Der andere Beamte begann ein Protokoll aufzusetzen. Köster machte die notwendigen Angaben. »Können Sie mir ungefähr sagen, wie der Täter aussah?« fragte der Beamte.
»Nein«, erwiderte Köster. »Ich habe nicht darauf geachtet.«
Ich blickte zu ihm hinüber. Ich dachte an die gelben Gamaschen und die Uniformen.
»Wissen Sie nicht, welcher politischen Partei er angehörte? Haben Sie nicht die Abzeichen oder die Uniform gesehen?«
»Nein«, sagte Köster. »Ich habe nichts gesehen vor den Schüssen. Und dann habe ich mich nur um...«, er stockte einen Augenblick, »um meinen Kameraden gekümmert.«
»Gehören Sie einer politischen Partei an?«
»Nein.«
»Ich meinte, weil Sie sagten, er wäre Ihr Kamerad...«
»Er ist mein Kamerad aus dem Krieg«, sagte Köster.
Der Beamte wandte sich mir zu. »Können Sie den Täter beschreiben?«
Köster sah mich fest an. »Nein«, sagte ich. »Ich habe auch nichts gesehen.«
»Merkwürdig«, sagte der Beamte.
»Wir waren im Gespräch und haben auf nichts geachtet. Es ging auch alles sehr schnell.«
Der Beamte seufzte. »Da ist wenig Aussicht, daß wir die Kerle kriegen.«
Er machte das Protokoll fertig. »Können wir ihn mitnehmen?« fragte Köster.
»Eigentlich...« Der Beamte blickte den Arzt an. »Die Todesursache ist einwandfrei festgestellt?«
Der Arzt nickte. »Ich habe den Schein schon ausgeschrieben.«
»Und wo ist das Geschoß? Ich muß das Geschoß mitnehmen.«
»Es sind zwei Steckschüsse. Ich müßte...« Der Arzt zögerte.
»Ich muß beide haben«, sagte der Beamte. »Ich muß sehen, ob sie aus der gleichen Waffe sind.«
»Ja«, erwiderte Köster auf einen Blick des Arztes.
Der Sanitäter rückte die Bahre zurecht und zog das Licht herunter. Der Arzt nahm seine Werkzeuge und fuhr mit einer Pinzette in die Wunden. Die erste Kugel fand er rasch; sie war nicht sehr tief. Bei der zweiten mußte er schneiden. Er zog die Gummihandschuhe ganz herauf und griff nach den Klammern und dem Messer. Köster trat rasch an die Bahre und drückte Gottfrieds Augen zu, die immer noch halb offenstanden. Ich wandte mich ab, als ich das leise Zischen des Messers hörte. Einen Augenblick lang wollte ich zuspringen und den Arzt beiseite stoßen, weil es in mir aufzuckte, Gottfried sei nur bewußtlos und der Arzt töte ihn jetzt erst wirklich — aber dann wußte ich es wieder. Wir hatten genug Tote gesehen, um es zu wissen.
»Das ist sie«, sagte der Arzt und richtete sich auf. Er wischte das Geschoß ab und gab es dem Beamten.
»Es ist das gleiche. Aus derselben Waffe, nicht wahr?«
Köster beugte sich vor und sah die kleinen, stumpfschimmernden Geschosse, die in der Hand des Beamten hin und her rollten, genau an.
»Ja«, sagte er.
Der Beamte wickelte sie in Papier und steckte sie in die Tasche.
»Es ist eigentlich nicht erlaubt«, sagte er dann, »aber wenn Sie ihn nach Hause nehmen wollen — der Tatbestand ist ja klar, nicht wahr, Herr Doktor?« Der Arzt nickte. »Sie sind ja auch Gerichtsarzt«, fuhr der Beamte fort, »also dann — wie Sie wollen — Sie müssen nur — es könnte sein, daß morgen noch eine Kommission kommt...«
»Ich weiß«, sagte Köster. »Wir werden alles genauso lassen.« Die Beamten gingen.
Der Arzt hatte die Wunden Gottfrieds wieder bedeckt und verklebt. »Wie wollen Sie es machen?« fragte er. »Sie können die Bahre mitnehmen. Sie brauchen sie morgen nur im Laufe des Tages hierher zurückzuschicken.«
»Ja, danke«, sagte Köster. »Komm, Robby.«
»Ich kann Ihnen helfen«, sagte der Sanitäter.
Ich schüttelte den Kopf. »Es geht schon.«
Wir nahmen die Bahre, trugen sie hinaus und legten sie auf die beiden linken Sitze, die mit der heruntergeklappten Lehne eine Ebene bildeten. Der Sanitäter und der Arzt kamen heraus und sahen zu. Wir deckten Gottfrieds Mantel über ihn und fuhren ab. Nach einer Weile wandte sich Köster zu mir um. »Wir fahren die Straße noch einmal ab. Ich habe es vorhin schon getan. Aber da war es zu früh. Vielleicht sind sie jetzt unterwegs.«
Es fing langsam an zu schneien. Köster fuhr den Wagen fast unhörbar. Er kuppelte aus, und oft stellte er auch die Zündung ab. Er wollte nicht gehört werden, obschon die vier, die wir suchten, ja nicht wußten, daß wir den Wagen hatten. Dann glitten wir lautlos wie ein weißes Gespenst durch den immer stärker fallenden Schnee. Ich holte mir aus dem Werkzeug einen Hammer heraus und legte ihn neben mich, um sofort aus dem Wagen springen und zuschlagen zu können. Wir kamen die Straße entlang, in der es passiert war. Unter der Laterne war noch der schwarze Fleck des Blutes. Köster schaltete das Licht aus. Wir glitten dicht an der Bordkante entlang und beobachteten die Straße. Niemand war zu sehen. Nur aus einer erleuchteten Kneipe hörten wir Stimmen.
Köster hielt an der Kreuzung. »Bleib hier«, sagte er, »ich will in der Kneipe nachsehen.«
»Ich gehe mit«, erwiderte ich.
Er sah mich mit einem Blick an, wie ich ihn aus der Zeit kannte, als er allein auf Patrouille ging. »Ich werde es nicht in der Kneipe abmachen«, sagte er. »Da kann er mir doch noch entwischen. Ich will nur sehen, ob er da ist. Dann werden wir auf ihn warten. Bleib du hier bei Gottfried.«
Ich nickte, und er verschwand im Schneegestöber. Die Flocken flogen mir ins Gesicht und schmolzen auf der Haut. Ich konnte es plötzlich nicht ertragen, daß Gottfried zugedeckt war, als ob er nicht mehr zu uns gehörte, und ich schob den Mantel von seinem Kopf fort. Der Schnee fiel jetzt auch auf sein Gesicht, auf seine Augen und seinen Mund, aber er schmolz nicht. Ich nahm mein Taschentuch, wischte ihn weg und deckte den Mantel wieder darüber.
Köster kam zurück. »Nichts gewesen?« — »Nein«, sagte er.
Er stieg ein. »Wir fahren jetzt noch die andern Straßen ab. Ich habe das Gefühl, daß wir ihnen jeden Moment begegnen müssen.«
Der Wagen brüllte auf und wurde sofort wieder abgedrosselt. Leise schlichen wir durch die weiße, wirbelnde Nacht, von Straße zu Straße, in den Kurven hielt ich Gottfried fest, damit er nicht herunterrutschte, und ab und zu hielten wir hundert Meter hinter einer Kneipe, und Köster lief in langen Sprüngen zurück, um hineinzusehen. Er war von einer finsteren, kalten Besessenheit, er dachte nicht daran, Gottfried erst fortzubringen, zweimal setzte er dazu an; aber dann kehrte er wieder um, weil er glaubte, gerade in diesem Augenblick könnten die vier unterwegs sein.
Plötzlich sahen wir weit vor uns, auf einer langen, kahlen Straße, eine dunkle Gruppe von Menschen. Köster schaltete sofort die Zündung ab, und lautlos, ohne Licht, kamen wir heran. Die Leute hörten uns nicht. Sie sprachen miteinander. »Es sind vier«, flüsterte ich Köster zu. Im gleichen Moment brüllte der Wagen auf, durchraste die letzten zweihundert Meter, sprang halb auf das Trottoir und hielt knirschend und schleudernd einen Meter neben den vier aufschreienden Leuten. Köster hing halb aus dem Wagen, sein Körper war ein Stahlbogen, bereit, loszuspringen, und sein Gesicht war unerbittlich wie der Tod.
Es waren vier harmlose, ältere Leute. Einer von ihnen war betrunken. Sie begannen zu schimpfen. Köster erwiderte nichts. Wir fuhren weiter. »Otto«, sagte ich, »wir werden ihn heute nicht kriegen. Ich glaube nicht, daß er sich auf die Straße traut.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte er nach einer Weile und wendete den Wagen. Wir fuhren zu Kösters Wohnung. Sein Zimmer hatte einen eigenen Eingang, so daß wir niemand zu wecken brauchten. Als wir ausstiegen, sagte ich: »Weshalb wolltest du der Polizei nicht sagen, wie er aussah? Wir hätten doch Hilfe beim Suchen gehabt. Und gesehen haben wir ihn doch ziemlich genau.«
Köster blickte mich an. »Weil wir das allein abmachen werden, ohne Polizei. Glaubst du denn« — seine Stimme wurde ganz leise, unterdrückt und schrecklich —, »ich werde ihn der Polizei übergeben? Damit er ein paar Jahre Gefängnis bekommt? Du weißt doch, wie alle diese Prozesse enden! Diese Burschen wissen, daß sie milde Richter finden! Das gibt es nicht! Ich sage dir, und wenn die Polizei ihn fände, ich würde erklären, er wäre es nicht, damit ich ihn wiederbekäme! Gottfried tot und der am Leben! Das gibt es nicht!«
Wir nahmen die Bahre von den Sitzen und trugen sie durch das Schneegestöber und den Wind hinein, und es war, als wären wir in Flandern und brächten einen toten Kameraden aus dem Schützengraben zurück nach hinten.
Wir kauften einen Sarg und ein Grab auf dem Gemeindefriedhof. Es war ein klarer, sonniger Tag, als er beerdigt wurde. Wir machten den Sarg selbst zu und trugen ihn die Treppen hinunter. Es gingen nicht viele Leute mit. Ferdinand, Valentin, Alfons, der Barmixer Fred, Georgie, Jupp, Frau Stoß, Gustav, Stefan Grigoleit und Rosa. Vor dem Friedhofstor mußten wir eine Zeitlang warten. Es waren noch zwei Trauerzüge vor uns da, die durchgelassen werden mußten. Einer mit einem schwarzen Beerdigungsauto, ein anderer mit schwarz und silbern behangenen Pferden und einer endlosen Reihe von Leidtragenden, die sich lebhaft unterhielten.
Wir hoben den Sarg vom Wagen und ließen ihn selbst mit den Seilen hinunter. Der Totengräber war zufrieden damit, denn er hatte bei den andern Gräbern genug zu tun. Wir hatten auch einen Geistlichen bestellt. Wir wußten zwar nicht, was Gottfried dazu gesagt hätte, aber Valentin war dafür gewesen. Wir hatten den Pastor allerdings gebeten, keine Rede zu halten. Er sollte nur eine Bibelstelle vorlesen. Der Geistliche war ein alter, kurzsichtiger Mann. Als er an das Grab trat, stolperte er über einen Erdklumpen und wäre hineingestürzt, wenn Köster und Valentin ihn nicht gehalten hätten. Bei dem Fall aber rutschte ihm die Bibel fort und die Brille, die er gerade aufsetzen wollte. Sie fielen in das Grab. Bestürzt starrte der Geistliche hinterher.
»Lassen Sie es gut sein, Herr Pfarrer«, sagte Valentin, »wir ersetzen Ihnen die Sachen.«
»Es ist nicht wegen des Buches«, erwiderte der Geistliche leise, »aber die Brille brauche ich.«
Valentin brach einen Zweig von der Friedhofshecke. Dann kniete er am Grabe nieder, und es gelang ihm, die Brille an einem Bügel zu fassen und sie aus den Kränzen herauszuholen. Sie war aus Gold. Vielleicht hatte der Pfarrer sie deshalb wiederhaben wollen. Die Bibel war seitlich am Sarge vorbeigerutscht; man hätte ihn herausholen und hinuntersteigen müssen, um sie zu finden. Das wollte auch der Geistliche nicht. Er stand verlegen da. »Soll ich statt dessen einige Worte sprechen?« fragte er.
»Lassen Sie nur, Herr Pfarrer«, sagte Ferdinand. »Er hat ja nun da unten das ganze Testament.«
Die aufgeworfene Erde roch stark. In einer der Schollen kroch ein weißer Engerling. Wenn die Erde wieder hinuntergeworfen war, würde er unten weiterleben, sich verpuppen und im nächsten Jahre die Scholle durchbrechen und ans Licht gelangen. Gottfried aber war tot. Er war ausgelöscht. Wir standen an seinem Grabe, wir wußten, daß sein Körper, sein Haar, seine Augen noch da waren, verwandelt schon, aber doch noch da, und daß er trotzdem schon fort war und nie wiederkam. Es war nicht zu begreifen. Unsere Haut war warm, unsere Gedanken arbeiteten, unser Herz pumpte Blut durch die Adern, wir waren da wie vorher, wie gestern noch, uns fehlte nicht plötzlich ein Arm, wir waren nicht blind oder stumm geworden, alles war wie immer, gleich würden wir fortgehen und Gottfried Lenz würde zurückbleiben und niemals nachkommen. Es war nicht zu begreifen.
Die Schollen polterten auf den Sarg. Der Totengräber hatte uns Spaten gegeben und nun gruben wir ihn ein, Valentin, Köster, Alfons, ich, wie wir schon manchen Kameraden eingegraben hatten. Dröhnend schlug mir ein altes Soldatenlied durch den Schädel, ein altes, trauriges Soldatenlied, das er oft gesungen hatte — »Argonnerwald, Argonnerwald — ein stiller Friedhof bist du bald...«
Alfons hatte ein einfaches, schwarzes Holzkreuz mitgebracht, ein Kreuz, wie sie auf den endlosen Gräberreihen in Frankreich zu Hunderttausenden stehen. Wir setzten es an das Kopfende des Grabes.
»Kommt«, sagte Valentin schließlich heiser.
»Ja«, sagte Köster. Aber er blieb stehen. Wir blieben alle stehen. Valentin sah uns der Reihe nach an. »Wozu?« sagte er langsam. »Wozu nur? Verflucht!«
Keiner antwortete.
Valentin machte eine müde Bewegung. »Kommt.«
Wir gingen über die Kieswege, dem Ausgang zu. Am Tor erwarteten uns Fred, Georgie und die andern. »Er konnte so wunderbar lachen«, sagte Stefan Grigoleit, und die Tränen flössen über sein hilfloses, zorniges Gesicht.
Ich sah mich um. Niemand kam hinter uns her.

