Ñëàâÿíñêàÿ Ôåäåðàöèÿ

Èíôîðìàöèÿ î ïîëüçîâàòåëå

Ïðèâåò, Ãîñòü! Âîéäèòå èëè çàðåãèñòðèðóéòåñü.


Âû çäåñü » Ñëàâÿíñêàÿ Ôåäåðàöèÿ » Êëàññèêà » Erich Maria Remarque - Drei Kameraden


Erich Maria Remarque - Drei Kameraden

Ñîîáùåíèé 1 ñòðàíèöà 20 èç 53

1

Erich Maria Remarque  -  Drei Kameraden
Ýðèê Ìàðèÿ Ðåìàðê  -  Òðè òîâàðèùà

Áóäó âûêëàäûâàòü ÐÎÂÍÎ ïî îäíîé ãëàâå, òàê êàê áîëüøå íå ìîæåò, äà è ÷èòàòü òàê óäîáíåå!
Ïðèÿòíîãî ÷òåíèÿ! :)

Îòðåäàêòèðîâàíî Lucian (2007-01-24 00:44:48)

2

I

Der Himmel war gelb wie Messing und noch nicht verqualmt vom Rauch der Schornsteine. Hinter den Dächern der Fabrik leuchtete er sehr stark. Die Sonne mußte gleich aufgehen. Ich sah nach der Uhr. Es war noch vor acht. Eine Viertelstunde zu früh.
Ich schloß das Tor auf und machte die Benzinpumpe fertig. Um diese Zeit kamen immer schon ein paar Wagen vorbei, die tanken wollten. Plötzlich hörte ich hinter mir ein heiseres Krächzen, das klang, als ob unter der Erde ein rostiges Gewinde hochgedreht würde. Ich blieb stehen und lauschte. Dann ging ich über den Hof zurück zur Werkstatt und machte vorsichtig die Tür auf. In dem halbdunklen Raum taumelte ein Gespenst umher. Es trug ein schmutziges weißes Kopftuch, eine blaue Schürze, dicke Pantoffeln, schwenkte einen Besen, wog neunzig Kilo und war die Scheuerfrau Mathilde Stoß.
Ich blieb eine Weile stehen und sah ihr zu. Sie hatte die Grazie eines Nilpferdes, wie sie da zwischen den Autokühlern hin und her torkelte und mit dumpfer Stimme das Lied vom treuen Husaren sang. Auf dem Tisch am Fenster standen zwei Kognakflaschen. Eine davon war fast leer. Am Abend vorher war sie voll gewesen. Ich hatte vergessen, sie einzuschließen.
»Aber Frau Stoß«, sagte ich.
Der Gesang brach ab. Der Besen fiel zu Boden. Das selige Grinsen erlosch. Jetzt war ich das Gespenst. »Jesus Christus«, stammelte Mathilde und starrte mich aus roten Augen an. »Ihnen hab' ich noch nich erwartet...«
»Kann ich verstehen. Hat's geschmeckt?«
»Das ja — aber's is mir peinlich.« Sie wischte sich über den Mund. »Direkt platt bin ich...«
»Na, das ist nun eine Übertreibung. Sie sind nur voll. Voll wie eine Strandhaubitze.«
Sie hielt sich mühsam aufrecht. Ihr Schnurrbart zuckte, und ihre Augenlider klapperten wie bei einem alten Uhu. Aber allmählich gelang es ihr, klarer zu werden. Entschlossen trat sie einen Schritt vor. »Herr Lohkamp — Mensch is nur Mensch — erst hab' ich nur dran gerochen — und dann einen Schluck genommen — weil mir im Magen doch immer so flau is — ja, und dann — dann muß mir der Satan geritten haben. Man soll ein armes Weib auch nicht in Versuchung führen und die Pulle stehenlassen.«
Es war nicht das erstemal, daß ich sie so traf. Sie kam jeden Morgen zwei Stunden zum Aufräumen in die Werkstatt, und man konnte ruhig so viel Geld umherliegen lassen, wie man wollte, sie rührte es nicht an — aber hinter Schnaps war sie her wie die Ratte hinterm Speck.
Ich nahm die Flasche hoch. »Natürlich, den Kognak für die Kunden haben Sie nicht angerührt — aber den guten von Herrn Köster haben Sie weggeputzt.«
Ein Grinsen huschte über Mathildes verwitterte Züge. »Alles, was recht is — Kenner bin ich. Aber werden Sie mir verraten, Herr Lohkamp? Eine schutzlose Witwe?«
Ich schüttelte den Kopf. »Heute nicht.«
Sie ließ ihre Röcke herunter. »Dann werd' ich mir mal verdrücken. Wenn Herr Köster kommt — heiliges Donnerwetter!«
Ich ging zum Schrank und schloß ihn auf. »Mathilde...«
Sie watschelte eilig heran. Ich hielt eine braune, viereckige Flasche hoch. Protestierend hob sie die Hände. »Das bin ich nich gewesen! Auf Ehre! Den hab' ich nich angerührt!«
»Weiß ich«, sagte ich und goß ein Glas voll ein. »Kennen Sie ihn denn?«
»Und ob!« Sie leckte sich die Lippen. »Rum! Steinalter Jamaika!«
»Schön. Dann trinken Sie das Glas mal aus!«
»Ich?« Sie prallte zurück. »Herr Lohkamp, das ist zuviel! Das sind ja glühende Kohlen auf mein Haupt! Die olle Stoß säuft heimlich Ihren Kognak weg, und Sie spendieren ihr da noch einen Rum drauf. Sie sind ein Heiliger, sind Sie! Lieber tot, als so was annehmen!«
»Na?« sagte ich und tat, als ob ich das Glas zurückzog.
»Alsdann!« Sie griff eilig zu. »Man muß das Gute nehmen, wie es kommt. Auch wenn man's nicht versteht. Zum Wohle! Haben Sie vielleicht Geburtstag?«
»Ja, Mathilde. Gut geraten.«
»Was, wahrhaftig?« Sie umklammerte meine Hand und schüttelte sie. »Herzlichsten Glückwunsch! Zaster in Fülle! Herr Lohkamp« — sie wischte sich den Mund —, »ich bin so gerührt — darauf muß ich unbedingt noch einen zwitschern. Wo ich Ihnen doch gern hab' wie einen Sohn.«
»Schön.«
Ich schenkte ihr noch ein Glas ein. Sie kippte es herunter und verließ lobpreisend die Werkstatt.
Ich packte die Flasche weg und setzte mich an den Tisch. Die blasse Sonne fiel durch das Fenster auf meine Hände. Merkwürdiges Gefühl, so ein Geburtstag, auch wenn man sich nichts draus machte. Dreißig Jahre — es hatte eine Zeit gegeben, da glaubte ich, nie zwanzig werden zu können, so weit weg erschien mir das. Und dann...
Ich zog einen Briefbogen aus dem Fach und fing an zu rechnen. Die Kinderzeit, die Schule — das war ein Komplex, fern, irgendwo, schon nicht mehr wahr. Das richtige Leben begann erst 1916. Da war ich gerade Rekrut geworden, dünn, hochgeschossen, achtzehn Jahre alt, und übte nach dem Kommando eines schnauzbärtigen Unteroffiziers auf den Sturzäckern hinter der Kaserne Hinlegen und Aufstehen. An einem der ersten Abende kam meine Mutter in die Kaserne, um mich zu besuchen; aber sie mußte über eine Stunde auf mich warten. Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und mußte deshalb in der freien Zeit zur Strafe die Latrinen scheuern. Sie wollte mir helfen, aber das durfte sie nicht. Sie weinte, und ich war so müde, daß ich einschlief, als sie noch bei mir saß.
1917. Flandern. Middendorf und ich hatten in der Kantine eine Flasche Rotwein gekauft. Damit wollten wir feiern. Aber wir kamen nicht dazu. Frühmorgens fing das schwere Feuer der Engländer an. Köster wurde mittags verwundet. Meyer und Deters fielen nachmittags. Und abends, als wir schon glaubten, Ruhe zu haben, und die Flasche aufmachten, kam Gas und quoll in die Unterstände. Wir hatten zwar rechtzeitig die Masken auf, aber die von Middendorf war kaputt. Als er es merkte, war es zu spät. Bis sie abgerissen und eine neue gefunden war, hatte er schon zuviel Gas geschluckt und brach bereits Blut. Er starb am nächsten Morgen, grün und schwarz im Gesicht. Sein Hals war ganz zerrissen — so hatte er mit den Nägeln versucht, ihn aufzukratzen, um Luft zu kriegen.