26

XXV

Im Februar saß ich mit Köster zum letztenmal in unserer Werkstatt. Wir hatten sie verkaufen müssen, und jetzt warteten wir auf den Auktionator, der die Einrichtungsgegenstände und die Droschke versteigern sollte. Köster hatte Aussicht, als Rennfahrer bei einer kleineren Autofirma im Frühjahr unterzukommen. Ich blieb im Café International und wollte versuchen, tagsüber noch irgendeine Arbeit dazuzufinden, um mehr zu verdienen.
Auf dem Hof versammelten sich allmählich ein paar Leute. Der Auktionator kam. »Gehst du 'raus, Otto?« fragte ich.
»Wozu? Es steht ja alles draußen, und er weiß Bescheid.«
Köster sah müde aus. Man konnte es bei ihm nicht leicht merken, aber wenn man ihn genau kannte, wußte man es. Sein Gesicht sah dann eher gespannter und härter aus als sonst. Er war Abend für Abend unterwegs, immer in derselben Gegend. Er kannte längst den Namen des Burschen, der Gottfried erschossen hatte. Er konnte ihn nur nicht finden, weil der andere, aus Furcht vor der Polizei, sein Quartier gewechselt hatte und sich irgendwo verborgen hielt. Alfons hatte das alles herausbekommen. Er wartete ebenfalls. Es war allerdings möglich, daß der andere gar nicht in der Stadt war. Daß Köster und Alfons hinter ihm her waren, wußte er nicht. Sie warteten darauf, daß er zurückkam, wenn er sich sicher fühlte.
»Ich werde mal 'rausgehen und zusehen, Otto«, sagte ich.
»Gut.«
Ich ging auf den Hof. Unsere Werkzeugbänke und die übrigen Sachen waren in der Mitte aufgebaut. Rechts an der Mauer stand das Taxi. Wir hatten es sauber gewaschen. Ich betrachtete die Polster und die Reifen. Unsere brave Milchkuh hatte Gottfried es immer genannt. War gar nicht so einfach, sich davon zu trennen.
Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich wandte mich überrascht um. Ein junger, unangenehm forscher Mann in einem Gürtelmantel stand vor mir. Er zwinkerte mit den Augen und schwang einen Bambusstock durch die Luft. »Hallo! Wir kennen uns doch!«
Eine Ahnung stieg in mir auf. »Guido Thiess von der Augeka!«
»Na also!« erklärte das Gürteltier selbstzufrieden. »Haben uns damals doch bei derselben Klamotte getroffen. Sie hatten allerdings einen ekelhaften Kerl bei sich. Beinah hätte ich ihm ein paar 'reingehauen.«
Ich verzog unwillkürlich das Gesicht, als ich daran dachte, daß er Köster beinahe ein paar 'reingehauen hätte. Thiess deutete das als ein Lächeln und zeigte seinerseits ein ziemlich schadhaftes Gebiß. »Na, Schwamm drüber, Guido ist nicht nachtragend. Haben ja damals einen enormen Preis für den Großvater gezahlt. War denn da noch was drin für Sie?«
»Ja«, sagte ich. »Der Wagen ist gut.«
Thiess meckerte. »Wären Sie mir gefolgt, hätten Sie mehr gehabt. Und ich auch. Na, Schwamm drüber! Vergeben und vergessen! Aber heute können wir Kippe machen. Für fünfhundert Mark steigern wir den Kasten glatt ein. Ist ja kein Bein da, um zu bieten. Einverstanden?«
Ich begriff. Er glaubte, wir hätten den Wagen damals weiterverkauft, und er wußte nicht, daß uns die Werkstatt gehörte. Im Gegenteil, er nahm an, wir wollten den Wagen jetzt wiederkaufen.
»Der Wagen ist heute noch fünfzehnhundert wert«, sagte ich. »Die Taxikonzession nicht einmal eingeschlossen.«
»Eben«, erklärte Guido eifrig. »Wir gehen bis fünfhundert, das heißt ich. Kriegen wir den Zuschlag, zahle ich Ihnen dreihundertfünfzig bar auf die Hand.«
»Kann ich nicht machen«, sagte ich. »Ich habe einen Kunden für den Wagen.«
»Immerhin...« Er wollte neue Vorschläge machen.
»Hat keinen Zweck...« Ich ging zur Mitte des Hofes hinüber. Bis zwölfhundert hatte er freie Hand, das wußte ich.
Der Auktionator fing an, die Sachen auszubieten. Zuerst die Einrichtungsgegenstände. Sie brachten nicht viel. Das Werkzeug auch nicht. Dann kam die Droschke heran. Das erste Gebot war dreihundert Mark.
»Vierhundert«, sagte Guido.
»Vierhundertfünfzig«, bot nach langem Zögern ein Mann in einer Schlosserbluse.
Guido ging auf fünfhundert. Der Auktionator fragte herum. Der Mann mit der Bluse schwieg. Guido zwinkerte mir zu und hob vier Finger hoch. »Sechshundert«, sagte ich.
Guido schüttelte den Kopf und ging auf siebenhundert. Ich bot weiter. Guido ging verzweifelt mit. Bei tausend machte er mir geradezu beschwörende Zeichen und deutete mit den Fingern, ich könne noch hundert verdienen. Er bot tausendzehn. Bei elfhundert wurde er rot und feindselig, quetschte aber doch elfhundertzehn hervor. Ich ging auf elfhundertneunzig und erwartete von ihm ein Gebot von zwölfhundert. Dann wollte ich aufhören.
Aber Guido war jetzt wütend. Er ärgerte sich, daß er nach seiner Meinung herausgedrängt worden war, und bot plötzlich dreizehnhundert. Ich überlegte rasch. Hätte er weiter wirklich kaufen wollen, so hätte er todsicher bei zwölfhundert aufgehört. Jetzt wollte er mich aus Rache nur hochtreiben. Er glaubte nach unserm Gespräch, ich hätte fünfzehnhundert als Grenze und sah keine Gefahr für sich.
»Dreizehnhundertzehn«, sagte ich.
»Vierzehnhundert«, bot Guido rasch.
»Vierzehnhundertzehn«, erwiderte ich zögernd. Ich hatte Angst, hängen zu bleiben.
»Vierzehnhundertneunzig!« Guido sah mich triumphierend und höhnisch an. Er glaubte, mir die Suppe gründlich versalzen zu haben.
Ich hielt seinen Blick aus und schwieg. Der Auktionator fragte einmal, zweimal, dann hob er den Hammer. Im Augenblick, als er Guido den Wagen zuschlug, wechselte dessen Gesicht von Triumph in ratloses Erstaunen.
Fassungslos kam er zu mir heran. »Ich dachte, Sie wollten...«
»Nein«, sagte ich.
Er erhob sich und kratzte sich den Kopf. »Verdammt! Wird schwer sein, meiner Firma das beizubringen. Dachte, Sie" gingen bis fünfzehnhundert. Immerhin — dieses Mal habe ich Ihnen wenigstens den Kasten weggeschnappt!«
»Das sollten Sie doch auch«, sagte ich.
Guido verstand nicht. Erst als er Köster kommen sah, begriff er auf einmal alles und fuhr sich in die Haare. »Herrgott, der Wagen gehörte Ihnen? Ich Esel, ich wahnsinniger Esel! 'reingelegt! Auf die Latte genommen! Mensch, Guido, das muß dir passieren! Auf den ältesten Trick 'reinfliegen. Na, Schwamm drüber. Die gerissensten Knaben fliegen immer gerade auf die bekanntesten Sachen 'rein! Holen wir beim nächstenmal schon wieder 'raus!«
Er setzte sich ans Steuer und fuhr ab. Wir blickten dem Wagen nach, und uns war nicht besonders zumute.
Nachmittags kam Mathilde Stoß. Wir mußten mit ihr noch für den letzten Monat abrechnen. Köster gab ihr das Geld und schlug vor, sich bei dem neuen Besitzer der Werkstatt wieder um den Posten als Scheuerfrau zu bemühen. Wir hatten auch Jupp bei ihm untergebracht. Aber Mathilde schüttelte den Kopf. »Nee, Herr Köster, ich mache Schluß. Die Knochen werden zu steif.«
»Was wollen Sie denn anfangen?« fragte ich.
»Ich geh' zu meiner Tochter. Die ist in Bunzlau verheiratet. Kennen Sie Bunzlau?«
»Nein, Mathilde.«
»Aber Herr Köster kennt es?«
»Auch nicht, Frau Stoß.«
»Komisch«, sagte Mathilde, »kein Mensch kennt Bunzlau. Habe schon so viele danach gefragt. Dabei ist meine Tochter seit zwölf Jahren da verheiratet. Mit einem Kanzleisekretär.«
»Dann wird es Bunzlau auch geben. Da können Sie ganz sicher sein. Wenn ein Kanzleisekretär da wohnt.«
»Das schon. Aber es ist doch trotzdem komisch, daß keiner es kennt, was?«
Wir gaben das zu. »Weshalb waren Sie denn in all der Zeit selbst nicht einmal da?« fragte ich.
Mathilde schmunzelte. »Da war so eine Sache. Aber nu soll ich zu die Kinder kommen. Sie haben schon vier. Und Klein-Eduard soll auch mitkommen.«
»Ich glaube, in der Gegend von Bunzlau gibt's sehr guten Schnaps«, sagte ich. »Pflaumenschnaps oder so was...«
Mathilde wehrte ab. »Das war ja die Sache. Mein Schwiegersohn ist nämlich Abstinent. Das sind Leute, die nichts trinken.«
Köster holte die letzte Flasche aus den leeren Regalen. »Na, Frau Stoß, dann müssen wir ja einen Abschiedsschnaps zusammen trinken.«
»Bin dabei«, sagte Mathilde.
Köster stellte die Gläser auf den Tisch und schenkte ein. Mathilde goß den Rum mit einer Geschwindigkeit weg, als flösse er durch ein Sieb. Ihre Oberlippe zuckte heftig, und der Schnurrbart bebte.
»Noch einen?« fragte ich.
»Ich sage nicht nein.«
Sie bekam noch ein großes Glas voll, dann verabschiedete sie sich.
»Alles Gute in Bunzlau«, sagte ich.
»Ja, danke auch vielmals. Aber komisch ist es doch, daß es keiner kennt, wie?«
Sie schaukelte hinaus. Wir standen noch eine Weile in der leeren Werkstatt herum. »Könnten eigentlich auch gehen«, sagte Köster.
»Ja«, erwiderte ich. »Haben hier ja nichts mehr zu tun.«
Wir schlössen die Tür ab und gingen hinaus. Dann holten wir Karl. Er stand jetzt in einer Garage in der Nähe und war nicht mit verkauft worden. Wir fuhren zur Bank und zur Post, und Köster zahlte das Geld an den Konkursverwalter ein. »Ich gehe jetzt schlafen«, sagte er, als er wieder herauskam. »Bist du nachher da?«
»Ich habe mich heute für den ganzen Abend frei gemacht.«
»Gut, ich komme dann so um acht.«
Wir aßen in einer kleinen Kneipe vor der Stadt und fuhren dann wieder hinein. Als wir in die ersten Straßen kamen, platzte uns ein Vorderreifen. Wir wechselten ihn aus. Karl war lange nicht gewaschen worden, und ich wurde ziemlich schmutzig dabei. »Müßte mir mal die Hände waschen, Otto«, sagte ich.
In der Nähe war ein ziemlich großes Café. Wir gingen hinein und setzten uns an einen Tisch in der Nähe des Eingangs. Zu unserm Erstaunen war das Lokal fast ganz besetzt. Eine Damenkapelle spielte, und es herrschte großer Betrieb. Die Musik trug bunte Papiermützen, eine Anzahl Gäste war kostümiert, Papierschlangen flogen von Tisch zu Tisch, Luftballons stiegen auf, die Kellner rannten mit hochbeladenen Tabletts umher, und der ganze Raum war voll Bewegung, Gelächter und Lärm.
»Was ist denn hier los?« fragte Köster.
Ein blondes Mädchen neben uns überschüttete uns mit einer Wolke Konfetti. »Wo kommen Sie denn her?« lachte sie. »Wissen Sie nicht, daß heute Faschingsanfang ist?«
»Ach so«, sagte ich. »Na, dann werde ich mir mal die Hände waschen.«
Ich mußte das ganze Lokal durchqueren, um zu den Waschräumen zu gelangen. Eine Weile wurde ich aufgehalten durch einige Leute, die betrunken waren und eine Frau auf den Tisch heben wollten, damit sie singen sollte. Die Frau wehrte sich kreischend, dabei fiel der Tisch um und mit dem Tisch die ganze Gesellschaft. Ich wartete, bis der Durchgang frei wurde — aber plötzlich war es mir, als hätte ich einen elektrischen Schlag erhalten. Ich stand steif und erstarrt da, das Lokal versank, der Lärm, die Musik, nichts war mehr da, undeutliche, huschende Schatten waren es nur noch, aber deutlich, ungeheuer scharf und klar blieb ein Tisch, ein einziger Tisch und an dem Tisch ein junger Mensch, mit einer Narrenkappe schief auf dem Kopf, einen Arm um ein angetrunkenes Mädchen gelegt, glasige, dumme Augen, sehr schmale Lippen, und unter dem Tisch hellgelbe, auffallende, glänzend geputzte Ledergamaschen...
Ein Kellner stieß mich an. Ich ging wie betrunken weiter und blieb stehen. Mir war glühend heiß, aber ich zitterte am ganzen Körper. Meine Hände waren klatschnaß. Ich sah jetzt auch die andern Leute am Tisch. Ich hörte, daß sie im Chor mit herausfordernden Gesichtern irgendein Lied sangen und im Takt dazu mit den Biergläsern auf den Tisch klopften. Wieder stieß mich jemand an. »Versperren Sie doch nicht die Passage«, knurrte er.
Ich ging mechanisch weiter, ich fand die Waschräume, ich wusch mir die Hände, und ich merkte es erst, als ich mir die Haut fast verbrüht hatte. Dann ging ich zurück.
»Was hast du?« fragte Köster.
Ich konnte nicht antworten. »Ist dir schlecht?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf und sah nach dem Tisch nebenan, von wo das blonde Mädchen herüberschielte. Plötzlich wurde Köster blaß. Seine Augen verengten sich. Er beugte sich vor.
»Ja?« fragte er ganz leise.
»Ja«, erwiderte ich.
»Wo?«
Ich blickte in die Richtung.
Köster erhob sich langsam. Es war, als ob eine Schlange sich aufrichtete. »Achtung«, flüsterte ich. »Nicht hier, Otto!«
Er wehrte mit einer kurzen Handbewegung ab und ging langsam vorwärts. Ich hielt mich bereit, hinter ihm her zu stürzen. Eine Frau stülpte ihm eine grünrote Papiermütze auf und hängte sich an ihn. Sie fiel ab, ohne daß er sie berührt hätte, und starrte ihm nach. Er ging in einem flachen Bogen durch das Lokal und kehrte zurück.
»Nicht mehr da«, sagte er.
Ich stand auf und blickte durch den Saal. Köster hatte recht.
»Glaubst du, daß er mich erkannt hat?« fragte ich.
Köster zuckte die Achseln. Er bemerkte jetzt erst die Papiermütze auf seinem Kopf und streifte sie ab. »Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »Ich bin doch höchstens ein, zwei Minuten im Waschraum gewesen.«
»Du warst über eine Viertelstunde weg.«
»Was?« Ich sah noch einmal zu dem Tisch hinüber. »Die andern sind auch weg. Da war noch ein Mädchen mit ihnen, das ist auch nicht mehr da. Wenn er mich erkannt hätte, wäre er doch bestimmt allein verschwunden.«
Köster winkte dem Kellner. »Gibt es hier noch einen zweiten Ausgang?«
»Ja, drüben, auf der andern Seite, nach der Hardenbergstraße.«
Köster zog ein Geldstück aus der Tasche und gab es dem Kellner. »Komm«, sagte er.
»Schade«, sagte das blonde Mädchen am Nebentisch und lächelte. »So ernste Kavaliere.«
Der Wind draußen schlug uns entgegen. Er schien eisig zu sein nach dem heißen Qualm des Cafes. »Geh nach Hause«, sagte Köster.
»Es waren mehrere«, erwiderte ich und stieg zu ihm ein.
Der Wagen schoß los. Wir kämmten rund um das Café sämtliche Straßen durch, immer weiter, aber wir sahen nichts. Endlich hielt Köster an. »Entwischt«, sagte er. »Aber das macht nichts. Wir werden ihn jetzt irgendwann kriegen.«
»Otto«, sagte ich. »Wir sollten es lassen.«
Er sah mich an. »Gottfried ist tot«, sagte ich und wunderte mich selbst darüber, was ich redete. »Er wird nicht wieder lebendig davon.«
Köster sah mich immer noch an. »Robby«, erwiderte er langsam, »ich weiß nicht mehr, wieviel Menschen ich getötet habe. Aber ich weiß noch, wie ich einen jungen Engländer abgeschossen habe. Er hatte eine Ladehemmung und konnte nichts mehr machen. Ich war mit meiner Maschine ein paar Meter hinter ihm und sah sein erschrockenes, kindliches Gesicht mit der Angst in den Augen ganz genau, es war sein erster Flug, das stellten wir nachher fest, und er war knapp achtzehn Jahre alt, und in dieses erschrockene, hilflose, hübsche Kindergesicht habe ich auf ein paar Meter Entfernung eine Garbe mit meinem Maschinengewehr gejagt, daß der Schädel platzte wie ein Hühnerei. Ich kannte den Jungen nicht, und er hatte mir nichts getan. Es hat damals länger gedauert als sonst, bis ich darüber weggekommen bin und bis ich mein Gewissen zugestampft hatte mit diesem verdammten: Krieg ist Krieg. Aber ich sage dir, wenn ich den, der Gottfried umgebracht hat, der ihn wie einen Hund niedergeschossen hat ohne Grund, nicht auch umbringe, dann war das mit dem Engländer ein furchtbares Verbrechen, verstehst du das?«
»Ja«, sagte ich.
»Und jetzt geh nach Hause. Ich muß sehen, daß es zu Ende kommt. Es ist wie eine Mauer. Ich kann nicht weiter, ehe sie nicht weg ist.«
»Ich gehe nicht nach Hause, Otto. Wenn es so ist, wollen wir zusammenbleiben.«
»Unsinn«, sagte er ungeduldig. »Ich kann dich nicht brauchen.« Er hob die Hand, als er sah, daß ich reden wollte. »Ich werde schon aufpassen! Ich werde ihn allein treffen, ohne die andern, ganz allein! Hab keine Angst.«
Er schob mich ungeduldig vom Sitz und raste sofort davon. Ich wußte, daß ihn nichts mehr aufhalten konnte. Ich wußte auch, weshalb er mich nicht mitgenommen hatte. Wegen Pat. Gottfried hätte er mitgenommen.
Ich ging zu Alfons. Er war der einzige, mit dem ich sprechen konnte. Ich wollte mit ihm beraten, ob wir etwas tun könnten. Aber Alfons war nicht da. Ein verschlafenes Mädchen sagte mir, er sei vor einer Stunde zu einer Versammlung gegangen. Ich setzte mich an einen Tisch, um zu warten.
Das Lokal war leer. Nur eine kleine Birne brannte über dem Schanktisch. Das Mädchen hatte sich wieder hingesetzt und schlief weiter. Ich dachte an Otto und an Gottfried, ich blickte aus dem Fenster auf die Straße, die jetzt vom langsam über die Dächer steigenden Vollmond erhellt wurde, ich dachte an das Grab mit dem schwarzen Holzkreuz und dem Stahlhelm darüber, und plötzlich merkte ich, daß ich weinte. Ich wischte die Tropfen weg. Nach einiger Zeit hörte ich rasche, leise Schritte im Hause. Die Tür, die zum Hof führte, öffnete sich, und Alfons trat herein. Sein Gesicht glänzte von Schweiß.
»Ich bin's, Alfons«, sagte ich.
»Komm her, rasch!«
Ich folgte ihm in das Zimmer rechts hinter dem Schankraum. Alfons ging an einen Schrank und holte zwei alte Militärverbandspäckchen heraus. »Kannst mich mal verbinden«, sagte er und zog geräuschlos die Hose aus.
Er hatte einen Riß am Oberschenkel. »Das sieht aus wie ein Streifschuß«, sagte ich.
»Ist es auch«, knurrte Alfons. »Los, verbinde schon!«
»Alfons«, sagte ich und richtete mich auf. »Wo ist Otto?«
»Wie soll ich wissen, wo Otto ist«, murrte er und preßte die Wunde aus.
»Wart ihr nicht zusammen?«
»Nein.«
»Du hast ihn nicht gesehen?«
»Keine Ahnung. Fasere das zweite Päckchen auseinander und leg es drauf. Ist nur 'ne Schramme.«
Er beschäftigte sich weiter brummend mit seiner Wunde.
»Alfons«, sagte ich, »wir haben den — du weißt schon, mit Gottfried —, wir haben ihn heute abend gesehen, und Otto ist hinter ihm her.«
»Was? Otto?« Er wurde sofort aufmerksam. »Wo ist er denn? Hat doch keinen Sinn mehr! Er muß weg!«
»Er geht nicht weg.«
Alfons warf die Schere beiseite. »Fahr hin! Weißt du, wo er ist? Er soll verschwinden. Sag ihm, daß das mit Gottfried fertig ist. Habe früher Bescheid gewußt als ihr! Siehst es ja! Hat geschossen, aber ich habe ihm die Hand 'runtergeschlagen. Dann habe ich geschossen. Wo ist Otto?«
»Irgendwo um die Mönkestraße 'rum.«
»Gott sei Dank! Da wohnt er ja längst nicht mehr. Aber schaff Otto trotzdem weg.«
Ich ging zum Telefon und rief den Taxistand an, wo Gustav sich gewöhnlich aufhielt. Er war da. »Gustav«, sagte ich, »kannst du mal zur Ecke Wiesenstraße und Bellevueplatz kommen? Schnell? Ich warte da.«
»Gemacht. Bin in zehn Minuten da.«
Ich hängte den Hörer ein und ging zu Alfons zurück. Er zog sich eine andere Hose an. »Habe nicht gewußt, daß ihr unterwegs wart«, sagte er. Sein Gesicht war immer noch naß.
»Wäre besser gewesen, ihr hättet irgendwo gesessen. Wegen des Alibis. Könnte ja sein, daß sie euch danach fragen. Man weiß nie...«
»Denk lieber an dich«, sagte ich.
»Ach wo!« Er sprach schneller als sonst. »War allein mit ihm. Habe im Zimmer auf ihn gewartet. War in einer Wohnlaube. Ringsum keine Nachbarn. Außerdem Notwehr. Er schoß sofort, als er 'reinkam. Brauche kein Alibi. Kann ein Dutzend haben, wenn ich will.« Er sah mich an. Er saß auf einem Stuhl, das nasse, breite Gesicht mir zugewandt, die Haare verschwitzt, den großen Mund schief verzogen, und seine Augen waren fast unerträglich, so viel Qual, Schmerz und Liebe lagen plötzlich nackt und hoffnungslos darin. »Nun wird Gottfried Ruhe haben«, sagte er leise und heiser. »Hatte das Gefühl, daß er keine Ruhe hatte vorher.«
Ich stand stumm vor ihm. »Geh jetzt«, sagte er.
Ich ging durch die Wirtsstube hinaus. Das Mädchen schlief immer noch. Es atmete laut. Draußen war der Mond hochgestiegen, und es war sehr hell. Ich ging zum Bellevueplatz. Die Fenster der Häuser glänzten im Mondlicht wie silberne Spiegel. Der Wind hatte sich gelegt. Es war ganz still.
Gustav kam ein paar Minuten später. »Was ist los, Robert?« fragte er.
»Unser Wagen ist uns gestohlen worden heute abend. Jetzt habe ich gehört, er wäre in der Gegend der Mönkestraße gesehen worden. Wollen wir mal hinfahren?«
»Aber klar!« Gustav wurde eifrig. »Was da augenblicklich alles geklaut wird! Jeden Tag ein paar Wagen. Aber meistens fahren sie ja nur damit 'rum, bis das Benzin zu Ende ist, und lassen sie dann stehen.«
»Ja, so wird's mit unserm auch wohl sein.«
Gustav erzählte mir, daß er bald heiraten wolle. Es sei was Kleines unterwegs, da helfe alles nichts. Wir fuhren durch die Mönkestraße und dann durch die Querstraßen. »Da ist er!« rief Gustav plötzlich. Der Wagen stand in einer versteckten, dunklen Seitengasse, Ich stieg aus, nahm meinen Schlüssel und schaltete die Zündung ein. »Alles in Ordnung, Gustav«, sagte ich. »Danke schön, daß du mich hergebracht hast.«
»Wollen wir nicht noch irgendwo einen trinken?« fragte er.
»Nein, heute nicht. Morgen. Ich muß jetzt rasch los.«
Ich griff in die Tasche, um ihm die Fahrt zu bezahlen. »Bist du verrückt?« fragte er.
»Also danke, Gustav. Laß dich nicht aufhalten. Auf Wiedersehen.«
»Wie war's, wenn wir aufpaßten, um den Knaben zu schnappen, der ihn geklaut hat?«
»Nein, nein, der ist sicher längst weg.« Ich war auf einmal rasend ungeduldig. »Auf Wiedersehen, Gustav.«
»Hast du auch noch Benzin?«
»Ja, genug. Habe schon nachgesehen. Also gute Nacht.«
Er fuhr ab. Ich wartete eine Weile, dann fuhr ich hinterher, erreichte die Mönkestraße und fuhr sie im dritten Gang langsam hinunter. Als ich wieder heraufkam, stand Köster an der Ecke. »Was soll das?«
»Steig ein«, sagte ich rasch. »Du brauchst nicht mehr hier zu stehen. Alfons wußte es auch. Er hat — er hat ihn schon getroffen.«
»Und?«
»Ja«, sagte ich.
Köster stieg schweigend ein. Er setzte sich nicht ans Steuer. Er hockte neben mir, etwas zusammengesunken, und ich fuhr.
»Wollen wir zu mir nach Hause?« fragte ich.
Er nickte. Ich gab Gas und nahm die Strecke am Kanal entlang. Das Wasser war ein einziger breiter Silberstreifen. Die Schuppen auf der gegenüberliegenden Seite lagen tiefschwarz im Schatten, aber die Straßen hatten ein wehendes, fahles Hellblau, über das die Reifen hinwegglitten wie über unsichtbaren Schnee. Die breiten Barocktürme des Domes ragten hinter den Dächerreihen auf. Sie leuchteten grün und silbern vor dem weit zurückweichenden, phosphoreszierenden Himmel, in dem der Mond wie eine große Leuchtkugel hing.
»Ich bin froh, Otto, daß es so gekommen ist«, sagte ich.
»Ich nicht«, erwiderte er.
Bei Frau Zalewski war noch Licht. Sie kam aus ihrem Salon, als ich die Tür aufschloß. »Es ist ein Telegramm für Sie da«, sagte sie.
»Ein Telegramm?« fragte ich erstaunt. Ich dachte immer noch an den Abend. Dann begriff ich und lief in mein Zimmer. Das Telegramm lag mitten auf dem Tisch, kalkig im grellen Licht. Ich riß die Verschlußmarke auf, die Brust preßte sich mir zu, die Buchstaben verschwammen, wichen aus, kamen wieder, ich atmete auf, alles stand still, und ich gab das Telegramm Köster. »Gott sei Dank! Ich dachte schon...«
Es waren nur drei Worte. »Robby, komm bald...«
Ich nahm das Blatt wieder. Die Erleichterung schwand. Die Angst kam zurück. »Was mag da los sein, Otto? Herrgott, weshalb telefoniert sie nicht mehr? Es muß doch was los sein!«
Köster legte die Depesche auf den Tisch. »Wann hast du zum letztenmal von ihr gehört?«
»Vor einer Woche. Nein, länger.«
»Melde ein Gespräch an. Wenn etwas ist, fahren wir gleich ab. Mit dem Wagen. Hast du ein Kursbuch?«
Ich meldete die Verbindung mit dem Sanatorium an und holte das Kursbuch aus Frau Zalewskis Salon. Köster schlug es auf, während wir warteten. »Der nächste gute Anschlußzug fährt erst morgen mittag«, sagte er. »Es ist besser, wir nehmen den Wagen und fahren so weit heran, wie es geht. Dann können wir immer noch den nächsten Anschlußzug nehmen. Ein paar Stunden sparen wir bestimmt. Was meinst du?«
»Ja, auf jeden Fall.« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich die untätigen Stunden in der Eisenbahn ertragen sollte.
Das Telefon klingelte. Köster ging mit dem Kursbuch in mein Zimmer. Das Sanatorium meldete sich. Ich fragte nach Pat. Eine Minute später sagte mir die Stationsschwester, es wäre besser, wenn Pat nicht telefoniere.
»Was hat sie?« schrie ich.
»Eine kleine Blutung vor einigen Tagen. Heute etwas Fieber.«
»Sagen Sie ihr, daß ich käme«, rief ich. »Mit Köster und Karl. Wir fahren jetzt ab. Haben Sie verstanden?«
»Mit Köster und Karl«, wiederholte die Stimme.
»Ja. Aber sagen Sie es ihr sofort. Wir fahren jetzt ab.«
»Ich werde es ihr gleich bestellen.«
Ich ging zurück in mein Zimmer. Meine Beine waren merkwürdig leicht. Köster saß am Tisch und schrieb die Züge aus.
»Pack deinen Koffer«, sagte er. »Ich fahre nach Hause und hole meinen auch. In einer halben Stunde bin ich zurück.«
Ich nahm den Koffer vom Schrank. Es war der von Lenz mit den bunten Hotelschildern. Ich packte rasch und sagte Frau Zalewski und dem Wirt vom International Bescheid. Dann setzte ich mich in mein Zimmer ans Fenster, um auf Köster zu warten. Es war sehr still. Ich dachte daran, daß ich morgen abend bei Pat sein würde, und plötzlich ergriff mich eine heiße, wilde Erwartung, vor der alles andere verblich, Angst, Sorge, Trauer, Verzweiflung. Ich würde morgen abend bei ihr sein — das war ein unvorstellbares Glück, etwas, an das ich fast nicht mehr geglaubt hatte. Es war so vieles verlorengegangen seitdem.
Ich nahm meinen Koffer und ging hinunter. Alles war auf einmal nah und warm, die Treppe, der abgestandene Geruch des Hausflurs, das kalte, blinkende Gummigrau des Asphalts, über den Karl soeben heranschoß.
»Ich habe ein paar Decken mitgebracht«, sagte Köster. »Es wird kalt werden. Wickle dich ordentlich ein.«
»Wir fahren abwechselnd, was?« fragte ich.
»Ja. Aber vorläufig fahre ich. Ich habe ja nachmittags geschlafen.«
Eine halbe Stunde später hatten wir die Stadt hinter uns, und das ungeheure Schweigen der klaren Mondnacht nahm uns auf. Die Straße lief weiß vor uns her bis zum Horizont. Es war so hell, daß wir ohne Scheinwerfer fahren konnten. Der Klang des Motors war wie ein dunkler Orgelton; er unterbrach die Stille nicht, er machte sie nur noch fühlbarer.
»Du solltest etwas schlafen«, sagte Köster.
Ich schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht, Otto.«
»Dann leg dich wenigstens hin, damit du morgen früh frisch bist. Wir müssen noch durch ganz Deutschland.«
»Ich ruhe mich auch so aus.«
Ich blieb neben Köster sitzen. Der Mond glitt langsam über den Himmel. Die Felder glänzten wie Perlmutter. Ab und zu flogen Dörfer vorüber, manchmal eine Stadt, verschlafen, leer, die Straßenschluchten zwischen den Häuserreihen angefüllt mit geisterhaftem, stofflosem Mondlicht, das die Nacht zu einem unwirklichen Film werden ließ.
Gegen Morgen wurde es kalt. Die Wiesen schimmerten plötzlich von Reif, die Bäume standen wie aus Stahl gegossen vor dem fahler werdenden Himmel, in den Wäldern begann es zu wehen, und aus den Schornsteinen der Häuser stieg vereinzelt Rauch auf. Wir wechselten das Steuer, und ich fuhr bis zehn Uhr. Dann frühstückten wir rasch in einem Wirtshaus am Wege, und ich fuhr weiter bis zwölf. Von da an blieb Köster am Steuer. Es ging schneller, wenn er allein fuhr.
Nachmittags, als es zu dämmern anfing, kamen wir an das Gebirge. Wir hatten Schneeketten und eine Schaufel bei uns und erkundigten uns, wie weit wir kommen könnten.
»Sie können es mit Ketten versuchen«, sagte der Sekretär des Autoklubs. »Es ist dieses Jahr sehr wenig Schnee. Nur wie es die letzten Kilometer ist, weiß ich nicht genau. Kann sein, daß Sie da steckenbleiben.«
Wir hatten einen großen Vorsprung vor dem Zug und beschlossen, zu versuchen, ganz hinaufzukommen. Es war kalt, und Nebel war nicht zu befürchten. Der Wagen ging die Serpentinen wie eine Uhr hinauf. Auf halber Höhe montierten wir die Schneeketten. Die Straße war ausgeschaufelt, aber an vielen Stellen vereist, und der Wagen tanzte und rutschte. Manchmal mußten wir heraus und ihn schieben. Zweimal versanken wir und mußten ihn ausschaufeln. Im letzten Dorf ließen wir uns einen Eimer Sand geben, weil wir jetzt sehr hoch waren und Sorge hatten, beim Abwärtsfahren vereiste Kurven vor uns zu haben. Es war ganz dunkel geworden, die Bergwände ragten steil und kahl über uns in den Abgrund, der Paß verengte sich, der Motor brüllte im ersten Gang, und Kurve um Kurve ging es abwärts. Plötzlich glitt das Licht der Scheinwerfer von den Hängen ab, es stürzte ins Leere, die Berge öffneten sich, und wir sahen unten das Lichtnetz des Dorfes vor uns liegen.
Der Wagen donnerte zwischen den bunten Läden der Hauptstraße hindurch. Fußgänger sprangen beiseite, erschreckt durch den ungewohnten Anblick, Pferde scheuten, ein Schlitten rutschte ab, der Wagen jagte die Kehren zum Sanatorium hinauf und hielt vor dem Portal. Ich sprang hinaus, ich sah wie durch einen Schleier neugierige Gesichter, Leute, das Büro, den Aufzug, dann lief ich durch den weißen Korridor, riß die Tür auf und erblickte Pat, wie ich sie hundertmal in Traum und Sehnsucht gesehen hatte, sie kam mir entgegen, und ich hielt sie in den Armen wie das Leben und mehr als das Leben.
»Gott sei Dank!« sagte ich, als ich mich wieder zurechtfand. »Ich glaubte, du lägest im Bett.«
Sie schüttelte den Kopf an meiner Schulter. Dann richtete sie sich auf, nahm mein Gesicht in ihre Hände und sah mich an. »Daß du da bist«, murmelte sie. »Daß du gekommen bist!«
Sie küßte mich, vorsichtig, ernst und behutsam, wie etwas, das man nicht zerbrechen will. Als ich ihre Lippen fühlte, begann ich zu zittern. Es war alles zu schnell gegangen, ich faßte es jetzt doch noch nicht ganz. Ich war noch nicht richtig da; ich war noch voll Fahrt, voll Motorendröhnen und Straße. Es ging mir wie jemand, der aus Kälte und Nacht in ein warmes Zimmer tritt — er spürt die Wärme auf der Haut, er empfindet sie mit den Augen —, aber er ist noch nicht warm. »Wir sind schnell gefahren«, sagte ich.
Sie antwortete nicht. Sie sah mich noch immer schweigend an. Ihr ernstes Gesicht hatte einen ergreifenden Ausdruck, ihre Augen waren dicht vor mir, und es war, als wolle sie etwas sehr Wichtiges suchen und wiederfinden. Ich wurde verlegen. Ich legte die Hände auf ihre Schultern und senkte den Blick.
»Bleibst du jetzt hier?« fragte sie.
Ich nickte.
»Sag es mir gleich. Sag mir, ob du wieder fortgehst, damit ich es gleich weiß.«
Ich wollte ihr antworten, daß ich es noch nicht wüßte und daß ich wahrscheinlich in ein paar Tagen abfahren müßte, weil ich kein Geld hätte, um hierzubleiben. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte es nicht, während sie mich so ansah. »Ja«, sagte ich, »ich bleibe hier. So lange, bis wir zusammen abreisen.«
Ihr Gesicht bewegte sich nicht. Aber es wurde plötzlich hell, wie von innen her erleuchtet. »Ach«, murmelte sie, »ich hätte es auch nicht ertragen.«
Ich versuchte über ihre Schulter hinweg die Fieberkurve am Kopfende des Bettes zu lesen. Sie bemerkte es, zog rasch das Blatt aus dem Halter, zerknüllte es und warf es unter das Bett.
»Das gilt jetzt nicht mehr«, sagte sie.
Ich merkte mir, wo der Papierknäuel lag, und beschloß, ihn nachher, wenn sie es nicht sah, einzustecken. »Warst du krank?« fragte ich.
»Etwas. Aber das ist jetzt vorbei.«
»Was hat denn der Arzt gesagt?«
Sie lachte. »Frag jetzt nicht nach dem Arzt. Frag überhaupt nichts mehr. Du bist da, das ist genug!«
Sie war plötzlich verändert. Ich wußte nicht, ob es daher kam, daß ich sie so lange nicht gesehen hatte, aber sie erschien mir auch anders als früher. Ihre Bewegungen waren geschmeidiger, ihre Haut war wärmer, die Art, wie sie zu mir kam, war anders, sie war nicht mehr nur ein schönes, junges Mädchen, das beschützt werden mußte, es war noch etwas hinzugekommen, und während ich früher oft nicht gewußt hatte, ob sie mich liebte, spürte ich es jetzt, sie verbarg nichts mehr, sie war lebendiger und mir näher als je, lebendiger, näher und schöner, beglückender, aber sonderbarerweise auch beunruhigender.
»Pat«, sagte ich. »Ich muß rasch hinunter. Köster ist unten. Wir müssen sehen, wo wir wohnen.«
»Köster? Und wo ist Lenz?«
»Lenz«, sagte ich, »Lenz ist zu Hause geblieben.«
Sie merkte nichts. »Darfst du hinunter, nachher?« fragte ich. »Oder sollen wir heraufkommen?«
»Ich darf alles. Ich darf jetzt alles. Wir gehen hinunter, und dann trinken wir etwas. Ich werde euch zusehen, wie ihr trinkt.«
»Gut. Wir warten dann unten in der Halle auf dich.«
Sie ging zum Schrank, um ein Kleid herauszunehmen. Ich benutzte die Gelegenheit, die zusammengeknäuelten Fieberkurven in die Tasche zu stecken.
»Also bis gleich, Pat.«
»Robby!«
Sie kam mir nach und legte mir die Arme um den Hals.
»Ich wollte dir eigentlich so viel sagen.«
»Ich dir auch, Pat. Aber nun haben wir ja Zeit dazu. Wir werden uns den ganzen Tag etwas erzählen. Morgen. Zu Anfang geht das nicht gleich so.«
Sie nickte. »Ja, wir wollen uns alles erzählen. Dann ist diese ganze Zeit, die wir allein waren, keine Zeit mehr, wo wir getrennt waren. Dann wissen wir alles voneinander, und das ist dann, als ob wir immer zusammengewesen sind.«
»Das waren wir auch so«, sagte ich.
Sie lächelte. »Ich nicht. Ich habe nicht so viel Kraft. Für mich war's schlimmer. Ich kann mich nicht mit Gedanken trösten, wenn ich allein bin. Ich bin dann allein, mehr weiß ich nicht. Es ist leichter, ohne Liebe allein zu sein.« Sie lächelte noch immer. Es war ein gläsernes Lächeln, sie hielt es fest, aber man konnte hindurchsehen.
»Pat«, sagte ich. »Alter, tapferer Bursche.«
»Das habe ich lange nicht gehört«, sagte sie, und ihre Augen waren voll Tränen.
Ich ging zu Köster hinunter. Die Koffer waren schon ausgeladen. Man hatte uns zwei Zimmer nebeneinander in der Dependance gegeben.
»Sieh dir das an«, sagte ich und zeigte ihm die Fieberkurven. »Wie das hinauf und herunter geht.«
Wir gingen über den knirschenden Schnee die Treppen hinauf. »Frag morgen den Arzt«, sagte Köster. »Aus den Fieberkurven allein kann man nichts sehen.«
»Ich sehe genug«, erwiderte ich, zerknüllte sie und steckte sie wieder in die Tasche.
Wir wuschen uns. Dann kam Köster zu mir ins Zimmer. Er sah aus, als wäre er gerade aufgestanden. »Du mußt dich anziehen, Robby«, sagte er.
»Ja.« Ich wachte aus meinem Brüten auf und packte den Koffer aus. Wir gingen zum Sanatorium zurück. Karl stand noch draußen. Köster hatte ihm eine Decke über den Kühler gehängt.
»Wann fahren wir zurück, Otto?« fragte ich.
Er blieb stehen. »Ich denke, ich fahre morgen abend oder übermorgen früh. Du bleibst doch hier...«
»Wie soll ich das denn machen«, erwiderte ich verzweifelt. »Mein Geld reicht höchstens für zehn Tage. Und für Pat ist das Sanatorium auch nur bis zum fünfzehnten bezahlt. Ich muß zurück und verdienen. Hier brauchen sie wahrscheinlich keinen so schlechten Klavierspieler.«
Köster beugte sich über Karls Kühler und hob die Decke hoch. »Ich besorge dir Geld«, sagte er und richtete sich auf. »Deshalb kannst du ruhig hierbleiben.«
»Otto«, sagte ich, »ich weiß doch, was du von der ganzen Versteigerung übrigbehalten hast. Keine dreihundert Mark.« »Das meine ich nicht. Ich kriege welches. Mach dir deswegen keine Sorgen. In acht Tagen hast du es hier.«
»Erbst du?« fragte ich mit trübem Spott.
»So was Ähnliches. Verlaß dich auf mich. Du kannst doch jetzt nicht wieder wegfahren.«
»Nein«, sagte ich. »Wüßte nicht, wie ich ihr das beibringen sollte.«
Köster legte die Decke wieder über den Kühler Karls. Er strich leicht über die Haube. Dann gingen wir in die Halle und setzten uns an den Kamin. »Wie spät ist es eigentlich?«
fragte ich.
Köster sah nach der Uhr. »Halb sieben.«
»Merkwürdig«, sagte ich. »Dachte, es wäre viel später.«
Pat kam die Treppe herunter. Sie trug ihre Pelzjacke und ging rasch durch die Halle, um Köster zu begrüßen. Ich bemerkte jetzt erst, wie braun sie war. Ihre Haut hatte die Farbe rötlicher Bronze, und sie glich fast einer jungen, sehr hellen Indianerin. Aber ihr Gesicht war schmaler geworden, und die Augen glänzten zu sehr.
»Hast du Fieber?« fragte ich.
»Etwas«, erwiderte sie rasch und ausweichend. »Abends hat hier jeder Fieber. Es ist nur, weil ihr gekommen seid.
Seid ihr müde?«
»Wovon?«
»Dann gehen wir in die Bar, ja? Es ist doch das erstemal, daß ich hier oben Besuch habe.«
»Gibt's denn hier eine Bar?«
»Ja, eine kleine. Oder wenigstens eine Ecke, die so aussieht. Das gehört zur Behandlung. Alles vermeiden, was nach Krankenhaus aussieht. Man bekommt nichts, wenn man nicht darf.«
Die Bar war voll. Pat begrüßte ein paar Leute. Ein Italiener fiel mir auf. Wir setzten uns an einen Tisch, der gerade frei wurde.
»Was willst du denn haben?« fragte ich.
»Einen Cocktail von Rum. So wie wir ihn immer in der Bar getrunken haben. Weißt du das Rezept?«
»Das ist einfach«, sagte ich zu dem Mädchen, das bediente.
»Halb Portwein, halb Jamaika-Rum.«
»Zwei«, rief Pat. »Und einen Spezial.«
Das Mädchen brachte zwei Porto-Roncos und ein hellrotes Getränk.
»Das ist für mich«, sagte Pat. Sie schob uns den Rum zu. »Salute!«
Sie stellte ihr Glas hin, ohne getrunken zu haben, sah sich um, griff dann rasch nach meinem Glas und trank es aus. »Ach«, sagte sie, »wie gut das ist!«
»Was hast du denn da bestellt?« fragte ich und probierte die verdächtig hellrote Sache. Sie schmeckte nach Himbeersaft und Zitrone. Es war kein Tropfen Alkohol drin. »Ganz gut«, sagte ich.
Pat sah mich an. »Gegen den Durst«, fügte ich hinzu.
Sie lachte. »Bestell noch einen Porto-Ronco. Aber für dich. Ich bekomme keinen.«
Ich winkte dem Mädchen. »Einen Porto-Ronco und einen Spezial«, sagte ich. Ich sah, daß an den Tischen ziemlich viel Spezial getrunken wurde.
»Heute darf ich, Robby, ja?« sagte Pat, »nur heute! So wie in den alten Zeiten. Ja, Köster?«
»Der Spezial ist ganz gut«, erwiderte ich und trank das zweite Glas davon aus.
»Ich hasse ihn! Armer Robby, was Schönes mußt du hier trinken!«
»Wenn wir schnell genug bestellen, komme ich schon noch zu meinem Recht«, sagte ich.
Pat lachte. »Nachher zum Essen darf ich etwas trinken. Rotwein.«
Wir bestellten noch ein paar Porto-Roncos, dann gingen wir in den Speisesaal. Pat war wunderschön. Ihr Gesicht leuchtete. Wir setzten uns an einen der kleinen, weißgedeckten Tische neben den Fenstern. Es war warm, und unten lag das Dorf mit seinen beglänzten Straßen im Schnee.
»Wo ist denn Helga Guttmann?« fragte ich.
»Abgereist«, sagte Pat nach einer Pause.
»Abgereist? So früh?«
»Ja«, sagte Pat, und ich begriff, was sie meinte.
Das Mädchen brachte den dunkelroten Wein. Köster schenkte die Gläser voll. Die Tische waren jetzt alle besetzt. Überall saßen Menschen und plauderten. Ich fühlte Pats Hand auf meiner. »Liebling«, sagte sie sehr leise und zärtlich. »Ich konnte es nicht mehr aushalten.«