1918. Das war im Lazarett. Ein paar Tage vorher war ein neuer Transport angekommen. Papierverbände. Schwere Verletzungen. Den ganzen Tag fuhren die flachen Operationswagen herein und hinaus. Manchmal kamen sie leer wieder. Neben mir lag Josef Stoll. Er hatte keine Beine mehr, aber er wußte es noch nicht. Es war nicht zu sehen, weil die Decke über einem Drahtkorb lag. Er hätte es auch nicht geglaubt, denn er spürte Schmerzen in den Füßen. Nachts starben zwei Leute bei uns im Zimmer. Einer sehr langsam und schwer.
1919. Wieder zu Hause. Revolution. Hunger. Draußen immerfort Maschinengewehrgeknatter. Soldaten gegen Soldaten. Kameraden gegen Kameraden.
1920. Putsch. Karl Bröger erschossen. Köster und Lenz verhaftet. Meine Mutter im Krankenhaus. Krebs im letzten Stadium.
1921 — Ich dachte nach. Ich wußte es nicht mehr. Das Jahr fehlte einfach. 1922 war ich Bahnarbeiter in Thüringen gewesen, 1923 Reklamechef einer Gummifabrik. Das war in der Inflation. Zweihundert Billionen Mark hatte ich monatlich verdient. Zweimal am Tage gab es Geld und hinterher jedesmal eine halbe Stunde Urlaub, damit man in die Läden rasen und etwas kaufen konnte, bevor der nächste Dollarkurs 'rauskam — dann war das Geld nur noch die Hälfte wert.
Und dann? Die Jahre darauf? Ich legte den Bleistift hin. Hatte keinen Zweck, das alles nachzurechnen. Ich wußte es auch nicht mehr so genau. War zu sehr durcheinandergegangen. Meinen letzten Geburtstag hatte ich im Café International gefeiert. Da war ich ein Jahr lang Stimmungspianist gewesen. Dann hatte ich Köster und Lenz wiedergetroffen. Und jetzt saß ich hier in der Aurewe: Auto-Reparatur-Werkstatt Köster und Co. Der Co. waren Lenz und ich, aber die Werkstatt gehörte eigentlich Köster allein. Er war früher unser Schulkamerad und unser Kompanieführer gewesen; dann Flugzeugführer, später eine Zeitlang Student, dann Rennfahrer — und schließlich hatte er die Bude hier gekauft. Erst war Lenz, der sich einige Jahre in Südamerika herumgetrieben hatte, dazugekommen — dann ich.
Ich nahm eine Zigarette aus der Tasche. Eigentlich konnte ich ganz zufrieden sein. Es ging mir nicht schlecht, ich hatte Arbeit, ich war kräftig, ich wurde nicht leicht müde, ich war heil, wie man das so nennt — aber es war doch besser, nicht allzuviel darüber nachzudenken. Besonders nicht, wenn man allein war. Und abends auch nicht. Da kam ab und zu noch einmal etwas von früher und starrte einen aus toten Augen an. Aber dafür hatte man den Schnaps.
Draußen quietschte das Tor. Ich zerriß den Zettel mit den Daten meines Lebens und warf ihn in den Papierkorb. Die Tür flog auf. Gottfried Lenz stand im Rahmen, lang, mager, mit strohblonder Mähne und einer Nase, die für einen ganz anderen Mann gepaßt hätte. »Robby«, brüllte er, »alter Speckjäger, steh auf und nimm die Knochen zusammen! Deine Vorgesetzten wollen mit dir reden!«
»Herrgott!« Ich stand auf. »Ich habe gehofft, ihr hättet nicht dran gedacht! Macht's gnädig, Kinder!«
»Das könnte dir so passen!« Gottfried legte ein Paket auf den Tisch, in dem es mächtig klirrte. Köster kam hinter ihm drein. Lenz baute sich vor mir auf. »Robby, was ist dir heute morgen zuerst begegnet?«
Ich dachte nach. »Ein tanzendes altes Weib.«
»Heiliger Moses! Ein schlechtes Vorzeichen! Paßt aber zu deinem Horoskop. Habe es gestern gestellt. Du bist ein Kind des Schützen, unzuverlässig, schwankend, ein Rohr im Winde, mit verdächtigen Saturntrigonen und einem lädierten Jupiter in diesem Jahr. Da Otto und ich Vater-und Mutterstelle an dir vertreten, überreiche ich dir deshalb als erstes etwas zum Schutz. Nimm dieses Amulett! Eine Nachkommin der Inkas hat es mir dereinst überlassen. Sie hatte blaues Blut, Plattfüße, Läuse und die Gabe, in die Zukunft zu schauen. ›Weißhäutiger Fremdling‹, sagte sie zu mir, ›Könige haben es getragen, die Kraft der Sonne, des Mondes und der Erde ist darin, von den kleineren Planeten ganz zu schweigen — gib mir einen Silberdollar für Schnaps dafür und du kannst es haben.‹ Damit die Glückskette weitergeht, überreiche ich es dir. Es wird dich behüten und deinen unfreundlichen Jupiter in die Flucht schlagen.«
Er hängte mir eine kleine schwarze Figur an einer dünnen Kette um den Hals. »So! Das ist gegen die höhere Misere — gegen die tägliche hier: sechs Flaschen Rum von Otto! Doppelt so alt wie du!«
Er öffnete das Paket und stellte die Flaschen einzeln in die Morgensonne. Sie schimmerten wie Bernstein. »Sieht wunderbar aus«, sagte ich. »Wo hast du die bloß her, Otto?«
Köster lachte. »War eine verwickelte Sache. Zu lang zum Erzählen. Aber sag mal, wie fühlst du dich denn? Wie dreißig?«
Ich winkte ab. »Wie sechzehn und fünfzig gleichzeitig. Nicht besonders.«
»Das nennst du nicht besonders?« erwiderte Lenz. »Das ist doch das höchste, was es gibt. Du hast damit souverän die Zeit besiegt und lebst doppelt.«
Köster sah mich an. »Laß ihn, Gottfried«, sagte er dann.
»Geburtstage drücken mächtig aufs Selbstgefühl. Besonders frühmorgens. Er wird sich schon wieder erholen.«
Lenz kniff die Augen zusammen. »Je weniger Selbstgefühl ein Mensch hat, um so mehr ist er wert, Robby. Tröstet dich das ein bißchen?«
»Nein«, sagte ich, »ganz und gar nicht. Wenn der Mensch erst was wert ist, ist er nur noch sein eigenes Denkmal. Das finde ich anstrengend und langweilig.«
»Er philosophiert, Otto«, sagte Lenz, »er ist schon gerettet. Er hat den stillen Moment überstanden! Den stillen Geburtstagsmoment, wo man sich selbst in die Pupille blickt und entdeckt, was man für ein armseliges Küken ist. Jetzt können wir getrost an unser Tagwerk gehen und dem alten Cadillac die Eingeweide ölen —«
Wir arbeiteten, bis es dämmerig wurde. Dann wuschen wir uns und zogen uns um. Lenz sah begehrlich zu der Flaschenreihe hinüber. »Wollen wir einer den Hals brechen?«
»Das muß Robby entscheiden«, sagte Köster. »Es ist nicht fein, Gottfried, dem Beschenkten so plump mit dem Zaunpfahl zu winken.«
»Noch weniger fein ist es, die Schenker verdursten zu lassen«, erwiderte Lenz und machte eine Flasche auf.
Der Geruch verbreitete sich sofort durch die ganze Werkstatt.
»Heiliger Moses«, sagte Gottfried.
Wir schnupperten alle. »Phantastisch, Otto. Man muß schon in die hohe Poesie gehen, um da würdige Vergleiche zu finden.«
»Zu schade für die dunkle Bude hier!« entschied Lenz. »Wißt ihr was? Wir fahren 'raus, essen irgendwo zu Abend und nehmen die Flasche mit. In Gottes freier Natur wollen wir sie aussaufen!«
»Glänzend.«
Wir schoben den Cadillac beiseite, an dem wir nachmittags gearbeitet hatten. Hinter ihm stand ein sonderbares Ding auf Rädern. Es war der Rennwagen Otto Kösters, der Stolz der Werkstatt.