27

XXVI

Ich kam aus dem Zimmer des Chefarztes, Köster wartete auf mich in der Halle. Er stand auf, als er mich sah. Wir gingen nach draußen und setzten uns auf eine Bank vor dem Sanatorium. »Es ist schlimm, Otto«, sagte ich. »Schlimmer, als ich gefürchtet habe.«
Eine Gruppe Schiläufer zog lärmend dicht an uns vorüber. Ein paar mit Öl eingeschmierte Frauen mit kräftigen, sonnverbrannten Gesichtern und breiten, weißen Gebissen waren dabei. Sie schrien sich zu, daß sie Hunger wie die Wölfe hätten. Wir warteten, bis sie vorbei waren. »So was lebt natürlich«, sagte ich. »Lebt und ist gesund bis in die Knochen. Zum Kotzen!«
»Hast du mit dem Chefarzt selbst gesprochen?« fragte Köster.
»Ja. Er hat mir alles sehr verklausuliert erklärt, mit vielen Einschränkungen. Aber das Ergebnis ist, daß es schlechter geworden ist. Er behauptet zwar, es sei besser geworden.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Er behauptet, wenn sie unten geblieben wäre, würde längst alle Hoffnung verloren sein. Hier ist es langsamer gegangen. Das nennt er dann besser werden.«
Köster zog mit den Absätzen seiner Schuhe Striche in den harten Schnee. Dann hob er den Kopf. »Er hat also Hoffnung?«
»Ein Arzt hat immer Hoffnung, das gehört zu seinem Beruf. Aber ich habe verdammt wenig mehr. Ich fragte ihn, ob er einen Pneumothorax gemacht hätte. Er sagte, das ginge nicht mehr. Sie hätte vor Jahren schon einen gehabt. Jetzt seien beide Lungen krank. Es ist verflucht, Otto.«
Eine alte Frau mit ausgetretenen Gummischuhen blieb vor unserer Bank stehen. Sie hatte ein blaues, eingefallenes Gesicht und erloschene, schieferfarbene Augen, die aussahen, als wären sie blind. Um den Hals hatte sie eine altmodische Federboa geschlungen. Langsam hob sie ein Lorgnon und betrachtete uns. Dann schlurfte sie weiter.
»Ekelhaftes Gespenst!«
»Was hat er sonst noch gesagt?« fragte Köster.
»Er hat mir erklärt, woher es wahrscheinlich käme. Er hätte schon viele Patienten im gleichen Alter gehabt. Es seien Folgen des Krieges. Unterernährung in den Entwicklungsjahren. Aber was geht mich das alles an? Sie soll gesund werden.« Ich sah ihn an. »Natürlich hat er mir gesagt, daß er oft genug Wunder erlebt hätte. Gerade bei dieser Krankheit käme es vor, daß sie plötzlich stehenbleibe, verkapsele und ausheile, sogar in verzweifelten Fällen. Das hat Jaffé auch gesagt. Aber ich glaube nicht an Wunder.«
Köster antwortete nicht. Wir blieben schweigend nebeneinander sitzen. Was sollten wir auch sagen? Wir hatten beide zuviel mitgemacht, als daß wir mit Trost etwas hätten anfangen können.
»Sie darf nichts merken, Robby«, sagte Köster schließlich.
»Natürlich nicht«, erwiderte ich.
Wir blieben sitzen, bis Pat kam. Ich dachte nichts; ich war nicht einmal verzweifelt, ich war ganz dumpf und grau und tot.
»Da ist sie«, sagte Köster.
»Ja«, sagte ich und stand auf.
»Hallo!« Pat kam heran und winkte. Sie taumelte etwas und lachte. »Ich bin ein bißchen betrunken. Von der Sonne.
Immer, wenn ich in der Sonne gelegen habe, schwanke ich wie ein alter Seemann.«
Ich sah sie an, und mit einem Schlage war alles anders. Ich glaubte dem Arzt nicht mehr; ich glaubte an das Wunder. Sie war da; sie lebte; sie stand da und lachte — alles andere versank davor.
»Was macht ihr denn für Gesichter?« fragte sie.
»Stadtgesichter, die gar nicht hierher passen«, sagte Köster.
»Wir können uns an die Sonne noch nicht gewöhnen.«
Sie lachte. »Ich habe heute einen guten Tag. Ohne Fieber.
Ich darf 'raus. Wollen wir ins Dorf gehen und einen Aperitif trinken?«
»Natürlich.«
»Also los!«
»Wollen wir nicht lieber einen Schlitten nehmen?« fragte Köster.
»Ich halte es schon aus«, sagte Pat.
»Das weiß ich«, sagte Köster. »Aber ich bin noch nie in so einem Ding gefahren. Ich möchte es mal versuchen.«
Wir winkten einen Kutscher heran und fuhren die Serpentinen hinab ins Dorf. Vor einem Café, das eine kleine, sonnige Terrasse hatte, hielten wir und stiegen aus. Es saßen viele Leute da, und ich erkannte einige aus dem Sanatorium. Der Italiener aus der Bar war auch dabei. Er wurde Antonio gerufen und kam an unsern Tisch, um Pat zu begrüßen. Er erzählte, daß ein paar Spaßvögel in der vergangenen Nacht einen Patienten, während er schlief, mitsamt dem Bett aus seinem Zimmer gerollt und in das Zimmer einer uralten Lehrerin geschoben hätten.
»Weshalb haben sie denn das gemacht?« fragte ich.
»Er ist geheilt und fährt in den nächsten Tagen ab«, erwiderte Antonio. »Da werden immer solche Streiche gemacht.«
»Das ist der berühmte Galgenhumor der Zurückbleibenden, Liebling«, sagte Pat.
»Hier oben wird man kindisch«, meinte Antonio entschuldigend.
Geheilt, dachte ich, einer ist geheilt und fährt zurück. — »Was willst du trinken, Pat?« fragte ich.
»Einen Martini. Einen trockenen Martini.«
Ein Radio begann zu spielen. Wiener Walzer. Sie wehten durch die warme, sonnige Luft wie leichte, helle Fahnen. Der Kellner brachte die Martinis. Sie waren sehr kalt und perlten noch, während die Sonne hineinschien. »Schön, so zu sitzen, wie?« fragte Pat.
»Herrlich«, erwiderte ich.
»Aber manchmal ist es nicht zum Aushalten«, sagte sie.
Wir blieben zum Essen unten. Pat wollte es gern. Sie hatte in der letzten Zeit immer im Sanatorium bleiben müssen, und dieses war ihr erster Ausgang; da meinte sie, sie fühle sich doppelt so gesund, wenn sie einmal im Dorf essen könne. Antonio aß mit uns. Nachher fuhren wir wieder hinauf, und Pat ging in ihr Zimmer, weil sie zwei Stunden liegen mußte. Köster und ich holten Karl aus der Garage und sahen ihn nach. Wir mußten zwei gebrochene Federblätter auswechseln. Der Garagemeister hatte Werkzeug da, und wir machten uns an die Arbeit. Dann füllten wir Öl nach und schmierten das Chassis durch. Als alles fertig war, schoben wir ihn hinaus. Dreckbespritzt, mit hängenden Ohren, stand er im Schnee.
»Wollen wir ihn waschen?« fragte ich.
»Nein, nicht unterwegs«, sagte Köster. »Das nimmt er übel.«
Pat kam hinzu. Sie sah warm und ausgeschlafen aus. Ihr Hund tobte um sie herum. »Billy!« rief ich. Er stutzte, aber er war nicht übermäßig freundlich. Er kannte mich nicht wieder und wurde ganz verlegen, als Pat ihn auf mich aufmerksam machte. »So geht's«, sagte ich. »Gottlob, daß die Menschen ein besseres Gedächtnis haben. Wo war er denn gestern?«
Pat lachte. »Er hat die ganze Zeit unterm Bett gelegen. Er ist eifersüchtig, wenn ich Besuch bekomme, und zieht sich dann ärgerlich zurück.«
»Du siehst wunderbar aus«, sagte ich.
Sie blickte mich glücklich an. Dann trat sie an Karl heran.
»Ich möchte mal wieder drinsitzen und ein kleines Stück fahren.«
»Natürlich«, sagte ich, »was, Otto?«
»Selbstverständlich. Sie haben ja einen dicken Mantel an, und hier sind noch Schals und Decken genug.«
Pat setzte sich nach vorn, hinter die Windschutzscheibe, neben Köster. Karl brüllte auf. Die Auspuffgase dampften weißblau in die kalte Luft. Der Motor war noch nicht warm. Langsam begannen die Ketten klappernd durch den Schnee zu mahlen. Karl kroch fauchend, knallend und brummend zum Dorf hinunter und die Hauptstraße entlang, ein geduckter Wolf unter dem Getrabe der Pferde und dem Glockenläuten der Schlitten.
Wir kamen aus dem Dorf heraus. Es war später Nachmittag, und die Schneefelder schimmerten rötlich, überhaucht von der tiefen Sonne. Ein paar Heuschober am Hang lagen fast begraben im Weiß. Wie schmale Kommas schwangen die letzten Skiläufer zu Tal. Sie passierten dabei die rote Sonne, die mächtig noch einmal hinter dem Hang hervorkam, ein Ball düsterer Glut.
»Seid ihr gestern hier entlanggekommen?« fragte Pat.
»Ja.«
Der Wagen gewann die Kuppe der ersten Anhöhe. Köster hielt. Die Aussicht von hier oben war überwältigend. Am Tage vorher, als wir durch den gläsernen blauen Abend hindurchklirrten, hatten wir nichts davon bemerkt. Wir hatten nur auf die Straße geachtet.
Hang hinter Hang öffnete sich ein vielfältiges Tal. Die Kanten des fernen Gebirges standen scharf und klar vor dem blaßgrünen Himmel. Sie leuchteten golden. Goldene Flecken, wie abgestäubt, lagen auch auf den Schneefeldern unterhalb der Gipfel. Die Hänge gingen von Sekunde zu Sekunde immer mehr in ein prunkvolles Weißrot über, und die Schatten wurden immer blauer. Die Sonne stand gerade in der Lücke zwischen zwei schimmernden Gipfeln, und das weite Tal mit seinen Höhen und Hängen wirkte wie eine mächtige, stumme, leuchtende Parade vor einem untergehenden Herrscher. Das violette Band der Straße schlängelte sich um die Hügel, verschwand, tauchte wieder auf, dunkel in den Kurven, an Dörfern vorbei, und lief dann gerade auf den Paßsattel am Horizont zu.
»So weit vom Dorf war ich noch nie«, sagte Pat. »Ist das die Straße nach Hause?«
»Ja.«
Sie schwieg und sah hinunter. Dann stieg sie aus und hielt die Hand schützend vor die Augen. So starrte sie nach Norden, als könne sie schon die Türme der Stadt sehen. »Wie weit ist es?« fragte sie.
»So an tausend Kilometer. Im Mai fahren wir hinunter. Dann holt Otto uns ab.«
»Im Mai«, wiederholte sie. »Mein Gott, im Mai.«
Die Sonne versank langsam. Das Tal wurde lebendig; die Schatten, die bisher starr in den Bodenfalten gehockt hatten, begannen lautlos hervorzuhuschen und höher zu klettern wie blaue Riesenspinnen. Es wurde kühl. »Wir müssen zurück, Pat«, sagte ich.
Sie blickte auf, und ihr Gesicht war plötzlich wie zerfallen vor Schmerz. Ich sah auf einmal, daß sie alles wußte. Sie wußte, daß sie nie mehr über diese gnadenlose Bergkette am Horizont hinwegkommen würde, sie wußte es und wollte es verbergen, so wie wir es vor ihr verbergen wollten, aber einen Augenblick lang verlor sie die Fassung, und aller Jammer der Welt brach aus ihren Augen. »Laß uns noch ein Stück herunterfahren«, sagte sie. »Nur ein ganz kleines Stück abwärts.«
»Komm«, erwiderte ich, nachdem ich Köster angesehen hatte. Sie stieg zu mir hinten in den Wagen, ich bettete sie in meinen Arm und zog die Decke über uns beide. Der Wagen begann langsam bergab zu fahren, in das Tal und in die Schatten.
»Robby, Liebling«, flüsterte Pat an meiner Schulter, »jetzt ist es, als ob wir nach Hause führen, zurück in unser Leben...«
»Ja«, sagte ich und zog die Decke bis an ihr Haar.
Es wurde rasch dunkler, je tiefer wir kamen. Pat lag ganz unter den Decken. Sie schob ihre Hand auf meine Brust, unter das Hemd, ich fühlte ihre Hand auf meiner Haut, und dann ihren Atem, ihre Lippen und dann ihre Tränen.
Vorsichtig, damit sie die Kurve nicht merkte, drehte Köster auf dem Marktplatz des nächsten Dorfes den Wagen in einer langen Schleife und fuhr langsam zurück.
Die Sonne war verschwunden, als wir die Höhe wieder überfuhren, und im Osten stand schon blaß und klar zwischen aufsteigenden Wolken der Mond. Wir fuhren zurück, die Ketten malmten über den Boden mit monotonem Geräusch, es wurde sehr still, ich saß reglos und rührte mich nicht und fühlte die Tränen Pats auf meinem Herzen, als blute dort eine Wunde.
Eine Stunde später saß ich in der Halle. Pat war in ihrem Zimmer, und Köster war zur Wetterstelle gegangen, um sich zu erkundigen, ob es Schnee gäbe. Es war draußen dunstig geworden, der Mond hatte jetzt einen Hof, und weich und grau wie Samt stand der Abend vor den Fenstern. Nach einer Weile kam Antonio und setzte sich zu mir. Ein paar Tische entfernt saß eine Kanonenkugel in einem Homespunanzug mit zu kurzen Knickerbockern. Ein Säuglingsgesicht mit aufgeworfenen Lippen und kalten Augen, darüber ein runder roter Kopf ohne Haare, glänzend wie eine Billardkugel. Neben ihm eine schmale Frau mit tiefen Augenschatten und einem flehentlichen, kummervollen Ausdruck. Die Kanonenkugel war lebhaft, der Kopf war ständig in Bewegung, die rosigen Patschhände beschrieben glatte Kurven.
»Wunderbar, hier oben, ganz herrlich! Dies Panorama, diese Luft, diese Verpflegung! Hast es wirklich gut...«
»Bernhard«, sagte die Frau leise.
»Wahrhaftig, so möchte ich's auch mal haben, gehätschelt und gepflegt!« öliges Gelächter. »Na, ich gönn's dir...«
»Ach, Bernhard«, sagte die Frau mutlos.
»Was denn, was denn«, lärmte die Kanonenkugel fröhlich, »besser geht's doch gar nicht! Bist doch hier wie im Paradies! Was meinst du, was sich unten tut! Muß morgen wieder 'rein in den Schlamassel. Sei froh, daß du nichts davon merkst. Na, freut mich, gesehen zu haben, daß es dir hier gut geht.«
»Bernhard, es geht mir nicht gut«, sagte die Frau.
»Aber Kindchen«, polterte Bernhard, »nicht pimpelig werden! Was sollte unsereins da sagen! Immer im Betrieb, die Pleiten überall, die Steuern — na, man macht's ja gern.«
Die Frau schwieg.
»Rüstiger Knabe«, sagte ich zu Antonio.
»Und wie!« erwiderte er. »Seit vorgestern ist er hier und redet jeden Versuch der Frau mit seinem ›Wunderbar hast du's hier‹, nieder. Er will nichts sehen, wissen Sie — nicht ihre Angst, nicht ihre Krankheit, nicht ihre Einsamkeit. Wahrscheinlich lebt er längst mit einer zweiten Kanonenkugel in Berlin und macht hier halbjährlich seinen Pflichtbesuch, händereibend, jovial, auf seine Bequemlichkeit bedacht. Nur nichts hören! Das gibt's hier oft!«
»Wie lange ist die Frau hier?«
»Ungefähr zwei Jahre.«
Ein Trupp junger Leute lief kichernd durch die Halle.
Antonio lachte.
»Die kommen von der Post. Sie haben an Roth ein Telegramm geschickt.«
»Wer ist Roth?«
»Das ist der, der nächstens abreist. Sie haben ihm telegrafiert, er dürfe wegen einer Grippeepidemie in seiner Heimat nicht abfahren und müsse noch hierbleiben. Das sind so übliche Scherze. Weil sie selbst hierbleiben müssen, verstehen Sie?«
Ich schaute durch das Fenster auf den grauen Samt der verhangenen Berge. Das ist ja alles nicht wahr, dachte ich, das ist ja alles keine Wirklichkeit, so geht das doch nicht. Das ist doch nur eine Bühne hier, auf der ein bißchen Tod gespielt wird. Wenn man stirbt, das ist doch furchtbarer Ernst. Ich hätte den jungen Leuten nachgehen, ihnen auf die Schultern schlagen und sagen mögen: »Nicht wahr, das ist nur ein Salontod hier, und ihr seid nur lustige Sterbeamateure? Nachher wird wieder aufgestanden und sich verbeugt? So kann man doch nicht sterben, mit etwas Fieber und rauhem Atem, dazu gehören doch Schüsse und Wunden, so kenne ich es doch...«
»Sind Sie auch krank?« fragte ich Antonio.
»Natürlich«, sagte er lächelnd.
»Wirklich herrlicher Kaffee«, lärmte die Kanonenkugel nebenan, »so was gibt's bei uns überhaupt nicht. Das reine Schlaraffenland!«
Köster kam von der Wetterdienststelle zurück. »Ich muß fahren, Robby«, sagte er. »Das Barometer ist gefallen, und wahrscheinlich gibt es diese Nacht Schnee. Dann komme ich morgen nicht mehr durch. Heute abend geht's grade noch.«
»Gut. Essen wir noch zusammen?«
»Ja. Ich packe jetzt rasch.«
»Ich komme mit«, sagte ich.
Wir packten Kösters Sachen zusammen und brachten sie zur Garage hinunter. Dann gingen wir zurück, um Pat zu holen.
»Wenn irgendwas ist, rufe mich an, Robby«, sagte Otto.
Ich nickte.
»Das Geld hast du in wenigen Tagen hier. Genug für einige Zeit. Tu alles, was nötig ist.«
»Ja, Otto.« Ich zögerte. »Wir haben doch noch ein paar Ampullen Morphium zu Hause. Kannst du mir die schicken?«
Er sah mich an. »Wozu willst du sie haben?«
»Ich weiß nicht, wie das hier wird. Vielleicht ist es nicht nötig. Ich habe immer noch so eine Hoffnung, trotz allem. Immer, wenn ich sie sehe. Wenn ich allein bin, nicht. Aber ich möchte nicht, daß sie leidet, Otto. Daß sie so herumliegt und daß nichts mehr da ist als Schmerzen. Vielleicht geben sie es ihr hier dann auch so. Aber es ist mir eine Beruhigung, zu wissen, daß ich ihr helfen kann.«
»Nur das, Robby?« fragte Köster.
»Nur das, Otto. Bestimmt. Sonst würde ich es dir nicht sagen.«
Er nickte. »Wir sind nur noch zwei«, sagte er langsam.
»Ja.«
»Gut, Robby.«
Wir gingen in die Halle, und ich holte Pat herunter. Dann aßen wir rasch, denn es bezog sich immer mehr. Köster fuhr Karl aus der Garage zum Portal vor. »Mach's gut, Robby«, sagte er.
»Du auch, Otto.«
»Auf Wiedersehen, Pat.« Er gab ihr die Hand und sah sie an. »Im Frühjahr komme ich Sie holen.«
»Leben Sie wohl, Köster.« Pat hielt seine Hand fest. »Ich freue mich so, Sie noch gesehen zu haben. Grüßen Sie auch Gottfried Lenz von mir.«
»Ja«, sagte Köster.
Sie hielt immer noch seine Hand. Ihre Lippen zitterten. Und plötzlich machte sie einen Schritt vor und küßte ihn. »Leben Sie wohl«, murmelte sie mit erstickter Stimme.
Kösters Gesicht war auf einmal von einer hellroten Flamme durchflogen. Er wollte noch etwas sagen, aber er wandte sich ab, stieg in den Wagen, fuhr in einem Sprung an und jagte die Serpentinen hinunter, ohne sich umzusehen. Wir sahen ihm nach. Der Wagen donnerte die Hauptstraße entlang und zog die Kehren hinauf wie ein einsamer Leuchtkäfer, das fahle Feld der Scheinwerfer auf dem grauen Schnee vor sich. Auf der Höhe blieb er stehen, und Köster winkte. Er stand dunkel vor dem Licht. Dann verschwand er, und wir hörten noch lange das immer schwächer werdende Summen der Maschine.
Pat stand vorgebeugt und lauschte, solange noch etwas zu vernehmen war. Dann wandte sie sich mir zu. »Jetzt ist das letzte Schiff abgefahren, Robby.«
»Das zweitletzte«, erwiderte ich. »Das letzte bin ich. Und weißt du, was ich vorhabe? Ich will mir einen andern Ankerplatz suchen. Das Zimmer in der Dependance gefällt mir nicht mehr. Ich sehe nicht ein, weshalb wir nicht zusammen wohnen können. Werde mal versuchen, ein Zimmer in deiner Nähe zu bekommen.«
Sie lächelte. »Ausgeschlossen! Kriegst du nicht! Wie willst du das machen?«
»Freust du dich, wenn ich es schaffe?«
»Was für eine Frage! Es wäre herrlich, Liebling. Fast wie bei Mutter Zalewski!«
»Gut, dann laß mich mal jetzt eine halbe Stunde arbeiten!«
»Schön. Ich spiele so lange mit Antonio Schach. Das habe ich hier gelernt.«
Ich ging ins Büro und erklärte, daß ich längere Zeit bliebe und ein Zimmer in Pats Etage haben möchte. Eine ältere Dame ohne Busen sah mich indigniert an und lehnte meinen Wunsch auf Grund der Hausordnung ab.
»Wer hat die Hausordnung gemacht?« fragte ich.
»Die Direktion«, gab die Dame zurück und strich die Falten ihres Kleides glatt.
Ziemlich widerwillig teilte sie mir schließlich mit, daß der Chefarzt über Ausnahmen zu entscheiden habe. »Er ist aber nicht mehr da«, fügte sie hinzu. »Und abends darf er nur dienstlich gestört werden.«
»Schön«, sagte ich, »dann werde ich ihn mal dienstlich stören. In Sachen der Hausordnung.«
Der Chefarzt wohnte in einem kleinen Hause neben dem Sanatorium. Er empfing mich gleich und gab mir sofort die Erlaubnis. »So leicht habe ich mir das nach dem Anfang nicht vorgestellt«, sagte ich.
Er lachte. »Aha, die alte Rexroth hat Sie wohl erwischt? Na, ich werde gleich mal telefonieren.«
Ich ging zurück ins Büro. Die alte Rexroth verschwand würdig, als sie mein herausforderndes Gesicht erblickte. Ich regelte alles mit der Sekretärin und gab dem Hausknecht Auftrag, mein Gepäck herüberzuschaffen und mir ein paar Flaschen zu trinken zu besorgen. Dann ging ich zu Pat in die Halle.
»Hast du's geschafft?« fragte sie.
»Noch nicht, aber in ein paar Tagen werde ich's schon erreichen.«
»Schade.« Sie warf die Schachfiguren um und stand auf.
»Was wollen wir machen?« fragte ich. »In die Bar gehen?« »Wir spielen abends oft Karten«, sagte Antonio. »Es gibt Föhn, das spürt man. Da ist Kartenspielen das Bequemste.«
»Kartenspielen? Pat?« fragte ich verwundert. »Was kannst du denn für Kartenspiele? Schwarzer Peter und Patience, was?«
»Poker, Liebling«, erklärte Pat.
Ich lachte. »Tatsächlich, sie kann es«, sagte Antonio. »Sie ist nur zu waghalsig. Sie blufft furchtbar.«
»Ich auch«, erwiderte ich. »Das müssen wir doch mal versuchen.«
Wir setzten uns in eine Ecke und begannen zu spielen. Pat pokerte gar nicht schlecht. Sie bluffte wirklich, daß die Fetzen flogen. Nach einer Stunde zeigte Antonio auf die Landschaft draußen vor dem Fenster. Es schneite. Langsam, als zögerten sie noch, fielen die dicken Flocken fast senkrecht herunter.
»Es ist ganz windstill«, sagte Antonio. »Das gibt viel Schnee.«
»Wo mag Köster jetzt sein?« fragte Pat.
»Er ist schon über den Hauptpaß weg«, sagte ich. Einen Augenblick sah ich Karl ganz deutlich vor mir, wie er mit Köster durch die weiße Nacht zog, und alles kam mir plötzlich etwas unwirklich vor — daß ich hier saß, daß Köster unterwegs war und daß Pat da war. Sie lächelte mich glücklich an, die Hand mit den Karten auf den Tisch gestemmt. »Los, Robby!«
Die Kanonenkugel strich durch die Halle, blieb hinter unserm Tisch stehen und begann wohlwollend zu kiebitzen. Wahrscheinlich schlief die Frau, und er suchte Unterhaltung. Ich legte die Karten hin und starrte ihn giftig an, bis er verschwand.
»Freundlich bist du nicht«, sagte Pat vergnügt.
»Nein«, erwiderte ich. »Will ich auch nicht sein.«
Wir gingen noch in die Bar und tranken ein paar Spezial.
Dann mußte Pat schlafen. Ich verabschiedete mich in der Halle von ihr. Sie schritt langsam die Treppe hinauf und sah sich um und blieb stehen, bevor sie in den Korridor einbog. Ich wartete etwas, dann ließ ich mir im Büro meinen Zimmerschlüssel geben. Die kleine Sekretärin lächelte.
»Nummer achtundsiebzig«, erklärte sie.
Es war das Zimmer neben Pat. »Auf Veranlassung von Fräulein Rexroth etwa?« fragte ich.
»Nein, Fräulein Rexroth ist im Missionshaus«, erwiderte sie.
»Missionshäuser sind manchmal ein Segen«, sagte ich und ging rasch hinauf. Meine Sachen waren schon ausgepackt. Eine halbe Stunde später klopfte ich an die Verbindungstür zwischen den beiden Zimmern. »Wer ist da?« rief Pat.
»Die Sittenpolizei«, erwiderte ich.
Der Schlüssel knirschte, und die Tür flog auf. »Du, Robby?« stammelte Pat fassungslos. »Ich!« sagte ich. »Der Besieger von Fräulein Rexroth! Der Kognak- und Porto-Ronco-Besitzer!« Ich zog die Flaschen aus den Taschen meines Bademantels. »Und nun sag mir sofort, wieviel Männer hier schon gewesen sind.«
»Niemand, außer dem Fußballklub und dem verstärkten philharmonischen Orchester«, erklärte Pat lachend. »Ach, Liebling, jetzt sind die alten Zeiten wieder da!«
Sie schlief an meiner Schulter ein. Ich blieb noch lange wach. In einer Ecke des Zimmers brannte eine kleine Lampe. Die Schneeflocken klopften leise gegen das Fenster, und die Zeit schien stillzustehen in dieser matten braungoldenen Dämmerung. Es war sehr warm im Zimmer. Manchmal knackten die Röhren der Zentralheizung. Pat bewegte sich im Schlaf, und langsam, knisternd, rutschten die Decken herunter auf den Boden. Ach, dachte ich, bronzen schimmernde Haut! Schmales Wunder der Knie! Zartes Geheimnis der Brust! Ich fühlte ihr Haar an meiner Schulter und spürte unter meinen Lippen den Puls ihrer Hand klopfen. Du solltest sterben, dachte ich. Du kannst nicht sterben. Du bist das Glück.
Vorsichtig zog ich die Decke wieder herauf. Pat murmelte etwas und verstummte wieder und schob langsam, im Schlaf, ihre Hand um meinen Nacken.