Köster hatte den Wagen, eine hochbordige, alte Kiste, seinerzeit auf einer Auktion für ein Butterbrot gekauft. Fachleute, die ihn damals sahen, bezeichneten ihn ohne Zögern als interessantes Stück für ein Verkehrsmuseum. Der Konfektionär Bollwies, Besitzer einer Damenmäntelfabrik und Rennamateur, riet Otto, eine Nähmaschine daraus zu machen. Aber Köster kümmerte sich nicht darum. Er zerlegte den Wagen wie eine Taschenuhr und arbeitete Monate hindurch bis in die Nächte daran herum. Eines Abends erschien er dann mit ihm vor der Bar, in der wir gewöhnlich saßen. Bollwies fiel vor Lachen fast um, als er ihn wieder erblickte, so komisch sah er immer noch aus. Um einen Witz zu machen, bot er Otto eine Wette an. Er wollte zweihundert Mark gegen zwanzig setzen, wenn Köster ein Rennen gegen seinen neuen Sportwagen annähme — Strecke zehn Kilometer, ein Kilometer Vorgabe für Ottos Wagen. Köster nahm die Wette an. Alles lachte und versprach sich einen Riesenspaß. Aber Otto tat noch mehr; er lehnte die Vorgabe ab und erhöhte die Wette mit unbewegter Miene auf tausend Mark gegen tausend Mark. Bollwies fragte ihn entgeistert, ob er ihn in eine Irrenanstalt bringen solle. Köster ließ als Antwort nur seinen Motor an. Beide brachen daraufhin sofort auf, um die Sache auszutragen. Bollwies kam nach einer halben Stunde so verstört zurück, als hätte er die Seeschlange gesehen. Schweigend schrieb er den Scheck aus und einen zweiten dazu. Er wollte die Maschine jetzt auf der Stelle kaufen. Aber Köster lachte ihn aus. Er hätte sie für kein Geld der Erde mehr hergegeben. Doch so tadellos der Wagen nun innen auch war — von außen sah er immer noch wüst aus. Wir hatten für den täglichen Gebrauch eine besonders altmodische Karosserie, die gerade paßte, darauf gesetzt; der Lack war blind, die Kotflügel hatten Risse, und das Verdeck war reichlich zehn Jahre alt. Wir hätten das alles besser machen können — aber wir hatten einen Grund, es nicht zu tun. Der Wagen hieß Karl. Karl, das Chausseegespenst.
Karl schnob die Chaussee entlang.
»Otto«, sagte ich, »da kommt ein Opfer.«
Hinter uns hupte ungeduldig ein schwerer Buick. Er holte rasch auf. Bald lagen die Kühler nebeneinander. Der Mann am Steuer sah lässig herüber. Sein Blick streifte von oben herab den ruppigen Karl. Dann wendete er sich ab und hatte uns schon vergessen.
Ein paar Sekunden später mußte er feststellen, daß Karl sich immer noch auf gleicher Höhe mit ihm befand. Er rückte sich etwas zurecht, blickte uns amüsiert an und gab Gas. Aber Karl wankte nicht. Wie ein Terrier neben einer Dogge hielt er sich weiter klein und flink neben der strahlenden Lokomotive aus Nickel und Lack.
Der Mann faßte das Steuerrad fester. Er war vollkommen ahnungslos und verzog spöttisch die Lippen. Man sah, daß er uns jetzt zeigen wollte, was sein Schlitten leistete. Er trat so kräftig auf den Gashebel, daß der Auspuff zwitscherte wie ein Feld voll Lerchen im Sommer. Doch es nutzte nichts; er kam nicht vorbei. Wie verhext klebte Karl häßlich und unscheinbar an seiner Seite. Der Mann starrte erstaunt zu uns herunter. Er begriff nicht, daß bei einem Tempo von über hundert Kilometern der altmodische Kasten unter ihm nicht abzuschütteln war. Verwundert blickte er auf seinen Tachometer, als könne der nicht stimmen. Dann gab er Vollgas.
Die Wagen rasten jetzt genau nebeneinander über die lange, gerade Chaussee. Nach ein paar hundert Metern kam ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung angetost. Der Buick mußte hinter uns zurück, um auszuweichen. Kaum war er wieder neben Karl, da fegte ein Beerdigungsauto mit wehenden Kranzschleifen heran, und er mußte abermals zurück. Dann wurde die Sicht frei.
Der Mann am Steuer hatte inzwischen all seinen Hochmut verloren; ärgerlich, die Lippen zusammengepreßt, saß er vorgebeugt da — das Rennfieber hatte ihn gepackt, und plötzlich hing die Ehre seines Lebens davon ab, um keinen Preis gegen den Kläffer neben sich klein beizugeben.
Wir dagegen hockten scheinbar gleichgültig auf unseren Sitzen. Der Buick existierte für uns gar nicht. Köster blickte ruhig auf die Straße, ich schaute gelangweilt in die Luft; und Lenz, obschon er ein Bündel Spannung war, zog eine Zeitung hervor und tat, als ob es nichts Wichtigeres für ihn gäbe, als gerade jetzt zu lesen.
Ein paar Minuten später blinzelte Köster uns zu. Karl verlor unmerklich an Tempo, und der Buick rückte langsam vor. Seine breiten, blinkenden Kotflügel drückten sich an uns vorbei. Der Auspuff donnerte uns blauen Qualm in die Gesichter. Allmählich gewann er ungefähr zwanzig Meter — da erschien auch schon das Gesicht des Besitzers im Fenster und grinste offenen Triumph. Er glaubte gewonnen zu haben.
Aber der Mann tat noch ein übriges. Er konnte sich eine Revanche nicht verkneifen. Er winkte uns zu, doch nachzukommen. Er winkte sogar besonders nachlässig und siegessicher. »Otto!« sagte Lenz mahnend.
Aber er brauchte nichts zu sagen. Karl machte im selben Moment schon einen Sprung. Der Kompressor pfiff los. Und plötzlich verschwand die winkende Hand im Fenster — denn Karl folgte der Aufforderung; er kam. Er kam sogar unaufhaltsam, er holte alles wieder auf — und nun, zum ersten Male, nahmen wir Notiz von dem fremden Wagen. Unschuldig fragend schauten wir hinauf zu dem Mann am Steuer; wir wollten gerne wissen, weshalb er uns gewinkt hatte. Doch der sah krampfhaft nach der anderen Seite, und Karl zog jetzt erst mit vollem Gas davon, starrend vor Schmutz, mit wehenden Kotflügeln, ein siegreicher Dreckfink.
»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz zu Köster. »Dem Mann wird sein Abendbrot nicht schmecken.«
Diese Jagden waren der Grund, weshalb wir Karls Karosserie nicht änderten. Er brauchte nur auf der Straße zu erscheinen — sofort versuchte jemand, ihn abzuhängen. Auf andere Wagen wirkte er wie eine flügellahme Krähe auf ein Rudel hungriger Katzen. Er reizte die friedlichsten Familienkutschen zum Überholen, und selbst die behäbigsten Vollbärte wurden unwiderstehlich vom Rennehrgeiz gepackt, wenn sie sein klappriges Fahrgestell vor sich auf und nieder tanzen sahen. Wer konnte auch ahnen, daß in dieser lächerlichen Gestalt das große Herz eines Rennmotors schlug!
Lenz behauptete, Karl wirke erzieherisch. Er lehre die Leute Ehrfurcht vor dem Schöpferischen, das immer in einer unscheinbaren Hülle stecke. Das sagte Lenz, der von sich ebenfalls behauptete, er wäre der letzte Romantiker.