28

XXVII

Die nächsten Tage schneite es ununterbrochen. Pat hatte Fieber und mußte im Bett bleiben. Viele im Hause hatten Fieber.
»Es ist das Wetter«, sagte Antonio. »Zu warm und föhnig. Richtiges Fieberwetter.«
»Liebling, geh ein bißchen 'raus«, sagte Pat. »Kannst du Schifahren?«
»Nein. Wie sollte ich das können? Ich war ja nie im Gebirge.«
»Antonio wird es dir beibringen. Es macht ihm Spaß. Er mag dich gern.«
»Ich bleibe viel lieber hier.«
Sie richtete sich im Bett auf. Das Nachthemd fiel von ihren Schultern.
Verdammt schmal waren sie. Verdammt schmal war auch der Nacken.
»Robby«, sagte sie, »tu's mir zuliebe. Ich möchte nicht gern, daß du hier so am Krankenbett sitzt. Gestern und vorgestern, das war schon mehr als genug.«
»Ich sitze gern hier«, erwiderte ich. »Habe gar keine Sehnsucht, in den Schnee zu gehen.«
Sie atmete laut, und ich hörte das unregelmäßige Scharren des Atems. »Ich habe darin mehr Erfahrung als du«, sagte sie und stützte sich auf die Ellbogen. »Es ist besser für uns beide. Du wirst es nachher sehen.« Sie lächelte mühsam. »Heute nachmittag und heute abend kannst du noch genug hier sitzen. Morgens macht es mich unruhig, Liebling. Man sieht schrecklich aus, morgens, wenn man Fieber hat.
Abends ist das ganz anders. Ich bin oberflächlich und dumm — ich will nicht häßlich sein, wenn du mich siehst.« »Aber Pat!« Ich stand auf. »Also gut, ich gehe ein bißchen mit Antonio 'raus. Mittags bin ich dann wieder hier. Hoffentlich breche ich mir nicht alle Knochen mit diesen Schidingern.« »Du wirst es rasch lernen, Liebling.« Ihr Gesicht verlor die ängstliche Spannung. »Du wirst sehr schnell wunderbar laufen.« »Und du willst mich sehr schnell wunderbar hier 'raus haben«, sagte ich und küßte sie. Ihre Hände waren feucht und heiß und ihre Lippen trocken und aufgesprungen. Antonio wohnte im zweiten Stock. Er lieh mir ein Paar Schuhe und Schier. Sie paßten, denn wir waren gleich groß. Wir gingen zur Übungswiese, die ein Stück hinter dem Dorf lag. Antonio blickte mich unterwegs forschend an. »Fieber macht unruhig«, sagte er. »Sonderbare Sachen sind hier an solchen Tagen manchmal schon passiert.« Er legte die Schier vor sich hin und machte sie fest. »Das schlimmste ist das Warten und das Nichtstunkönnen. Das macht verrückt und kaputt.« »Die Gesunden auch«, erwiderte ich. »Dabeistehen zu müssen und nichts tun können.« Er nickte. »Manche von uns arbeiten«, fuhr er fort, »manche lesen ganze Bibliotheken leer. Aber viele werden auch wieder zu einer Schulklasse, die die Liegekur schwänzt wie früher die Turnstunde, und angstvoll kichernd in Läden und Konditoreien flüchtet, wenn der Arzt zufällig vorbeikommt. Heimliches Rauchen, heimliches Trinken, verbotener Budenzauber, Klatsch und dumme Streiche — damit retten sie sich über die Leere hinweg. Und über die Wahrheit. Ein spielerisches, leichtsinniges und wohl auch heroisches Ignorieren des Todes. Was bleibt ihnen schließlich auch anderes übrig.«
Ja, dachte ich, was bleibt uns allen schließlich anderes übrig. — »Wollen wir's mal probieren?« fragte Antonio und stemmte die Schistöcke in den Schnee.
»Ja.«
Er zeigte mir, wie man die Schier anmachte und wie man das Gleichgewicht hielt. Es war nicht schwer. Ich fiel ziemlich oft, aber dann gewöhnte ich mich allmählich, und es klappte schon ein wenig. Nach einer Stunde hörten wir auf. »Genug«, meinte Antonio. »Sie werden heute abend Ihre Muskeln schon spüren.«
Ich schnallte die Schier ab und fühlte, wie kräftig mein Blut strömte.
»War gut, daß wir draußen waren, Antonio«, sagte ich.
Er nickte. »Das können wir jeden Vormittag machen. Man kommt auf andere Gedanken dabei.«
»Wollen wir irgendwo was trinken?« fragte ich.
»Können wir. Einen Dubonnet bei Forster.«
Wir tranken den Dubonnet und gingen zum Sanatorium hinauf. Im Büro sagte mir die Sekretärin, der Briefträger wäre für mich dagewesen; er hätte hinterlassen, ich solle zur Post kommen. Es sei Geld für mich da. Ich sah nach der Uhr. Es war noch Zeit, und ich ging zurück. Auf der Post zahlte man mir zweitausend Mark aus. Ein Brief von Köster war dabei. Ich solle mir keine Sorgen machen; es sei noch mehr da. Ich brauche nur zu schreiben.
Ich starrte auf die Scheine. Wo hatte er das nur her? Und so schnell? Ich kannte doch unsere Quellen. Und plötzlich wußte ich es. Ich sah den rennfahrenden Konfektionär Bollwies vor mir, wie er gierig an Karl herumklopfte, abends vor der Bar, als er seine Wette verloren hatte, und sagte: »Für den Wagen bin ich jederzeit Käufer.« Verflucht! Köster hatte Karl verkauft! Daher auf einmal das Geld! Karl, von dem er gesagt hatte, er verlöre lieber eine Hand als den Wagen. Karl war nicht mehr da. Er war jetzt in den dicken Händen des Anzugfabrikanten, und Otto, dessen Ohr ihn auf Kilometer erkannte, würde ihn durch die Straßen heulen hören wie einen verstoßenen Hund.
Ich steckte den Brief Kösters und das kleine Paket mit den Morphiumampullen ein. Ratlos stand ich noch immer vor dem Postschalter. Ich hätte das Geld am liebsten sofort zurückgeschickt, Aber es ging nicht, wir brauchten es. Ich glättete die Scheine und steckte sie ein. Dann ging ich hinaus. Verflucht, von jetzt an würde ich um jedes Auto einen Bogen machen müssen. Autos waren Freunde, aber Karl war uns noch viel mehr gewesen. Ein Kamerad! Karl, das Chausseegespenst. Wir hatten zusammengehört. Karl und Köster, Karl und Lenz, Karl und Pat. Ich stampfte zornig und hilflos den Schnee von meinen Füßen. Lenz war tot. Karl war fort. Und Pat? Mit geblendeten Augen starrte ich in den Himmel, diesen grauen, endlosen Himmel eines irren Gottes, der das Leben und das Sterben erfunden hatte, um sich zu unterhalten.
Nachmittags schlug der Wind um, es wurde klarer und kälter, und abends ging es Pat besser. Sie konnte am nächsten Morgen aufstehen, und ein paar Tage später, als Roth, der Mann, der geheilt war, abreiste, konnte sie sogar mit zur Bahn gehen.
Ein ganzer Schwarm begleitete Roth. Es war hier so üblich, wenn einer abfuhr. Roth selbst war nicht besonders heiter. Er hatte in seiner Weise Pech gehabt. Vor zwei Jahren hatte ihm eine Kapazität auf seine Frage, wie lange er noch zu leben habe, erklärt, daß es höchstens zwei Jahre wären, wenn er sich sorgfältig pflege. Zur Vorsicht hatte er dann noch einen zweiten Arzt auf Wahrheit und Gewissen befragt. Der hatte ihm noch weniger gegeben. Roth hatte darauf sein Vermögen genommen, es auf zwei Jahre eingeteilt und herausgehauen, was ging, ohne sich um seine Krankheit zu kümmern. Mit schweren Blutstürzen wurde er schließlich in das Sanatorium eingeliefert. Und hier begann er sich, anstatt zu sterben, unaufhaltsam zu erholen. Als er kam, hatte er neunzig Pfund gewogen. Jetzt wog er hundertfünfzig und war so gut in Ordnung, daß er wieder hinunterkonnte. Aber sein Geld war weg.
»Was soll ich bloß unten machen?« fragte er mich und kratzte sich den rothaarigen Schädel. »Sie kommen doch gerade daher, wie ist es denn?«
»Es hat sich allerhand verändert«, erwiderte ich und betrachtete sein rundes, ausgepolstertes Gesicht mit den farblosen Augenwimpern. Er war gesund geworden, obschon er aufgegeben worden war, sonst interessierte mich nichts an ihm.
»Ich werde mir eine Stellung suchen müssen«, sagte er. »Wie steht es denn damit jetzt?«
Ich zuckte die Achseln. Wozu sollte ich ihm erklären, daß er wahrscheinlich keine finden würde. Er würde es früh genug selbst sehen.
»Haben Sie Verbindungen, Freunde, oder so was?« fragte ich.
»Freunde — na, Sie wissen ja.« Er lachte spöttisch. »Wenn man plötzlich kein Geld mehr hat, springen sie weg wie Flöhe von einem toten Hund.«
»Dann wird's schwer sein.«
Er zog die Stirn in Falten. »Keine Ahnung, wie das wird. Ich habe nur noch ein paar hundert Mark. Und gelernt habe ich nichts, als Geld auszugeben. Mein Professor scheint doch recht zu behalten, wenn auch auf andere Weise — ich kratze in zwei Jahren ab —, allerdings an einer Kugel.«
Mich packte plötzlich eine unsinnige Wut auf diesen idiotischen Schwätzer. Wußte er denn nicht, was das Leben war? Ich sah vor mir Antonio mit Pat gehen, ich sah ihren unter den Griffen der Krankheit schmaler gewordenen Nacken, ich wußte, wie gerne sie lebte, und ich hätte in diesem Augenblick Roth töten können, wenn Pat dadurch gesund geworden wäre.
Der Zug fuhr ab. Roth winkte mit seinem Hut. Die Zurückbleibenden riefen ihm alles mögliche nach und lachten. Ein Mädchen lief stolpernd ein Stück hinter dem Zug her und schrie mit überkippender, dünner Stimme: »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« Dann kam sie zurück und brach in Tränen aus. Die andern machten verlegene Mienen. »Hallo!« rief Antonio. »Wer am Bahnhof weint, muß eine Buße zahlen! Das ist altes Sanatoriumsgesetz! Buße für die Kasse des nächsten Festes!«
Er hielt mit großer Geste die Hand hin. Die anderen lachten wieder. Auch das Mädchen lächelte unter Tränen über sein armes, spitzes Gesicht und zog ein abgeschabtes Portemonnaie aus der Manteltasche. Mir wurde ganz elend dabei. Diese Gesichter rundum, das war ja gar kein Lachen, das war eine krampfhafte, qualvolle Lustigkeit, es waren Grimassen. »Komm«, sagte ich zu Pat und nahm sie fest unter den Arm.
Wir gingen schweigend die Dorfstraße hinunter. An der nächsten Konditorei hielt ich und holte eine Schachtel Konfekt heraus. »Gebrannte Mandeln«, sagte ich und hielt ihr das Paket hin. »Die ißt du doch gerne, wie?«
»Robby«, sagte Pat. Ihre Lippen zuckten.
»Einen Augenblick«, erwiderte ich und ging rasch in den Blumenladen nebenan. Einigermaßen ruhig kam ich mit meinen Rosen wieder heraus.
»Robby«, sagte Pat.
Ich grinste etwas kläglich. »Werde auf meine alten Tage noch zum Kavalier, Pat.«
Ich wußte nicht, was auf einmal in uns gefahren war. Wahrscheinlich kam es von diesem verdammten abfahrenden Zug. Es war wie ein bleierner Schatten, ein grauer Wind, der alles herunterriß, was man mühsam festhalten wollte. Waren wir nicht plötzlich nur noch zwei verlaufene Kinder, die nicht aus noch ein wußten und gerne tapfer sein wollten? »Komm rasch einen trinken«, sagte ich. Sie nickte. Wir traten in das nächste Café und setzten uns an einen leeren Tisch am Fenster. »Was willst du haben, Pat?«
»Rum«, sagte sie und sah mich an.
»Rum«, wiederholte ich und griff unter dem Tisch nach ihrer Hand. Sie preßte sie heftig in meine. Der Rum kam. Es war Baccardi mit Zitrone. »Mein alter Liebling«, sagte Pat und hob ihr Glas.
»Mein alter, guter Bursche«, sagte ich.
Wir saßen noch eine Weile. »Komisch manchmal, was?«
sagte Pat.
»Ja. Kommt mal so. Geht auch wieder weg.«
Sie nickte. Wir gingen weiter, dicht nebeneinander. Dampfende Schlittenpferde trabten an uns vorbei. Müde, verbrannte Skiläufer, eine Eishockeymannschaft in rot¬weißen Sweatern, krachendes Leben. »Wie fühlst du dich, Pat?« fragte ich.
»Gut, Robby.«
»Sollen uns nur kommen, was?«
»Ja, Liebling.« Sie drückte meinen Arm an sich.
Die Straße wurde leer. Das Abendrot lag wie eine rosa Decke auf den verschneiten Bergen. »Pat«, sagte ich, »du weißt noch gar nicht, daß wir eine Menge Geld haben. Köster hat was geschickt.«
Sie blieb stehen. »Das ist ja wunderbar, Robby. Dann können wir doch einmal ganz richtig ausgehen.«
»Ohne weiteres«, sagte ich. »Sooft wir wollen.«
»Dann gehen wir Sonnabend in den Kursaal. Da ist der letzte große Ball in diesem Jahr.«
»Du darfst doch abends nicht 'raus.«
»Das dürfen die meisten nicht, aber sie tun es doch.«
Ich machte ein bedenkliches Gesicht. »Robby«, sagte Pat, »ich habe in der Zeit, wo du nicht da warst, alles getan, was mir vorgeschrieben wurde. Ich war nur ein ängstliches Rezept, nichts weiter. Es hat nichts genützt. Es ist schlechter mit mir geworden. Unterbrich mich nicht, ich weiß schon, was du sagen willst. Ich weiß auch, worum es geht. Aber die Zeit, die ich noch habe, die Zeit mit dir — laß mich tun, was ich will.«
Ihr Gesicht war rot von der Sonne überschienen. Es war ernst und still und voll großer Zärtlichkeit. Wovon sprechen wir nur? dachte ich mit trockenem Mund, es ist doch unmöglich, daß wir dastehen und über etwas reden, was nie sein kann und nie sein darf. Das ist doch Pat, die diese Worte spricht, gelassen, fast ohne Trauer, als gäbe es nichts mehr dagegen, nicht einmal den armseligen Fetzen einer trügerischen Hoffnung, es ist doch Pat, fast noch ein Kind, das ich beschützen muß, Pat, die plötzlich weit weg von mir ist, vertraut schon und ergeben mit dem Namenlosen auf der anderen Seite.
»Du mußt nicht so etwas sagen«, murmelte ich schließlich. »Ich dachte ja nur, wir könnten vielleicht vorher den Arzt fragen.«
»Wir fragen niemand mehr, niemand!« Sie schüttelte den schönen, schmalen Kopf und sah mich mit ihren geliebten Augen an. »Ich will nichts mehr wissen. Ich will nur noch glücklich sein.«
Abends war Getuschel und Laufen auf den Gängen des Sanatoriums. Antonio kam und brachte eine Einladung. Es sollte noch eine Zusammenkunft im Zimmer eines Russen sein.
»Kann ich denn da so einfach mitgehen?« fragte ich.
»Hier?« fragte Pat zurück.
»Hier kann man vieles, was sonst nicht geht«, sagte Antonio lächelnd.
Der Russe war ein dunkler, älterer Mann. Er bewohnte zwei Zimmer, in denen viele Teppiche lagen. Auf einer Truhe standen Schnapsflaschen. Die Zimmer waren halbdunkel. Es brannten nur Kerzen. Unter den Gästen war eine sehr schöne, junge Spanierin. Sie hatte Geburtstag; das sollte gefeiert werden.
Es war eine eigentümliche Stimmung in diesen überflackerten Räumen, die an einen Unterstand erinnerten mit ihrem halben Licht, und mit der sonderbaren Verbrüderung dieser Menschen, die alle ein gemeinsames Schicksal hatten.
»Was wollen Sie trinken?« fragte mich der Russe. Er hatte eine sehr warme, tiefe Stimme.
»Was Sie haben.«
Er holte eine Flasche Kognak und eine Karaffe Wodka. »Sind Sie gesund?« fragte er.
»Ja«, antwortete ich verlegen.
Er bot mir Zigaretten mit langen Pappmundstücken an. Wir tranken. »Gewiß kommt Ihnen manches hier sonderbar vor, nicht wahr?« meinte er.
»Nicht einmal so sehr«, erwiderte ich. »Ich bin kein normales Leben gewöhnt.«
»Ja«, sagte er und sah mit einem dunklen Blick zu der Spanierin hinüber, »es ist eine Welt für sich hier oben. Sie verändert die Menschen.«
Ich nickte.
»Eine sonderbare Krankheit«, fügte er nachdenklich hinzu. »Sie macht die Menschen lebendiger. Und manchmal besser. Eine mystische Krankheit. Sie schmilzt die Schlacken weg.« Er erhob sich, nickte mir zu und ging zu der Spanierin hinüber, die ihm entgegenlächelte.
»Ein Schmalzpathetiker, was?« fragte jemand hinter mir.
Ein Gesicht ohne Kinn. Eine Beulenstirn. Unruhige, fiebrige Augen.
»Ich bin hier Gast«, sagte ich. »Sie nicht?«
»Damit fängt er die Frauen«, fuhr der andere fort, ohne zuzuhören, »damit fängt er sie. Die Kleine da auch.«
Ich gab keine Antwort. »Wer ist das?« fragte ich Pat, als er weg war.
»Ein Musiker. Geiger. Er ist rettungslos verliebt in die Spanierin. So, wie man sich hier oben verliebt. Aber sie will nichts von ihm wissen. Sie liebt den Russen.«
»Täte ich auch an ihrer Stelle.«
Pat lachte.
»Ich finde, das ist ein Mann zum Verlieben«, sagte ich.
»Du nicht auch?«
»Nein«, erwiderte sie.
»Warst du nie verliebt hier?«
»Nicht sehr.«
»Es wäre mir auch ganz egal«, sagte ich.
»Das sind ja schöne Bekenntnisse.« Pat richtete sich auf.
»Es sollte dir aber ganz und gar nicht egal sein.«
»So meine ich das nicht. Ich kann dir nicht einmal erklären, wie ich es meine. Ich kann es deshalb nicht, weil ich immer noch nicht weiß, was du eigentlich an mir findest.«
»Das laß nur meine Sorge sein«, erwiderte sie.
»Weißt du es denn?«
»Nicht genau«, erwiderte sie lächelnd. »Sonst wäre es ja keine Liebe mehr.«
Der Russe hatte die Flaschen stehengelassen. Ich goß mir ein paar Gläser ein und trank sie leer. Die Stimmung in dem Raum bedrückte mich. Ich sah Pat nicht gern unter all diesen Kranken.
»Gefällt es dir hier nicht?« fragte sie.
»Nicht sehr. Ich muß mich erst daran gewöhnen.«
»Mein armer Liebling...« Sie strich über meine Hand.
»Ich bin nicht arm, wenn du da bist«, sagte ich.
»Ist Rita nicht sehr schön?«
»Nein«, sagte ich, »du bist viel schöner.«
Die junge Spanierin hatte eine Gitarre auf den Knien. Sie zupfte ein paar Akkorde. Dann begann sie zu singen, und es war, als schwebe ein dunkler Vogel durch den Raum. Sie sang spanische Lieder, mit einer halblauten Stimme — der rauhen, brüchigen Stimme der Kranken. Ich wußte nicht: Waren es die fremdartigen, melancholischen Melodien, war es die erschütternde, abendliche Stimme des Mädchens, waren es die Schatten der in Sesseln und auf dem Boden kauernden Kranken, war es das große, geneigte, dunkle Gesicht des Russen: Mit einem Male kam es mir vor, als wäre das alles nur eine schluchzende, stille Beschwörung des Schicksals, das draußen hinter den verhängten Fenstern stand und wartete, eine Bitte, ein Aufschrei und Angst, Angst vor dem Alleinsein mit dem leise fressenden Nichts.
Am nächsten Morgen war Pat fröhlich und ausgelassen. Sie beschäftigte sich mit ihren Kleidern. »Zu weit geworden, viel zu weit«, murmelte sie prüfend vor dem Spiegel. Dann wandte sie sich mir zu.
»Hast du eigentlich deinen Smoking mit, Liebling?«
»Nein«, sagte ich. »Habe nicht gewußt, daß man hier einen braucht.«
»Dann geh zu Antonio. Er wird dir einen leihen. Ihr habt ja die gleiche Figur.«
»Der braucht ihn doch selber.«
»Er zieht einen Frack an.« Sie steckte eine Falte ab. »Und dann geh Skilaufen. Ich muß jetzt hier arbeiten. Das kann ich aber nicht, wenn du dabei bist.«
»Dieser Antonio«, sagte ich, »den plündere ich ja geradezu aus. Was würden wir bloß machen ohne ihn.«
»Er ist ein guter Junge, was?«
»Ja«, erwiderte ich, »das ist das richtige Wort für ihn. Ein guter Junge.«
»Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn er nicht dagewesen wäre, als ich allein war.«
»Daran wollen wir nicht mehr denken«, sagte ich. »Es liegt so weit zurück.«
»Ja.« Sie küßte mich. »Und nun geh Skilaufen.«
Antonio wartete schon auf mich. »Habe mir schon gedacht, daß Sie keinen Smoking mithaben«, sagte er. »Probieren Sie mal die Jacke an.«
Das Jackett war etwas knapp, aber es paßte ganz gut. Antonio pfiff vergnügt und hängte den Anzug heraus. »Das wird ein großer Spaß morgen«, erklärte er. »Glücklicherweise hat die kleine Sekretärin Abenddienst im Büro. Die alte Rexroth würde uns nicht 'rauslassen. Offiziell ist doch das alles verboten. Aber inoffiziell sind wir natürlich keine Kinder mehr.«
Wir gingen Skilaufen. Ich hatte ganz gut gelernt, und wir brauchten nicht mehr auf die Übungswiese. Unterwegs begegneten wir einem Mann mit Brillantringen, karierten Hosen und einem wehenden Künstlerschlips. »Komische Gestalten gibt es hier«, sagte ich.
Antonio lachte. »Das ist ein wichtiger Mann. Ein Leichenbegleiter.«
»Was?« fragte ich erstaunt.
»Ein Leichenbegleiter«, wiederholte Antonio. »Es sind doch hier Kranke aus aller Welt. Besonders viele aus Südamerika. Nun, und die meisten Familien wollen doch ihre Angehörigen zu Hause beerdigen lassen. Dann reist so ein Leichenbegleiter für eine anständige Entschädigung mit und bringt die Zinksärge hin. Auf diese Weise werden diese Leute wohlhabend und kommen viel herum. Den da hat der Tod zum Dandy gemacht, wie Sie sehen.«
Wir stiegen noch eine Zeitlang weiter auf, dann schnallten wir die Schier an und liefen. Die weißen Hänge schwangen auf und ab, und hinter uns raste kläffend, ab und zu bis an die Brust einsinkend, Billy, wie ein rotbrauner Ball. Er hatte sich wieder an mich gewöhnt, wenn er auch oft unterwegs kehrtmachte und spornstreichs mit fliegenden Ohren zum Sanatorium zurückjagte.
Ich übte Kristianias, und jedesmal, wenn ich den Abhang hinunterglitt und mich auf den Schwung vorbereitete und den Körper lose machte, dachte ich: Wenn dieser gelingt, ohne daß ich falle, wird Pat gesund. Der Wind sauste mir um das Gesicht, der Schnee war schwer und zähe, aber ich stemmte mich immer aufs neue ab, ich suchte immer steilere Abfahrten, immer schwierigeres Gelände, und als es wieder und wieder gelang, dachte ich: Gerettet!, und wußte, daß es töricht war, und wurde doch froh wie lange nicht.
Am Samstagabend war großer, heimlicher Aufbruch. Antonio hatte etwas abseits und unterhalb vom Sanatorium Schlitten bestellt. Er selbst rodelte mit Lackschuhen und offenem Mantel, unter dem die weiße Frackbrust herausblitzte, fröhlich jodelnd die Anhöhe hinunter.
»Er ist verrückt«, sagte ich.
»Das macht er oft«, erwiderte Pat. »Er ist grenzenlos leichtsinnig. Damit hält er hier durch. Sonst wäre er nicht immer guter Laune.«
»Dafür werden wir dich um so mehr einpacken.«
Ich wickelte sie in alle Decken und Schals, die wir hatten. Dann stampften die Schlitten bergab. Es war eine lange Kolonne. Alle, die konnten, waren ausgerissen. Man hätte meinen können, eine Hochzeitsgesellschaft führe zu Tal; so festlich nickten die bunten Federbüschel auf den Köpfen der Pferde im Mondlicht; und so viel wurde gelacht und von Schlitten zu Schlitten gerufen.
Der Kursaal war verschwenderisch dekoriert. Es wurde schon getanzt, als wir ankamen. Für die Gäste des Sanatoriums war eine Ecke reserviert, die vor Zugwind von den Fenstern her geschützt war. Es war warm, und es roch nach Blumen, Parfüm und Wein.
Eine Menge Leute saß an unserm Tisch — der Russe, Rita, der Geiger, eine alte Frau, ein geschminkter Totenkopf, ein Gigolo, der dazugehörte, Antonio und noch einige mehr.
»Komm, Robby«, sagte Pat, »wir versuchen einmal zu tanzen.«
Das Parkett drehte sich langsam um uns. Die Geige und das Cello erhoben sich zu einer sanften Kantilene über das raunende Orchester. Leiser schleiften die Füße der Tanzenden über den Boden.
»Aber mein geliebter Liebling, du kannst ja plötzlich wunderbar tanzen«, sagte Pat überrascht. »Na, wunderbar...«
»Doch. Wo hast du das gelernt?«
»Das hat Gottfried mir noch beigebracht«, sagte ich. »In eurer Werkstatt?«
»Ja — und im Café International. Wir brauchten doch auch Damen dazu. Rosa, Marion und Wally haben mir den letzten Schliff gegeben. Ich fürchte nur, es ist nicht gerade sehr elegant dadurch geworden.«
»Doch!« Ihre Augen strahlten. »Zum erstenmal tanzen wir so miteinander, Robby!«
Neben uns tanzte der Russe mit der Spanierin. Er lächelte und nickte uns zu. Die Spanierin war sehr bleich. Das schwarze, glänzende Haar umfaßte ihre Stirn wie ein Rabenflügel. Sie tanzte mit unbewegtem, ernstem Gesicht. Auf ihrem Handgelenk lag ein Armband von viereckigen, großen Smaragden. Sie war achtzehn Jahre alt. Vom Tisch her verfolgte der Geiger sie mit gierigen Augen.
Wir gingen wieder zurück. »Jetzt möchte ich eine Zigarette«, sagte Pat.
»Das solltest du lieber nicht«, erwiderte ich vorsichtig. »Nur ein paar Züge, Robby. Ich habe so lange nicht geraucht.« Sie nahm die Zigarette, legte sie aber bald wieder weg. »Sie schmeckt mir nicht, Robby. Sie schmeckt mir einfach nicht mehr.«
Ich lachte. »Das ist immer so, wenn man etwas lange entbehrt hat.«
»Hast du mich auch lange entbehrt?« fragte sie.
»Es ist nur bei Giften so«, erwiderte ich. »Nur bei Schnaps und Tabak.«
»Menschen sind ein viel schlimmeres Gift als Schnaps und Tabak, Liebling.«
Ich lachte. »Du bist ein kluges Kind, Pat.«
Sie stützte die Arme auf den Tisch und sah mich an.
»Richtig ernst genommen hast du mich doch eigentlich nie, was?«
»Ich habe mich selbst nie richtig ernst genommen«, erwiderte ich.
»Mich auch nicht. Sag mal die Wahrheit.«
»Das weiß ich nicht. Aber uns beide zusammen habe ich immer furchtbar ernst genommen, das weiß ich.«
Sie lächelte. Antonio forderte sie zum Tanzen auf. Beide gingen zum Parkett. Ich sah sie an, während sie tanzte. Sie lächelte mir im Vorbeikommen jedesmal zu. Ihre silbernen Schuhe berührten kaum den Boden. Sie hatte die Bewegungen einer Antilope. Der Russe tanzte wieder mit der Spanierin. Beide schwiegen. Sein großes, dunkles Gesicht war voll verschatteter Zärtlichkeit. Der Geiger hatte einen Versuch gemacht, mit der Spanierin zu tanzen. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und war mit dem Russen zum Parkett gegangen.
Der Geiger zerkrümelte eine Zigarette in den langen, knochigen Fingern. Er tat mir plötzlich leid. Ich bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte ab. »Ich muß mich schonen«, sagte er mit seiner abgehackten Stimme.
Ich nickte. »Der da«, fuhr er kichernd fort und zeigte auf den Russen, »der raucht jeden Tag fünfzig Stück.«
»Der eine macht es so, der andere so«, erwiderte ich. »Wenn sie jetzt auch nicht mit mir tanzen will, ich kriege sie doch noch.«
»Wen?« — »Rita.«
Er rückte näher. »Ich stand gut mit ihr. Wir spielten zusammen. Dann kam der Russe und schnappte sie mir weg mit seinen Tiraden. Aber ich kriege sie wieder.«
»Dann müssen Sie sich aber anstrengen«, sagte ich. Der Mann gefiel mir nicht.
Er brach in ein meckerndes Gelächter aus. »Anstrengen? Sie ahnungsloser Engel! Nur zu warten brauche ich.«
»Dann warten Sie nur.«
»Fünfzig Zigaretten«, flüsterte er, »täglich. Ich habe sein Röntgenbild gestern gesehen. Kaverne neben Kaverne. Fertig.« Er lachte wieder. »Zuerst waren wir gleich. Die Röntgenbilder zum Verwechseln. Jetzt müßten Sie den Unterschied sehen! Ich habe zwei Pfund zugenommen. Nein, mein Lieber, ich brauche nur zu warten und mich zu schonen. Ich freue mich schon auf die nächste Aufnahme. Die Schwester zeigt sie mir jedesmal. Wenn er weg ist, komme ich dran.«
»Auch 'ne Methode«, sagte ich.
»Auch 'ne Methode«, äffte er nach, »die einzige Methode, Sie Grünhorn! Wenn ich versuchen wollte, ihm in die Quere zu kommen, würde ich mir bei ihr die Chancen für später verderben. Nein, Sie Neuling — freundlich, ruhig — warten...« Die Luft wurde dick und schwer. Pat hustete. Ich merkte, daß sie mich ängstlich dabei ansah, und ich tat, als hätte ich nichts gehört. Die alte Frau mit den vielen Perlen saß still und in sich versunken da. Ab und zu lachte sie gellend auf.
Dann war sie sofort wieder ruhig und unbewegt. Der Totenkopf zankte mit dem Gigolo.
Der Russe rauchte eine Zigarette nach der andern. Der Geiger gab ihm Feuer. Ein Mädchen schluckte plötzlich krampfhaft, hielt das Taschentuch vor den Mund, sah hinein und wurde blaß.
Ich blickte den Saal entlang. Da waren die Tische der Sportsleute, da die Tische mit gesunden Bürgern, da saßen Franzosen, da Engländer, Holländer mit den behäbigen Silben ihrer Sprache, die nach Wiesen und Meer klang — und zwischen ihnen hockte die kleine Kolonie der Krankheit und des Todes, fiebrig, schön und verloren. Wiesen und Meer — ich sah Pat an — Wiesen und Meer — Schaum und Sand und Schwimmen —, ach, dachte ich, du geliebte schmale Stirn! Ihr geliebten Hände! Du geliebtes Leben, das man nur lieben, aber nicht retten kann.
Ich stand auf und ging nach draußen. Mir war heiß vor Bedrängnis und Ohnmacht. Ich ging langsam den Weg entlang. Die Kälte durchrieselte mich, und der Wind hinter den Häusern ließ meine Haut frösteln. Ich ballte die Fäuste und starrte lange gegen die harten weißen Berge, in einem wilden Gemisch von Haltlosigkeit, Wut und Schmerz.
Ein Schlitten klingelte unten auf der Straße vorbei. Ich ging zurück. Pat kam mir entgegen. »Wo warst du?«
»Mal draußen.«
»Bist du schlecht gelaunt?«
»Gar nicht.«
»Liebling, sei froh! Sei froh heute! Meinetwegen! Wer weiß, wann ich wieder auf einen Ball gehen kann.«
»Noch sehr oft.«
Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. »Wenn du es sagst, ist es sicher wahr. Komm, wir wollen tanzen. Zum erstenmal tanzen wir miteinander.«
Wir tanzten, und das warme, weiche Licht war barmherzig; es verdeckte alle Schatten, die die vorgeschrittene Nacht in die Gesichter zeichnete. »Wie fühlst du dich?« fragte ich.
»Gut, Robby.«
»Wie schön du bist, Pat.«
Ihre Augen leuchteten. »Schön, daß du mir das sagst.«
Ich fühlte ihre warmen, trockenen Lippen an meiner Wange.
Es war spät, als wir im Sanatorium ankamen. »Sehen Sie nur, wie er aussieht«, kicherte der Geiger und zeigte verstohlen auf den Russen.
»Sie sehen genauso aus«, sagte ich ärgerlich.
Er sah mich verblüfft an. »Na ja, Sie Gesundheitsprotz«, sagte er giftig.
Ich gab dem Russen die Hand. Er nickte mir zu und half der jungen Spanierin behutsam und zart die Treppe hinauf. Sein großer, gebeugter Rücken und die schmalen Schultern des Mädchens vor der schwachen Nachtbeleuchtung sahen im Ansteigen aus, als läge die Last der ganzen Welt auf ihnen. Der Totenkopf zerrte den maulenden Gigolo den Gang entlang. Antonio sagte uns gute Nacht. Es war alles ein wenig gespenstisch, dieser fast lautlose, geflüsterte Abschied.
Pat streifte sich das Kleid über den Kopf. Sie stand gebückt und zerrte an den Schultern. Dabei riß der Brokat. Pat betrachtete die Stelle.
»Es war wohl schon brüchig«, sagte ich.
»Es macht nichts«, sagte Pat, »ich brauche es nun doch nicht mehr.«
Sie legte das Kleid zusammen und hängte es nicht mehr in den Schrank. Sie legte es in ihren Koffer. Ihr Gesicht war plötzlich müde.
»Sieh nur, was ich hier habe«, sagte ich rasch und zog eine Flasche Champagner aus der Manteltasche. »Jetzt kommt unser eigenes kleines Fest.«
Ich holte die Gläser und schenkte ein. Sie lächelte wieder und trank.
»Auf uns beide, Pat.«
»Ja, mein Liebling, auf unser schönes Leben.«
Wie sonderbar das alles war: dieses Zimmer, die Stille und unsere Traurigkeit. Lag hinter der Tür nicht das Leben, unendlich, mit Wäldern, Flüssen und starkem Atem, blühend und unruhig, klopfte jenseits der weißen Berge der März nicht schon unruhig an die erwachende Erde?
»Bleibst du die Nacht bei mir, Robby?«
»Ja, laß uns zu Bett gehen. Wir wollen so nahe zusammen sein, wie es Menschen können, und unser Glas auf die Bettdecke stellen und trinken.«
Trinken. Goldbraune Haut. Warten. Wach sein. Stille und das leise Röcheln der geliebten Brust.