Wir hielten vor einem kleinen Gasthaus und kletterten aus dem Wagen. Der Abend war schön und still. Die Furchen der aufgebrochenen Äcker schimmerten violett. Die Kanten leuchteten golden und braun. Wie große Flamingos schwammen die Wolken am apfelgrünen Himmel und behüteten zwischen sich die schmale Sichel des zunehmenden Mondes. Ein Haselnußstrauch hielt Dämmerung und Ahnung in seinen Armen, rührend kahl und schon voll Knospenhoffnung. Aus dem kleinen Gasthaus drang der Duft gebratener Leber. Auch Zwiebeln waren dabei. Uns schwoll das Herz.
Lenz stürzte ins Haus, dem Geruch nach. Verklärt kam er zurück. »Ihr müßtet die Bratkartoffeln sehen! Rasch, sonst ist das Beste 'runter!«
In diesem Augenblick summte noch ein Wagen heran. Wie angenagelt blieben wir stehen. Es war der Buick. Er hielt mit scharfem Ruck neben Karl. »Hoppla!« sagte Lenz. Wir hatten schon öfter Schlägereien wegen ähnlicher Sachen gehabt.
Der Mann stieg aus. Er war groß und schwer und trug einen weiten, braunen Raglan aus Kamelhaar. Mißvergnügt schielte er nach Karl, streifte dann ein Paar dicke gelbe Handschuhe ab und kam heran.
»Is denn das für 'n Modell, Ihr Wagen da?« fragte er Köster, der ihm am nächsten stand, mit einem Gesicht wie eine Essiggurke.
Wir sahen ihn alle drei eine Weile schweigend an. Sicherlich hielt er uns für Monteure im Sonntagsanzug auf einer Schwarzfahrt. »Haben Sie etwas gesagt?« fragte Otto dann schließlich zweifelnd, um ihn zu belehren, daß er höflicher sein könnte.
Der Mann wurde rot. »Ich habe nach dem Wagen da gefragt«, erklärte er brummig im selben Ton wie vorher.
Lenz richtete sich auf. Seine große Nase zuckte. Er hielt außerordentlich auf Höflichkeit bei anderen. Aber bevor er den Mund auftun konnte, öffnete sich plötzlich, wie durch eine Geisterhand, die zweite Tür des Buick — ein schmaler Fuß glitt heraus, ein schmales Knie folgte —, dann stieg ein Mädchen aus und schritt langsam auf uns zu.
Überrascht blickten wir uns an. Wir hatten vorher nicht gesehen, daß noch jemand im Wagen war. Lenz veränderte sofort seine Haltung. Er lächelte über sein ganzes sommersprossiges Gesicht. Wir lächelten auf einmal alle, weiß der Kuckuck, warum.
Der Dicke schaute uns verblüfft an. Er wurde unsicher und wußte scheinbar nicht mehr, was er aus der Sache machen sollte. »Binding«, sagte er schließlich, mit einer halben Verbeugung, als könne er sich an seinem Namen festhalten.
Das Mädchen war jetzt ganz herangekommen. Wir wurden noch freundlicher. »Zeig doch mal den Wagen, Otto«, sagte Lenz mit einem raschen Blick zu Köster hin.
»Warum nicht«, erwiderte Otto und gab den Blick belustigt zurück.
»Ich würde ihn wirklich gern mal sehen«, sagte Binding bereits versöhnlicher. »Muß verdammt schnell sein. Hat mich ja nur so weggepustet.«
Beide gingen zum Parkplatz hinüber, und Köster klappte Karls Motorhaube hoch.
Das Mädchen ging nicht mit. Es blieb schlank und schweigend neben Lenz und mir in der Dämmerung stehen. Ich erwartete, daß Gottfried die Gelegenheit ausnützen und losgehen würde wie eine Bombe. Er war für solche Situationen. Doch er schien die Sprache verloren zu haben. Sonst konnte er balzen wie ein Birkhahn — aber jetzt stand er da wie ein Karmelitermönch auf Urlaub und rührte sich nicht.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich schließlich. »Wir haben nicht gesehen, daß Sie im Wagen waren. Sonst hätten wir den Unfug vorhin sicher nicht gemacht.«
Das Mädchen sah mich an. »Aber warum denn nicht?« erwiderte es ruhig, mit einer überraschend dunklen Stimme. »So schlimm war das doch gar nicht.«
»Schlimm nicht, aber auch nicht ganz anständig. Der Wagen da läuft ungefähr zweihundert Kilometer.«
Sie beugte sich etwas vor und steckte die Hände in die Taschen ihres Mantels. »Zweihundert Kilometer?«
»Genau hundertneunundachtzig Komma zwei, amtlich abgestoppt«, erklärte Lenz, wie aus der Pistole geschossen, stolz.
Sie lachte. »Und wir dachten, ungefähr so sechzig, siebzig.«
»Sehen Sie«, sagte ich, »das konnten Sie doch nicht wissen.«
»Nein«, erwiderte sie, »das konnten wir wirklich nicht wissen. Wir glaubten, der Buick wäre doppelt so schnell wie Ihr Wagen.«
»Ja« — ich stieß mit dem Fuß einen abgebrochenen Zweig beiseite —, »aber wir hatten einen zu großen Vorteil. Und Herr Binding drüben hat sich wohl auch ziemlich über uns geärgert.«
Sie lachte. »Einen Augenblick sicher. Aber man muß auch verlieren können; wie sollte man sonst leben.«
»Gewiß...«
Es entstand eine Pause. Ich blickte zu Lenz hinüber. Doch der letzte Romantiker grinste nur, zuckte mit der Nase und ließ mich im Stich. Die Birken raschelten. Ein Huhn gackerte hinter dem Hause.
»Wunderbares Wetter«, sagte ich endlich, um das Schweigen zu unterbrechen.
»Ja, herrlich«, erwiderte das Mädchen.
»Und so milde«, fügte Lenz hinzu.
»Sogar ungewöhnlich milde«, ergänzte ich.
Es entstand eine neue Pause. Das Mädchen mußte uns für ziemliche Schafsköpfe halten; aber mir fiel beim besten Willen nichts mehr ein. Lenz schnupperte in die Gegend. »Geschmorte Äpfel«, sagte er gefühlvoll, »es scheint auch geschmorte Äpfel zur Leber zu geben. Eine Delikatesse.«
»Ohne Zweifel«, gab ich zu und verfluchte uns beide.
Köster und Binding kamen zurück. Binding war in den paar Minuten ein ganz anderer Mann geworden. Er schien einer dieser Autonarren zu sein, die ganz selig sind, wenn sie irgendwo einen Fachmann finden, mit dem sie reden können.
»Wollen wir zusammen essen?« fragte er.
»Selbstverständlich«, erwiderte Lenz.
Wir gingen hinein. Unter der Tür blinzelte Gottfried mir zu und nickte zu dem Mädchen hinüber. »Du, die hebt das tanzende alte Weib von heute morgen zehnfach wieder auf...«
Ich zuckte die Achseln. »Mag sein — aber warum hast du mich dann alleine herumstottern lassen?«
Er lachte. »Mußt es doch auch mal lernen, Baby!«
»Habe gar keine Lust mehr, was zu lernen«, sagte ich.
Wir folgten den andern. Sie saßen schon am Tisch. Die Wirtin kam gerade mit der Leber und den Bratkartoffeln. Sie brachte außerdem eine große Flasche Kornschnaps als Einleitung mit.
Binding erwies sich als wahrer Sturzbach von einem Redner. Es war erstaunlich, was er alles über Automobile zu sagen hatte. Als er hörte, daß Otto auch Rennen gefahren hatte, kannte seine Zuneigung überhaupt keine Grenzen mehr.
Ich sah ihn mir genauer an. Er war ein schwerer, großer Mann mit dicken Augenbrauen über einem roten Gesicht; etwas prahlerisch, etwas lärmend, und wahrscheinlich gutmütig, wie Leute, die im Leben Erfolg haben. Ich konnte mir vorstellen, daß er sich abends vor dem Schlafengehen ernst, würdig und achtungsvoll in einem Spiegel betrachtete.