29

XXVIII

Das Wetter wurde föhnig. Eine klatschende nasse Wärme jagte durch das Tal. Der Schnee wurde weich. Es tropfte von den Dächern. Die Fieberkurven stiegen. Pat mußte zu Bett bleiben. Der Arzt kam alle paar Stunden. Sein Gesicht wurde immer besorgter.
Eines Mittags saß ich beim Essen, als Antonio kam und sich zu mir setzte. »Rita ist tot«, sagte er.
»Rita? Sie meinen den Russen?«
»Nein, Rita, die Spanierin.«
»Das ist unmöglich«, sagte ich und spürte, wie mir das Blut gefror. Rita war viel weniger krank gewesen als Pat.
»Hier ist viel mehr möglich«, erwiderte Antonio melancholisch. »Heute vormittag war sie tot. Es ist Lungenentzündung dazugekommen.«
»Lungenentzündung. Das ist was anderes«, sagte ich erleichtert.
»Achtzehn Jahre. Schrecklich. Und so schwer gestorben.«
»Und der Russe?«
»Ach, fragen Sie nicht. Er will nicht glauben, daß sie tot ist. Er behauptet, sie sei scheintot. Er sitzt an ihrem Bett, und niemand kann ihn aus dem Zimmer bringen.«
Antonio ging. Ich starrte aus dem Fenster. Rita war tot; aber ich saß nur da und dachte: Es ist nicht Pat. Es ist nicht Pat.
Durch den verglasten Korridor sah ich den Geiger. Ehe ich aufstehen konnte, kam er schon heran. Er sah schrecklich aus.
»Sie rauchen?« sagte ich, um etwas zu sagen.
Er lachte auf. »Natürlich! Warum denn nicht? Jetzt? Ist doch egal, nun.«
Ich zuckte die Achseln. »Macht Ihnen wohl Spaß, Sie Tugendfatzke?« fragte er höhnisch.
»Sie sind verrückt«, sagte ich.
»Verrückt? Nein, aber 'reingefallen!« Er legte sich breit über den Tisch und blies mir Kognakatem ins Gesicht, »'reingefallen bin ich. 'reingelegt haben sie mich. Die Schweine. Alles Schweine. Sie auch, Sie Tugendschwein.«
»Wenn Sie nicht krank wären, würde ich Sie durchs Fenster werfen«, sagte ich.
»Krank? Krank?« äffte er. »'Gesund bin ich, fast gesund, ich komme ja grade daher! Wunderbarer Fall von rapider Verkapselung! Ein Witz, was?«
»Seien Sie froh«, sagte ich. »Wenn Sie hier fort sind, werden Sie auch Ihre Kümmernisse vergessen.«
»So«, erwiderte er, »so, meinen Sie? Sie praktisches Gehirnchen, Sie! Gott erhalte Ihnen Ihre pausbäckige Seele!«
Er schwankte weg, kehrte aber wieder um. »Kommen Sie mit! Bleiben Sie bei mir, lassen Sie uns trinken. Ich zahle alles. Ich kann nicht allein sein.«
»Habe keine Zeit«, sagte ich. »Suchen Sie sich jemand andern.«
Ich ging wieder zu Pat hinauf. Sie lag schwer atmend, mit vielen Kissen im Rücken. »Willst du nicht Schilaufen?« fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Der Schnee ist zu schlecht. Es taut überall.«
»Willst du dann nicht mit Antonio Schach spielen?«
»Nein«, sagte ich. »Ich will hier bei dir bleiben.«
»Armer Robby!« Sie versuchte, eine Bewegung zu machen. »Hol dir doch wenigstens was zu trinken.«
»Das kann ich tun.«
Ich ging in mein Zimmer und holte eine Flasche Kognak und ein Glas. »Willst du ein bißchen?« fragte ich. »Du darfst, das weißt du doch.« Sie nahm einen kleinen Schluck und nach einer Weile noch einen. Dann gab sie mir das Glas zurück. Ich schenkte es voll und trank es aus.
»Du solltest nicht aus demselben Glas trinken wie ich«, sagte Pat.
»Das wäre ja noch schöner.« Ich goß das Glas noch einmal voll und stürzte es hinunter.
Sie schüttelte den Kopf. »Du mußt das nicht tun, Robby. Du darfst mich auch nicht mehr küssen. Du darfst überhaupt nicht mehr so viel bei mir sein. Du sollst nicht krank werden.«
»Ich werde dich küssen und mich den Teufel um etwas scheren«, erwiderte ich.
»Nein, du darfst nicht. Du darfst auch nicht mehr in meinem Bett schlafen.«
»Gut, dann schlaf du mit mir in meinem.«
Sie bewegte abwehrend den Mund. »Laß das, Robby. Du mußt noch lange leben. Ich will, daß du gesund bleibst und Kinder hast und eine Frau.«
»Ich will weder Kinder noch eine Frau haben außer dir. Du bist mein Kind und meine Frau.«
Sie lag eine Weile still. »Ich hätte gern ein Kind von dir gehabt, Robby«, sagte sie dann und legte ihr Gesicht an meine Schulter. »Früher wollte ich es nie. Ich konnte es mir gar nicht vorstellen. Aber jetzt denke ich oft daran. Es wäre schön, wenn etwas von einem bliebe. Das Kind würde dich dann manchmal ansehen, und du würdest dich an mich erinnern. Dann wäre ich wieder da solange.«
»Wir werden noch ein Kind haben«, sagte ich. »Wenn du wieder gesund bist. Ich möchte gern ein Kind von dir haben, Pat. Es muß aber ein Mädchen sein, das auch Pat heißt.«
Sie nahm mir das Glas aus der Hand und trank einen Schluck.
»Vielleicht ist es besser, daß wir keins haben, Liebling. Du sollst nichts mitnehmen. Du sollst mich vergessen. Und wenn du an mich denkst, sollst du nur denken, daß es schön war mit uns — mehr nicht. Daß es vorbeigegangen ist, das werden wir doch nie begreifen. Traurig sollst du nicht sein.«
»Ich bin traurig, wenn du so etwas sagst.«
Sie sah mich eine Zeitlang an. »Wenn man so liegt, denkt man über manches nach. Und vieles kommt einem sonderbar vor, was man sonst gar nicht beachtet. Weißt du, was ich jetzt nicht mehr verstehen kann? Daß man sich so liebt wie wir und daß trotzdem einer stirbt.«
»Sei still«, sagte ich. »Einer muß immer zuerst sterben, immer im Leben. Aber so weit sind wir noch lange nicht.«
»Man dürfte nur sterben, wenn man allein ist. Oder wenn man sich haßt — aber nicht, wenn man sich liebt.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Ja, Pat«, sagte ich und nahm ihre heißen Hände in meine, »wenn wir die Welt machen würden, würde sie besser aussehen, was?«
Sie nickte. »Ja, Liebling. Wir würden solche Sachen nicht zulassen. Wenn man nur wüßte, was dahinter ist. Glaubst du, daß es weitergeht, nachher?«
»Ja«, erwiderte ich. »Es ist so schlecht gemacht, daß es nicht zu Ende sein kann.«
Sie lächelte. »Das ist auch ein Grund. Aber findest du das auch schlecht gemacht?« Sie zeigte auf einen Busch gelber Rosen neben ihrem Bett.
»Das ist es ja gerade«, erwiderte ich. »Die Einzelheiten sind wunderbar, aber das Ganze hat keinen Sinn. Als wenn es von einem gemacht ist, dem auf die wunderbare Vielfalt des Lebens nichts anderes eingefallen ist, als es wieder zu vernichten.«
»Und es wieder neu zu machen«, sagte Pat.
»Auch da sehe ich den Sinn nicht«, erwiderte ich. »Besser ist es dadurch bis heute nicht geworden.«
»Doch Liebling«, sagte Pat, »mit uns, das hat er schon gut gemacht. Besser ging's gar nicht. Nur zu kurz. Viel zu kurz.«
Ein paar Tage später spürte ich Stiche in der Brust und hustete. Der Chefarzt hörte den Lärm, als er über den Korridor ging, und steckte den Kopf in mein Zimmer. »Kommen Sie doch mal mit ins Sprechzimmer.«
»Es ist weiter nichts«, sagte ich.
»Das ist egal«, erwiderte er. »Mit so einem Husten dürfen Sie nicht bei Fräulein Hollmann sitzen. Kommen Sie mal gleich mit.«
Ich zog mir mit einer sonderbaren Befriedigung im Sprechzimmer das Hemd aus. Hier oben erschien einem Gesundheit fast wie ein unberechtigter Vorteil; man kam sich wie ein Schieber und Drückeberger vor.
Der Chefarzt sah mich eigentümlich an. »Sie scheinen sich ja noch zu freuen«, sagte er stirnrunzelnd.
Dann untersuchte er mich sorgfältig. Ich sah mir die blanken Dinge an den Wänden an und atmete tief und langsam und schnell und kurz ein und aus, wie er es verlangte. Dabei spürte ich wieder die Stiche und war zufrieden, Pat jetzt etwa weniger voraus zu haben.
»Sie sind erkältet«, sagte der Chefarzt. »Legen Sie sich ein oder zwei Tage ins Bett oder bleiben Sie wenigstens in Ihrem Zimmer. Zu Fräulein Hollmann dürfen Sie nicht hinein. Nicht Ihretwegen — Fräulein Hollmanns wegen.«
»Kann ich durch die Tür mit ihr sprechen?« fragte ich. »Oder über den Balkon?«
»Über den Balkon ja, aber nur ein paar Minuten, und durch die Tür meinetwegen auch, wenn Sie fleißig gurgeln. Sie haben außer der Erkältung auch noch einen Raucherkatarrh.«
»Und die Lunge?« Ich hatte irgendwie die Erwartung, daß wenigstens eine Kleinigkeit daran nicht in Ordnung wäre. Ich hätte mich Pat gegenüber besser gefühlt.
»Aus Ihrer Lunge könnte man drei machen«, erklärte der Chefarzt. »Sie sind der gesündeste Mensch, den ich seit langem gesehen habe. Sie haben nur eine ziemlich harte Leber. Wahrscheinlich trinken Sie zuviel.«
Er verschrieb mir etwas, und ich ging zurück.
»Robby«, fragte Pat aus ihrem Zimmer, »was hat er gesagt?«
»Ich darf nicht zu dir, einstweilen«, erwiderte ich unter der Tür. »Strenges Verbot. Ansteckungsgefahr.«
»Siehst du«, sagte sie erschrocken, »ich habe es immer schon nicht mehr gewollt.«
»Ansteckungsgefahr für dich, Pat. Nicht für mich.«
»Laß den Unsinn«, sagte sie. »Erzähle mir genau, was los ist.«
»Es ist genau so. Schwester« — ich winkte der Stationsschwester, die mir gerade die Medikamente brachte —, »sagen Sie Fräulein Hollmann, wer der Gefährlichere von uns beiden ist.«
»Herr Lohkamp«, erklärte die Schwester. »Er darf nicht 'raus, damit er Sie nicht ansteckt.«
Pat sah ungläubig von der Schwester zu mir. Ich zeigte ihr die Medikamente durch die Tür. Sie begriff, daß es stimmte, und begann zu lachen, immer mehr, sie lachte, bis ihr die Tränen kamen und sie schmerzhaft zu husten anfing, so daß die Schwester hinlaufen und sie stützen mußte. »Mein Gott, Liebling«, flüsterte sie, »das ist zu komisch. Und wie stolz du aussiehst!« Sie war den ganzen Abend fröhlich. Ich ließ sie natürlich nicht allein, sondern saß in einem dicken Mantel, einen Schal um den Hals, bis Mitternacht auf dem Balkon, eine Zigarre in der einen und ein Glas in der andern Hand, eine Kognakflasche zu meinen Füßen, und erzählte ihr Geschichten aus meinem Leben, immer wieder von ihrem leisen Vogelgelächter unterbrochen und angetrieben, ich log, was ich konnte, um das Lachen, über ihr Gesicht gleiten zu sehen, ich war glücklich über meinen bellenden Husten und trank die Flasche leer und war am nächsten Morgen gesund.
Der Föhn kam wieder. Der Wind rüttelte an den Fenstern, die Wolken hingen tief, der Schnee schob sich zusammen und polterte durch die Nächte, und die Kranken lagen gereizt und aufgepeitscht wach und horchten hinaus. An den geschützten Hängen fingen die Krokusse an zu blühen, und auf der Straße erschienen zwischen den Schlitten die ersten Wagen mit hohen Rädern.
Pat wurde immer schwächer. Sie konnte nicht mehr aufstehen. In den Nächten hatte sie oft Erstickungsanfälle. Dann wurde sie grau vor Todesangst. Ich hielt ihre nassen, kraftlosen Hände. »Nur diese Stunde überstehen!« keuchte sie, »nur diese Stunde, Robby. Da sterben sie...«
Sie hatte Angst vor der letzten Stunde zwischen Nacht und Morgen. Sie glaubte, daß mit dem Ende der Nacht der geheime Strom des Lebens schwächer würde und fast erlosch — und nur vor dieser Stunde hatte sie Furcht und wollte nicht allein sein. Sonst war sie so tapfer, daß ich oft die Zähne zusammenbeißen mußte.
Ich ließ mein Bett in ihr Zimmer stellen und setzte mich zu ihr, wenn sie erwachte und wenn in ihre Augen das verzweifelte Flehen kam. Ich dachte oft an die Morphiumampullen in meinem Koffer, und ich hätte es ohne Nachdenken getan, wenn sie nicht so dankbar für jeden neuen Tag gewesen wäre.
Ich saß bei ihr am Bett und erzählte ihr, was mir gerade einfiel. Sie durfte nicht viel sprechen, und sie hörte gern zu, wenn ich ihr erzählte, was mir alles schon so passiert war. Am liebsten hörte sie Geschichten aus meiner Schulzeit, und manchmal, wenn sie kurz vorher noch einen Anfall gehabt hatte und blaß und zerschlagen in den Kissen saß, verlangte sie schon wieder, daß ich ihr irgendeine Type von meinen Lehrern vormachte. Fuchtelnd und schnaufend, einen imaginären roten Vollbart streichend, wanderte ich dann durchs Zimmer und gab mit knarrender Stimme Kathederblüten von mir. Ich erfand täglich neue hinzu, und Pat wußte allmählich unter den Raufbolden und Lümmeln unserer Klasse, die den Lehrern immer neuen Ärger bereitet hatten, sehr gut Bescheid. Einmal kam die Nachtschwester dazu, angelockt durch den polternden Baß unseres Rektors, und es dauerte eine ganze Weile, ehe ich ihr zum Vergnügen Pats klargemacht hatte, daß ich nicht verrückt geworden sei, weil ich mitten in der Nacht in einer Pelerine und einem Schlapphut im Zimmer herumhopste und einem gewissen Karl Ossege furchtbar die Leviten las, der heimtückisch das Katheder angesägt hatte.
Langsam sickerte dann das Tageslicht durch das Fenster. Die Bergrücken wurden messerscharfe, schwarze Silhouetten. Der Himmel hinter ihnen fing an, kalt und blaß zurückzuweichen. Die Nachttischlampe verrostete zu bleichem Gelb, und Pat legte ihr feuchtes Gesicht in meine Hände. »Es ist vorbei, Robby. Jetzt habe ich wieder einen Tag dazu.«
Antonio brachte mir seinen Radioapparat. Ich schloß ihn an die Lichtleitung und die Heizung an und probierte ihn abends bei Pat aus. Er quarrte und quakte, dann löste sich plötzlich aus dem Schnarren eine zarte, klare Musik.
»Was ist das, Liebling?« fragte Pat.
Antonio hatte mir eine Radiozeitschrift mitgegeben. Ich schlug nach. »Rom, glaube ich.«
Da kam auch schon die tiefe, metallische Stimme der Ansagerin. »Radio Roma — Napoli — Firenze...«
Ich drehte weiter. Ein Klaviersolo. »Da brauche ich gar nicht nachzuschlagen«, sagte ich. »Das ist die Waldsteinsonate von Beethoven. Die habe ich auch mal spielen können in den Zeiten, als ich noch glaubte, irgendwann mal Studienrat, Professor oder Komponist zu werden. Jetzt kann ich sie längst nicht mehr. Wollen lieber weiterdrehen. Sind keine schönen Erinnerungen.«
Ein warmer Alt, sehr leise und einschmeichelnd. »Parlez — moi d'amour.« — »Paris, Pat.«
Ein Vortrag über die Bekämpfung der Reblaus. Ich drehte weiter. Reklamenachrichten. Ein Quartett. »Was ist das?« fragte Pat.
»Prag. Streichquartett, Opus 59, zwei, Beethoven«, las ich vor.
Ich wartete, bis der Satz zu Ende war, dann drehte ich weiter, und auf einmal war eine Geige da, eine wunderbare Geige. »Das wird Budapest sein, Pat. Zigeunermusik.«
Ich stellte die Skala genau ein. Voll und weich schwebte jetzt die Melodie über dem mitflutenden Orchester von Cimbals, Geigen und Hirtenflöten. »Herrlich, Pat, was?«
Sie schwieg. Ich wandte mich um. Sie weinte mit weit geöffneten Augen. Ich stellte mit einem Ruck den Apparat ab. »Was ist denn, Pat?« Ich legte den Arm um ihre schmalen Schultern.
»Nichts, Robby. Es ist dumm von mir. Nur wenn man das so hört, Paris, Rom, Budapest — mein Gott, und ich wäre schon froh, wenn ich noch einmal ins Dorf hinunter könnte.«
»Aber Pat.«
Ich sagte ihr alles, was ich ihr sagen konnte, um sie darüber wegzubringen. Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht traurig, Liebling. Du mußt das nicht glauben. Ich bin nicht traurig, wenn ich weine. Es kommt wohl mal so, aber nicht lange. Dafür denke ich viel zuviel nach.«
»Worüber denkst du denn nach?« fragte ich und küßte ihr Haar.
»Über das einzige, worüber ich noch nachdenken kann — über Leben und Sterben. Wenn ich dann traurig bin und nichts mehr verstehe, sage ich mir, daß es besser ist, zu sterben, wenn man noch leben möchte, als zu sterben und man möchte auch sterben. Was meinst du?«
»Ich weiß nicht.«
»Doch.« Sie lehnte den Kopf an meine Schulter. »Wenn man noch leben möchte, dann ist etwas da, was man liebt. Es ist schwerer, aber auch leichter. Sieh, sterben hätte ich doch müssen, und nun bin ich dankbar, daß ich dich hatte. Ich hätte ja auch allein und unglücklich sein können. Dann wäre ich gern gestorben. Jetzt ist es schwer; aber dafür bin ich auch ganz voll Liebe, wie eine Biene voll Honig, wenn sie abends in den Stock zurückkommt. Wenn ich wählen sollte — ich würde zwischen beiden immer wieder dasselbe wählen.« Sie sah mich an. »Pat«, sagte ich, »es gibt noch ein Drittes — wenn der Föhn aufhört, dann wird es dir besser gehen, und wir werden hier fortfahren.« Sie blickte mich weiter prüfend an. »Um dich habe ich Angst, Robby. Für dich ist es viel schwerer als für mich.« »Wir wollen nicht mehr darüber sprechen«, sagte ich. »Ich habe es nur gesagt, damit du nicht denkst, ich sei traurig«, erwiderte sie. »Ich glaube auch nicht, daß du traurig bist.« Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Willst du nicht dir Zigeuner wieder spielen lassen?«

»Willst du sie hören?«
»Ja, Liebling.«

Ich stellte den Apparat wieder an, und leise, dann immer voller klang die Geige mit den Flöten und den gedämpften Arpeggien der Cimbals durch das Zimmer.
»Schön«, sagte Pat. »Wie ein Wind. Ein Wind, der einen wegträgt.«
Es war ein Abendkonzert aus einem Gartenrestaurant in Budapest. Das Gespräch der Gäste war manchmal durch das Raunen der Musik zu vernehmen, und ab und zu hörte man einen hellen, fröhlichen Ruf. Man konnte denken, daß jetzt auf der Margaretheninsel die Kastanien schon das erste Laub hatten und daß es blaß im Monde schimmerte und sich bewegte, als würde es durch den Geigenwind angeweht. Vielleicht war es auch schon ein warmer Abend, und die Leute saßen im Freien und hatten Gläser mit dem gelben ungarischen Wein vor sich stehen, die Kellner liefen in ihren weißen Jacken hin und her, die Zigeuner spielten, nachher ging man durch die grüne Frühjahrsdämmerung müde nach Hause, und da lag Pat und lächelte und würde nie wieder aus diesem Zimmer herauskommen, nie wieder aus diesem Bette aufstehen.
Dann, plötzlich, ging alles sehr schnell. Das Fleisch ihres Gesichtes schmolz. Die Backenknochen traten hervor, und an den Schläfen kam die Stirn durch. Die Arme waren dünn wie Kinderarme, die Rippen spannten sich unter der Haut, und das Fieber raste in immer neuen Stößen durch den schmalen Körper. Die Schwester brachte Sauerstoffballons, und der Arzt kam jede Stunde.
Eines Nachmittags sank das Fieber unerklärlicherweise rasch. Pat wachte auf und sah mich lange an. »Gib mir einen Spiegel«, flüsterte sie dann.
»Wozu willst du einen Spiegel?« sagte ich. »Ruh dich aus, Pat. Ich glaube, du bist jetzt durch. Du hast kein Fieber mehr.«
»Nein«, flüsterte sie mit ihrer zerborstenen, verbrannten Stimme, »gib mir den Spiegel.«
Ich ging um das Bett herum, nahm den Spiegel und ließ ihn fallen. Er zersprang. »Entschuldige«, sagte ich. »So was ungeschicktes. Fällt mir einfach aus der Hand und ist auch gleich in tausend Scherben.«
»In meiner Tasche ist noch einer, Robby.«
Es war ein kleiner Spiegel aus verchromtem Nickel. Ich wischte mit der Hand darüber, damit er etwas erblindete, und gab ihn Pat. Sie rieb ihn mühsam sauber und sah angestrengt hinein. »Du mußt abreisen, Liebling«, flüsterte sie dann.
»Warum denn? Magst du mich nicht mehr?«
»Du sollst mich nicht mehr sehen. Das bin ich nicht mehr.«
Ich nahm ihr den Spiegel ab. »Diese Metalldinger taugen nichts, Pat. Sieh nur, wie ich darin ausschaue. Blaß und mager. Dabei bin ich doch braun und kräftig. Ganz wellig ist das Ding.«
»Du sollst eine andere Erinnerung an mich behalten«, flüsterte sie. »Fahr weg, Liebling. Ich werde schon allein damit fertig.«
Ich beruhigte sie. Sie verlangte den Spiegel wieder und ihre Tasche. Dann begann sie sich zu pudern, das arme, abgezehrte Gesicht, die zerrissenen Lippen, die schweren, braunen Höhlen unter den Augen. »Nur etwas, Liebling«, sagte sie und versuchte zu lächeln, »du sollst mich nicht häßlich sehen.«
»Du kannst machen, was du willst«, sagte ich, »du wirst nie häßlich sein. Für mich bist du die schönste Frau, die ich je gesehen habe.«
Ich nahm den Spiegel und die Puderdose fort und legte meine Hände vorsichtig um ihren Kopf. Nach einiger Zeit wurde sie unruhig.
»Was ist, Pat?« fragte ich.
»Es tickt so laut«, flüsterte sie.
»Was? Die Uhr?«
Sie nickte. »Es dröhnt so...«
Ich machte die Uhr von meinem Handgelenk los.
Sie blickte angstvoll auf den Sekundenzeiger. »Tu sie weg...«
Ich nahm die Uhr und warf sie gegen die Wand. »So, jetzt tickt sie nicht mehr. Jetzt steht die Zeit still. Wir haben sie mitten durchgerissen. Nur wir beide sind noch da, nur wir beide, du und ich, und niemand sonst.«
Sie sah mich an. Ihre Augen waren sehr groß. »Liebling...« flüsterte sie.
Ich konnte ihren Blick nicht ertragen. Er kam weit her und ging durch mich hindurch, irgendwohin. »Alter Bursche«, murmelte ich, »mein geliebter, tapferer, alter Bursche.«
Sie starb in der letzten Stunde der Nacht, bevor es Morgen wurde. Sie starb schwer und qualvoll, und niemand konnte ihr helfen. Sie hielt meine Hand fest, aber sie wußte nicht mehr, daß ich bei ihr war. Irgendwann sagte jemand: »Sie ist tot...«
»Nein«, erwiderte ich, »sie ist noch nicht tot. Sie hält meine Hand noch fest...«
Licht. Unerträgliches, grelles Licht. Menschen. Der Arzt. Ich öffnete langsam meine Hand. Pats Hand fiel herunter. Blut. Ein verzerrtes, ersticktes Gesicht. Qualvolle, starre Augen. Braunes, seidiges Haar.
»Pat«, sagte ich. »Pat!«
Und zum ersten Male antwortete sie mir nicht.
»Möchte allein sein«, sagte ich.
»Soll nicht erst...« fragte jemand. »Nein«, sagte ich. »'rausgehen. Nicht anfassen.« Ich habe ihr dann das Blut abgewaschen. Ich war aus Holz. Ich habe ihr das Haar gekämmt. Sie wurde kalt. Ich habe sie in mein Bett gelegt und die Decken über sie gedeckt. Ich habe bei ihr gesessen, und ich konnte nichts denken. Ich habe auf dem Stuhl gesessen und sie angestarrt. Der Hund kam herein und setzte sich zu mir. Ich habe gesehen, wie ihr Gesicht anders wurde. Ich konnte nichts tun, als leer dasitzen und sie ansehen. Dann kam der Morgen, und sie war es nicht mehr.

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Lucian
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Äðóæáà, ðàáîòà, êðàñèâàÿ ëþáîâü.
Ïîêà ÷òî íðàâèòñÿ âñ¸.

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Ìíå âîò òàê Ãîòòôðèä Ëåíö íðàâèòñÿ... è íè çà ÷òî ÷åëîâåêà çàñòðåëèëè. À áîëüøå âñåõ - Îòòî ʸñòåð, ìîëîäåö ìóæèê, îðãàíèçóåò òîâàðèùåé ñâîèõ êàê íàäî. È íà ïîìîùü âñåãäà ïåðâûé, è íåò òàêîãî äåëà, êîòîðîå îí íå ñìîæåò ñäåëàòü... À âîò ãëàâíûé ãåðîé - Ðîááè Ëîêàìï - âîîáùå íèêàê íå íðàâèòñÿ. Îãðàíè÷åííûé ÷åëîâåê.
Âïðî÷åì, òÿæåëî êîãî-ëèáî ñóäèòü - èç òåõ, êòî ïðîøåë âîéíó. Íà âîéíå îíè áûëè íóæíû, ó íèõ áûëà öåëü è ÷åòêî îïðåäåëåííûé âðàã. À íà ãðàæäàíêå èì, òðåì òîâàðèùàì, ñ êåì áîðîòüñÿ? Ðàñòåðÿííû, íå çíàþò, êóäà èäòè... Ðîááè âîò â ëþáâè èùåò ñïàñåíèå, íî òîæå íå íàøåë...
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Âû çäåñü » Ñëàâÿíñêàÿ Ôåäåðàöèÿ » Êëàññèêà » Erich Maria Remarque - Drei Kameraden