Das Mädchen saß zwischen Lenz und mir. Es hatte den Mantel ausgezogen und trug darunter ein graues englisches Kostüm. Um den Hals hatte es ein weißes Tuch geknüpft, das aussah wie eine Reitkrawatte. Ihr Haar war braun und seidig und hatte im Lampenlicht einen bernsteinfarbenen Schimmer. Die Schultern waren sehr gerade, aber etwas vorgebeugt, die Hände schmal, überlang und eher etwas knochig als weich. Das Gesicht war schmal und blaß, aber die großen Augen gaben ihm eine fast leidenschaftliche Kraft. Sie sah sehr gut aus, fand ich — aber ich dachte mir nichts weiter dabei.
Lenz dagegen war jetzt Feuer und Flamme. Er war völlig verwandelt gegen vorhin. Sein gelber Schopf glänzte wie die Haube eines Wiedehopfs. Er ließ ein Feuerwerk von Einfällen los und beherrschte mit Bindung zusammen den Tisch. Ich saß nur so dabei und konnte mich wenig bemerkbar machen; höchstens einmal eine Schüssel reichen oder Zigaretten anbieten. Und mit Binding anstoßen. Das tat ich ziemlich oft.
Lenz schlug sich plötzlich vor die Stirn: »Der Rum! Robby, hol mal unsern Geburtstagsrum!«
»Geburtstag? Hat denn jemand Geburtstag?« fragte das Mädchen.
»Ich«, sagte ich. »Ich werde schon den ganzen Tag damit verfolgt.«
»Verfolgt? Dann wollen Sie also nicht, daß man Ihnen gratuliert?«
»Doch«, sagte ich, »gratulieren ist was anderes.«
»Also alles Gute!«
Ich hielt einen Augenblick ihre Hand in meiner und spürte ihren warmen, trockenen Druck. Dann ging ich hinaus, um den Rum zu holen.
Die Nacht stand groß und schweigend um das kleine Haus. Die ledernen Sitze unseres Wagens waren feucht. Ich blieb stehen und sah nach dem Horizont, wo der rötliche Schein der Stadt am Himmel stand. Ich wäre gern noch draußen geblieben; aber ich hörte Lenz schon rufen.
Binding vertrug den Rum nicht. Nach dem zweiten Glas merkte man es schon. Er schwankte in den Garten hinaus. Ich stand auf und ging mit Lenz an die Theke. Er verlangte eine Flasche Gin. »Großartiges Mädchen, was?« sagte er.
»Weiß ich nicht, Gottfried«, erwiderte ich. »Habe nicht so drauf geachtet.«
Er betrachtete mich eine Weile mit seinen irisierenden blauen Augen und schüttelte dann den glühenden Kopf. »Wozu lebst du eigentlich, sag mal, Baby?«
»Das wollte ich auch schon lange mal wissen.«
Er lachte. »Das könnte dir so passen! So leicht wird's einem doch nicht gemacht. Aber jetzt werde ich zunächst mal herauspolken, wie das Mädchen zu dem dicken Autokatalog draußen steht.«
Er folgte Binding in den Garten. Nach einiger Zeit kamen beide an die Theke zurück. Die Auskunft mußte gut gewesen sein, denn Gottfried, der scheinbar die Bahn jetzt frei sah, schloß sich in heller Begeisterung darüber stürmisch an Binding an. Die beiden holten sich die Ginflasche und duzten sich eine Stunde später. Lenz hatte, wenn er in guter Laune war, immer so etwas Hinreißendes, daß man ihm schwer widerstehen konnte. Er konnte sich selbst dann auch nicht widerstehen. Jetzt überflutete er Binding einfach, und bald sangen beide in der Laube draußen Soldatenlieder. Das Mädchen hatte der letzte Romantiker darüber vollständig vergessen.
Wir drei blieben allein in der Wirtsstube. Es war plötzlich sehr still. Die Schwarzwälderuhr tickte. Die Wirtin räumte ab und blickte mütterlich auf uns herunter. Am Ofen dehnte sich ein brauner Jagdhund. Manchmal bellte er im Schlaf, leise, hoch und klagend. Draußen strich der Wind am Fenster vorbei. Er wurde überweht von den Fetzen der Soldatenlieder, und mir war, als ob der kleine Raum sich höbe und mit uns durch die Nacht und durch die Jahre schwebe, vorbei an vielen Erinnerungen.
Es war eine merkwürdige Stimmung. Die Zeit schien aufgehoben zu sein — sie war nicht mehr ein Strom, der aus dem Dunkel kam und ins Dunkel ging —, sie war ein See, in dem sich lautlos das Leben spiegelte. Ich hielt mein Glas in der Hand. Der Rum schimmerte. Ich dachte an den Zettel, den ich morgens in der Werkstatt geschrieben hatte. Ich war etwas traurig gewesen. Ich war es jetzt nicht mehr. Es war alles gleich — solange man lebte. Ich sah Köster an. Ich hörte, wie er mit dem Mädchen sprach; aber ich achtete nicht auf die Worte. Ich spürte den weichen Glanz der ersten Trunkenheit, der das Blut wärmer machte und den ich liebte, weil er über das Ungewisse den Schein des Abenteuers breitete. Draußen sangen Lenz und Binding das Lied vom Argonnerwald. Neben mir sprach das unbekannte Mädchen — es sprach leise und langsam mit dieser dunklen, erregenden, etwas rauhen Stimme. Ich trank mein Glas aus.
Die beiden andern kamen wieder herein. Sie waren nüchterner geworden in der frischen Luft. Wir brachen auf. Ich half dem Mädchen in den Mantel. Es stand dicht vor mir, geschmeidig sich in den Schultern dehnend, den Kopf schräg nach hinten gelegt, den Mund leicht geöffnet, mit einem Lächeln zur Zimmerdecke, das niemand galt. Ich ließ einen Moment den Mantel sinken. Wo hatte ich nur die ganze Zeit meine Augen gehabt? Hatte ich denn geschlafen? Ich verstand plötzlich die Begeisterung von Lenz.
Sie drehte sich fragend halb um. Ich hob rasch den Mantel wieder hoch und schaute zu Binding hinüber, der kirschrot und immer noch etwas glasig neben dem Tisch stand.
»Glauben Sie, daß er fahren kann?« fragte ich.
»Ich denke schon...«
Ich sah sie immer noch an. »Wenn er nicht sicher genug ist, kann einer von uns mitfahren.«
Sie zog ihre Puderdose hervor und klappte sie auf. »Es wird schon gehen«, sagte sie. »Er fährt viel besser, wenn er getrunken hat.«
»Besser und wahrscheinlich unvorsichtiger«, erwiderte ich.
Sie blickte mich über den Rand ihres kleinen Spiegels an.
»Hoffentlich geht es gut«, sagte ich. Es war etwas übertrieben, denn Binding stand ganz leidlich auf den Beinen. Aber ich wollte irgend etwas tun, damit sie nicht so wegging. »Darf ich morgen einmal bei Ihnen anrufen und hören, wie es geworden ist?« fragte ich.
Sie antwortete nicht gleich. »Wir haben mit unserer Trinkerei doch so eine gewisse Verantwortung dafür«, sagte ich weiter. »Besonders ich mit meinem Geburtstagsrum.«
Sie lachte. »Nun gut, wenn Sie wollen. Westen 2796.«
Ich schrieb mir die Nummer draußen gleich auf. Wir sahen zu, wie Binding abfuhr, und tranken noch ein letztes Glas. Dann ließen wir Karl losheulen. Er fegte durch den leichten Märznebel, wir atmeten rasch, die Stadt kam uns entgegen, feurig und schwankend im Dunst, und aus den Schwaden hob sich wie ein erleuchtetes, buntes Schiff Freddys Bar. Wir gingen mit Karl vor Anker. Golden floß der Kognak, der Gin glänzte wie Aquamarin, und der Rum war das Leben selbst. Eisern saßen wir auf den Barstühlen, die Musik plätscherte, das Dasein war hell und stark; es floß mächtig durch unsere Brust, die Trostlosigkeit der öden möblierten Zimmer, die uns erwartete, die Verzweiflung der Existenz war vergessen, die Bartheke war die Kommandobrücke des Lebens, und wir fuhren brausend in die Zukunft hinein.

3

II

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riß die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte.
Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Café International und das Versammlungslokal der Heilsarmee dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag außerdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park, und wenn es nachts ruhig war, konnte man meinen, man wohne auf dem Lande. Aber es wurde erst spät ruhig, denn neben dem Friedhof war ein Rummelplatz mit Karussells und Schiffschaukeln.
Für Frau Zalewski war der Friedhof ein sicheres Geschäft. Sie wies auf die gute Luft und den freien Ausblick hin und konnte dafür höhere Preise nehmen. Ihr ständiges Wort bei Reklamationen war: »Aber meine Herrschaften, bedenken Sie doch — die Lage!«
Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Straße gesprengt wurde, ich hörte die Vögel singen in den hohen Friedhofsbäumen — sie sangen wie kleine, silberne Pfeifen des lieben Gottes zu dem leisen, süßen Gebrumm der melancholischen Drehorgeln vom Rummelplatz —, ich wählte zwischen meinen paar Hemden und Strümpfen, als hätte ich zwanzigmal soviel, ich leerte pfeifend meine Taschen aus: Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten — und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer.
Patrice Hollmann. Ein merkwürdiger Vorname — Patrice. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen? Wie weit war das schon wieder weg — fast vergessen im perlgrauen Rausch des Alkohols. — Wunderbar war das beim Trinken — es brachte einen rasch zusammen —, aber zwischen Abend und Morgen schaffte es auch wieder Zwischenräume, als wären es Jahre.
Ich steckte den Zettel unter einen Pack Bücher. Anrufen? Vielleicht — vielleicht auch nicht. Tagsüber sah so etwas immer anders aus als abends. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren. Nur nichts herankommen lassen, sagte Köster. Was man herankommen läßt, will man halten. Und halten kann man nichts — In diesem Augenblick ging der Sonntagvormittagskrach im Zimmer nebenan los. Ich suchte meinen Hut, den ich gestern abend irgendwo gelassen haben mußte, und horchte eine Weile hin. Es war das Ehepaar Hasse, das da gegeneinander raste. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. Es waren keine schlechten Leute. Hätten sie eine Dreizimmerwohnung gehabt, mit einer Küche für die Frau, und außerdem noch ein Kind, dann wäre ihre Ehe wahrscheinlich gut geblieben. Aber eine Wohnung kostete Geld, und ein Kind bei diesen unsicheren Zeiten — wer konnte sich das leisten! So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte ständig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war fünfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde. Das war das Elend — früher sackte man langsam ab, und es gab immer noch wieder Möglichkeiten, hochzukommen —, aber heute stand hinter jeder Kündigung sofort der Abgrund der ewigen Arbeitslosigkeit.
Ich versuchte mich leise herauszudrücken, aber es klopfte schon, und Hasse stolperte herein. Er fiel auf einen Stuhl: »Ich ertrage es nicht mehr...«
Er war eigentlich ein sanfter Mann, mit abfallenden Schultern und einem kleinen Schnurrbart. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände. »Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!« In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Er zitterte am ganzen Körper. Eines Tages würde er zusammenklappen, das sah man. Er hatte nicht mehr viel zuzusetzen. »Und immer diese Vorwürfe«, flüsterte er.
Wahrscheinlich hatte die Frau ihm ihr Dasein vorgeworfen. Sie war zweiundvierzig, etwas schwammig und verblüht, aber natürlich noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlußpanik.
Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen. »Hören Sie, Hasse«, sagte ich, »bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich muß weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mögen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute nachmittag mit Ihrer Frau doch mal 'raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. Das kostet ebensoviel wie zwei Stunden im Café, und Sie haben mehr davon! Vergessen ist heute die Parole, nicht grübeln!« Ich klopfte ihm mit etwas schlechtem Gewissen auf die Schulter. Obschon, Kino war immer gut. Da konnte sich jeder was träumen.
Nebenan stand die Tür offen. Die Frau schluchzte, daß man es draußen hören konnte. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nächste Tür war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen könne, wolle sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld.
Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrespieler. Betete jeden Abend zur Mutter Gottes von Kasan um eine Stellung als Empfangschef in einem mittleren Hotel. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. Nächste Tür. Frau Bender, Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Fünfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernährung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das einzige.
Daneben — Müller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftführer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glücklicher Mensch.
An der letzten Tür klopfte ich. »Na, Georg«, sagte ich, »immer noch nichts?«
Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. Ins Bergwerk konnte er nicht wieder zurück — da waren heute schon zuviel Bergleute ohne Arbeit. Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler für eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsausträger und atmete schon auf. Drei Tage später wurde er im Morgengrauen von zwei Leuten mit Schirmmützen angehalten, die ihm die Zeitungen abnahmen, zerrissen und ihm erklärten, er solle sich nicht zum zweiten Male sehen lassen in einem Beruf, der ihn nichts anginge. Sie hätten selbst genug Arbeitslose. Er ging trotzdem am nächsten Morgen, obschon er die zerrissenen Zeitungen hatte bezahlen müssen. Jemand fuhr ihn mit einem Fahrrad nieder. Die Zeitungen flogen in den Dreck. Das kostete ihn zwei Mark. Er ging zum drittenmal und kam mit zerfetztem Anzug und zerschlagenem Gesicht wieder. Da gab er es auf. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer, verzweifelt, und büffelte wie verrückt, als hätte es noch Zweck. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht — auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. Ich schob ihm ein Paket Zigaretten hin. »Laß den Kram sausen, Georgie. Ich hab's auch getan. Kannst später immer wieder anfangen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab's damals gemerkt, nach dem Bergwerk. Man kommt völlig 'raus, wenn man nicht jeden Tag dabeibleibt, und zum zweitenmal schaff' ich es nicht.«
Das blasse Gesicht mit abstehenden Ohren und kurzsichtigen Augen, die schmächtige Gestalt mit der eingefallenen Brust — verflucht — »na, mach's gut, Georgie.« Eltern hatte er auch nicht mehr.
Die Küche. Ein ausgestopfter Wildschweinschädel. Erinnerung an den verstorbenen Zalewski. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch. »Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.« Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. Hatte sich was! War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Café International. Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen, und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. Er hatte das Jahr meines  Lebens  mit  mir  geteilt,  als  ich  als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war. 
In  den  hinteren  Zimmern  des  Cafes  hielten  die Viehhändler  ihre  Versammlung ab; manchmal  auch  die Rummelplatzleute. Vorn saßen die Huren. 
Das Lokal war leer. Nur der plattfüßige Kellner Alois stand hinter der Theke. »Wie immer?« fragte er.
Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch und sah gedankenlos vor mich hin. Ein grauer Streifen Sonne kam schräg durch das Fenster. Er fing sich in den Schnapsflaschen auf den Regalen. Der Cherry-Brandy glühte wie ein Rubin.
Alois spülte Gläser. Die Katze des Wirtes saß auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schläfrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Mädchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rauh, fast heiser, aber doch weich. »Gib mir mal ein paar Magazine, Alois«, sagte ich.
Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Den Beinamen hatte sie, weil sie so unverwüstlich war. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen.
»Servus, Robert.«
»Servus, Rosa. Was macht die Kleine?«
»Will mal sehen. Hier — das bring' ich ihr mit.«
Sie packte aus einem Paket eine Puppe mit roten Backen und drückte ihr auf den Bauch. »Ma-ma«, quäkte die Puppe. Rosa strahlte.
»Fabelhaft!« sagte ich.
»Paß mal auf.« Sie beugte die Puppe nach hinten. Mit einem Klapp schlössen sich die Augen.
»Unerhört, Rosa.«
Sie war befriedigt und packte die Puppe wieder weg. »Du verstehst was von solchen Sachen, Robert. Wirst mal ein guter Ehemann.«
»Na, na«, sagte ich zweifelnd.
Rosa hing an ihrem Kinde. Bis vor einem Vierteljahr, solange es noch nicht laufen konnte, hatte sie es bei sich in ihrem Zimmer gehabt. Das ging, trotz ihres Berufes, weil nebenan ein kleiner Verschlag war. Wenn sie dann mit einem Kavalier abends ankam, ließ sie ihn unter irgendeinem Vorwand einen Augenblick draußen warten, ging rasch voran, schob den Kinderwagen in den Verschlag, schloß die Tür und ließ den Kavalier eintreten. Aber im Dezember mußte die Kleine zu oft aus dem warmen Zimmer in den ungeheizten Verschlag. So kam es, daß sie sich erkältete und oft weinte, wenn gerade jemand da war. Rosa mußte sich von ihr trennen, so schwer es ihr auch wurde. Sie gab sie in ein teures Kinderheim. Dort galt sie als honette Witwe. Sonst hätte man das Kind nicht angenommen.
Rosa erhob sich. »Du kommst doch Freitag?«
Ich nickte.
Sie sah mich an. »Du weißt doch, was los ist?«
»Natürlich.«
Ich hatte keine Ahnung, was los war; aber ich hatte auch keine Lust, danach zu fragen. Das hatte ich mir hier so angewöhnt in dem Jahr als Klavierspieler. Es war immer am bequemsten. Ebenso wie ich zu all den Mädchen du sagte. Das ging gar nicht anders.
»Servus, Robert.«
»Servus, Rosa.«
Ich saß noch eine Weile. Aber ich hatte nicht die richtige schläfrige Ruhe wie sonst, wenn das International so eine Art Sonntagsheimat für mich war. Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann.
Tagsüber trieb ich mich umher. Ich wußte nicht recht, was ich machen sollte, und hielt es nirgendwo lange aus. Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit für einen Spottpreis alt gekauft. Jetzt war er von uns gründlich überholt worden, und Köster gab ihm gerade den letzten Schliff. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus. »Wir bleiben darauf sitzen, Otto«, sagte ich.
Doch Köster war zuversichtlich. »Auf mittleren Wagen bleibt man sitzen, Robby«, erklärte er. »Billige werden gekauft und ganz teure auch. Es gibt immer noch Leute, die Geld haben. Oder so aussehen wollen.«
»Wo ist Gottfried?« fragte ich.
»In irgendeiner politischen Versammlung...«
»Verrückt! Was will er denn da?«
Köster lachte. »Das weiß er selbst nicht. Wahrscheinlich sitzt ihm das Frühjahr in den Knochen. Da muß er ja immer irgend etwas Neues haben.«
»Kann sein«, sagte ich. »Komm, ich helf' dir etwas.«
Wir murksten herum, bis es dunkel wurde. »Schluß jetzt«, sagte Köster. Wir wuschen uns. »Weißt du, was ich hier habe?« fragte er und klopfte auf seine Brieftasche.
»Na?«
»Karten zum Boxen heute abend. Zwei. Du gehst doch mit, was?« Ich zögerte. Er sah mich erstaunt an. »Stilling boxt«, sagte er, »gegen Walker. Wird ein guter Kampf.«
»Nimm Gottfried mit«, schlug ich vor und fand mich lächerlich, daß ich nicht mitging. Aber ich hatte keine rechte Lust, ich wußte nicht warum.
»Hast du was vor?« fragte er.
»Nein.«
Er sah mich an.
»Ich gehe mal nach Hause«, sagte ich. »Briefe schreiben und so was. Muß auch mal sein...«
»Bist du krank?« fragte er besorgt.
»Ach wo, keine Spur. Habe vielleicht auch den Frühling etwas in den Knochen.«
»Na schön. Wie du willst.«
Ich schlenderte nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wußte ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Unschlüssig wanderte ich umher. Ich verstand jetzt nicht mehr, weshalb ich eigentlich hierher gewollt hatte. Schließlich ging ich über den Korridor, um Georgie zu besuchen. Dabei stieß ich auf Frau Zalewski. »Nanu«, sagte sie verblüfft, »Sie hier?«
»Wäre schwer abzustreiten«, erwiderte ich etwas gereizt.
Sie wiegte den Kopf mit den grauen Locken. »Nicht unterwegs? Zeichen und Wunder.«
Ich hielt mich nicht lange bei Georgie auf. Nach einer Viertelstunde ging ich zurück. Ich überlegte, ob ich etwas trinken wollte. Aber ich wollte nicht. Ich setzte mich ans Fenster und schaute auf die Straße. Die Dämmerung wehte mit Fledermausflügeln über den Friedhof. Der Himmel hinter dem Gewerkschaftshause war grün wie ein unreifer Apfel. Draußen brannten schon die Laternen; aber es war noch nicht dunkel genug — sie sahen aus, als frören sie. Ich kramte unter meinen Büchern nach dem Zettel mit der Telefonnummer. Schließlich — anrufen konnte ich ja mal. Hatte es doch sogar halb und halb versprochen. Wahrscheinlich war das Mädchen auch gar nicht zu Hause.
Ich ging zum Vorplatz, wo das Telefon stand, hob den Hörer ab und sagte die Nummer. Während ich auf Antwort wartete, fühlte ich, wie eine weiche Welle, eine leichte Erwartung aus der schwarzen Muschel sich hob. Das Mädchen war da. Als ihre dunkle, etwas rauhe Stimme geisterhaft plötzlich in Frau Zalewskis Vorzimmer zwischen Wildschweinsköpfen, Fettgeruch und Küchengeklirr sprach, leise und etwas langsam, als dächte sie vor jedem Worte nach, verschwand auf einmal meine Unzufriedenheit. Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so stumpf. Verrückt, dachte ich und schüttelte den Kopf. Dann hob ich noch einmal den Hörer auf und rief Köster an. »Hast du die Karten noch Otto?«
»Ja.«
»Gut. Ich gehe doch mit zum Boxen.«
Nachher wanderten wir noch eine Zeitlang durch die nächtliche Stadt. Die Straßen waren hell und leer. Die Firmenschilder leuchteten. In den Schaufenstern brannte zwecklos das Licht. In einem standen nackte Wachspuppen mit gemalten Köpfen. Sie sahen gespenstisch und pervers aus. Daneben glitzerte Schmuck. Dann kam ein Warenhaus, weiß bestrahlt wie eine Kathedrale. Die Fenster schäumten über von bunter, glänzender Seide. Vor einem Kino hockten blasse, verhungerte Gestalten. Neben ihnen glänzte die Auslage eines Lebensmittelgeschäftes. Zu zinnernen Türmen standen da die Konserven geschichtet, in Watte gebettet lagen mürbe Kalvilläpfel, eine Schnur fetter Gänse baumelte wie Wäsche auf einer Leine, braune runde Brote lagen zwischen harten Dauerwürsten, angeschnitten, zartgelb und rosig schimmerte das Bukett der Lachsschinken und Leberpasteten.
Wir setzten uns auf eine Bank in der Nähe der Anlagen. Es war kühl. Der Mond stand wie eine Bogenlampe über den Häusern. Es war schon weit nach Mitternacht. In der Nähe hatten Arbeiter auf dem Fahrdamm ein Zelt aufgerichtet. Sie arbeiteten an den Straßenbahnschienen. Die Gebläse zischten, und Ströme von Funken sprühten über die ernsthaft gebeugten, dunklen Gestalten. Neben ihnen qualmten Kessel mit Teerasphalt wie Gulaschkanonen.
Wir hingen unseren Gedanken nach.
»Komisch, so ein Sonntag, Otto, was?«
Köster nickte.
»Man ist eigentlich ganz froh, wenn er 'rum ist.«
Köster zuckte die Achseln. »Vielleicht ist man den Trott so gewohnt, daß einen das bißchen Freiheit schon stört.«
Ich schlug meinen Kragen hoch. »Spricht eigentlich etwas gegen unser Leben, Otto?«
Er sah mich an und lächelte. »Hat schon ganz was anderes dagegen gesprochen, Robby.«
»Stimmt«, gab ich zu. »Immerhin...«
Das scharfe Licht der Preßluftbohrer spritzte grün über den Asphalt.
Das von innen erleuchtete Zelt der Arbeiter sah wie eine warme kleine Heimat aus.
»Glaubst du, daß der Cadillac Dienstag schon fertig ist?« fragte ich.
»Vielleicht«, sagte Köster. »Warum?«
»Ach, nur so —«
Wir standen auf und gingen nach Hause. »Bin ein bißchen verdreht heute, Otto«, sagte ich. »Ist jeder mal. Schlaf gut, Robby.« »Du auch, Otto.« In meinem Zimmer saß ich noch eine Weile auf. Die Bude gefiel mir auf einmal gar nicht mehr. Der Kronleuchter war scheußlich, das Licht viel zu grell, die Sessel waren verschlissen, das Linoleum trostlos nüchtern, der Waschtisch, das Bett mit dem Gemälde von der Schlacht bei Waterloo darüber — kann man eigentlich keinen anständigen Menschen 'reinführen, dachte ich. Eine Frau schon gar nicht. Höchstens eine Hure aus dem International.

4

III

Am Dienstag vormittag saßen wir vor unserer Werkstatt im Hof und frühstückten, Der Cadillac war fertig. Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef und hatte Köster und mir gerade ein Inserat vorgelesen, das er für den Verkauf des Wagens verfaßt hatte. Es begann mit den Worten: »Urlaub an südlichen Gestaden im Luxusgefährt« und war ein Mittelding zwischen einem Gedicht und einer Hymne.
Köster und ich schwiegen eine Weile. Wir mußten uns von dieser Sturzflut an blumiger Phantasie erst erholen. Lenz hielt uns für überwältigt. »Das Ding hat Poesie und Schmiß, was?« fragte er stolz. »Im Zeitalter der Sachlichkeit muß man romantisch sein, das ist der Trick. Gegensätze ziehen an.«
»Nicht, wenn es sich um Geld handelt«, erwiderte ich.
»Automobile kauft man nicht, um Geld anzulegen, Knabe«, erklärte Gottfried abweisend. »Man kauft sie, um Geld auszugeben; und da beginnt bereits die Romantik, wenigstens für den Geschäftsmann. Für die meisten Leute hört sie sogar damit auf. Was meinst du, Otto?«
»Weißt du...«, begann Köster vorsichtig.
»Wozu lange reden«, unterbrach ich ihn. »Das ist ein Inserat für einen Kurort oder eine Schönheitscreme, aber nicht für ein Automobil.«
Lenz öffnete den Mund.
»Augenblick«, fuhr ich fort. »Uns hältst du ja doch für befangen, Gottfried. Ich mache dir deshalb einen Vorschlag: Fragen wir mal Jupp. Das ist die Stimme des Volkes!«
Jupp war unser einziger Angestellter, ein Junge von fünfzehn Jahren, der eine Art Lehrlingsstelle bei uns hatte. Er bediente die Benzinpumpe, besorgte das Frühstück und räumte abends auf. Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte. Köster erklärte, wenn Jupp aus einem Flugzeug fiele, könnte ihm nichts geschehen. Er käme durch die Ohren in sanftem Gleitflug zur Erde.
Wir holten ihn heran. Lenz las ihm das Inserat vor. »Würdest du dich für so 'nen Wagen interessieren, Jupp?« fragte Köster.
»Einen Wagen?« fragte Jupp zurück.
Ich lachte. »Natürlich einen Wagen«, knurrte Gottfried. »Meinst du ein Heupferd?«
»Hat er Schnellgang, von oben gesteuerte Nockenwelle und hydraulische Bremsen?« erkundigte Jupp sich ungerührt.
»Schafskopf, es ist doch unser Cadillac«, fauchte Lenz.
»Nicht möglich«, erwiderte Jupp und grinste von einem Ohr zum andern.
»Da hast du's, Gottfried!« sagte Köster. »Das ist die Romantik von heute.«
»Scher dich wieder an deine Pumpe, Jupp, verfluchter Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts!«
Lenz verschwand mißmutig in der Bude, um dem Inserat bei aller Wahrung seines poetischen Schwunges doch etwas mehr technischen Halt zu geben.
Ein paar Minuten später erschien Oberinspektor Barsig plötzlich in der Hoftür. Wir empfingen ihn mit großen Ehren. Er war Ingenieur und Sachverständiger der Phönix-Autoversicherung, ein wichtiger Mann, um Reparaturen zugewiesen zu bekommen. Wir standen glänzend mit ihm. Als Ingenieur war er zwar ein scharfer Satan, der nichts durchgehen ließ, aber als Schmetterlingsfachmann war er weich wie Butter. Er hatte eine große Sammlung, und wir hatten ihm einmal einen dicken Schwärmer geschenkt, der nachts in unsere Werkstatt geflogen war. Barsig war blaß und feierlich geworden, als wir ihm das Tier überreichten. Es war ein Totenkopf, eine unerhörte Seltenheit, die ihm in seiner Sammlung noch gefehlt hatte. Er vergaß uns das nie und besorgte uns seitdem Reparaturen, wo es ging. Wir fingen ihm dafür jede Motte, die wir erwischen konnten.
»Einen Wermut, Herr Barsig?« fragte Lenz, der schon wieder obenauf war.
»Keinen Alkohol vor abends«, erwiderte Barsig. »Eisernes Prinzip bei mir.«
»Prinzipien muß man durchbrechen, sonst machen sie keine Freude«, erklärte Gottfried und schenkte ein. »Auf die Zukunft der Ligusterschwärmer, der Pfauenaugen und Perlmutterfalter!«
Barsig zögerte einen Moment. »Wenn Sie mir so kommen, kann ich nicht nein sagen«, sagte er und griff zu. »Aber dann wollen wir auch auf die kleinen Ochsenaugen anstoßen.« Er lächelte verlegen, als gäbe er etwas Zweideutiges von einer Frau zum besten. »Ich habe da nämlich eine neue Spielart entdeckt. Mit borstigen Fühlern.«
»Donnerwetter«, sagte Lenz, »alle Achtung! Dann sind Sie ja ein Pionier, und Ihr Name kommt in die Naturgeschichte.«
Wir tranken alle noch ein Glas auf die borstigen Fühler.
Barsig wischte sich den Schnurrbart. »Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Sie können den Ford abholen. Die Direktion hat bewilligt, daß Sie die Reparatur machen.«
»Großartig«, sagte Köster. »Wir können sie gut brauchen. Und wie steht es mit unserm Kostenanschlag?«
»Auch bewilligt.«
»Ohne Abzug?«
Barsig kniff ein Auge zu. »Die Herren wollten erst nicht recht. Aber schließlich...«
»Ein volles Glas auf die Phönixversicherung!« sagte Lenz und schenkte erneut ein.
Barsig stand auf und verabschiedete sich. »Denken Sie an«, sagte er im Gehen, »die Frau, die mit in dem Ford war, ist vor ein paar Tagen doch noch gestorben. Hatte nur Schnittwunden. Wahrscheinlich zuviel Blut verloren.«
»Wie alt war sie denn?« fragte Köster.
»Vierunddreißig«, erwiderte Barsig. »Schwanger im vierten Monat. Mit zwanzigtausend Mark versichert.«
Wir fuhren gleich los, um den Wagen zu holen. Er stand bei einem Bäckermeister. Der Mann war nachts halb betrunken damit gegen eine Mauer gerast. Nur seine Frau war verletzt worden; er selbst hatte nicht einen Kratzer abbekommen.
Wir trafen ihn in der Garage, als wir den Wagen zum Abschleppen fertigmachten. Er sah uns eine Zeitlang schweigend zu und stand etwas zusammengesackt da, mit rundem Rücken und kurzem Hals, den Kopf ein wenig vorgebeugt. Mit der ungesunden grauweißen Gesichtsfarbe, die alle Bäcker haben, sah er im Halbdunkel aus wie ein großer trauriger Mehlwurm. Langsam kann er heran. »Wann ist der Wagen fertig?« fragte er.
»In ungefähr drei Wochen«, erklärte Köster.
Er zeigte auf das Verdeck. »Das ist mit drin, nicht wahr?«
»Wieso?« fragte Otto. »Es ist doch ganz unbeschädigt.«
Der Bäckermeister machte eine ungeduldige Bewegung. »Natürlich. Aber ein neues Verdeck kann doch dabei abfallen. Ist ja ein ziemlich großer Auftrag für Sie. Wir verstehen uns, was?«
»Nein«, sagte Köster.
Er verstand ihn sehr gut. Der Mann wollte kostenlos ein neues Verdeck, für das die Versicherung nicht haftbar war, in die Reparatur hineinschmuggeln. Wir stritten uns eine Weile herum. Der Mann drohte, alles rückgängig zu machen und einen Kostenanschlag von einer gefälligeren Werkstatt einholen zu lassen. Schließlich gab Köster nach. Er hätte es nicht getan, wenn wir nicht Arbeit gebraucht hätten. »Na also, warum denn nicht gleich«, meinte der Bäckermeister mit schiefem Lächeln. »Ich komme in den nächsten Tagen, den Stoff aussuchen. Beige, denke ich. Zarte Farben.«
Wir fuhren los. Draußen zeigte Lenz auf die Sitze des Fords. Sie hatten große schwarze Flecken. »Das Blut seiner toten Frau. Und ein neues Verdeck herausgeschunden. Beige. Zarte Farben. Alle Achtung. Dem trau' ich auch zu, daß er die Versicherungssumme für zwei Tote 'rausholt. Die Frau war ja schwanger.«
Köster zuckte die Achseln. »Er sagt sich wahrscheinlich, daß das eine mit dem andern nichts zu tun hat.«
»Möglich«, sagte Lenz. »Es soll ja Leute geben, für die so was direkt ein Trost im Unglück ist. Uns kostet es glatt fünfzig Mark von unserm Verdienst.«
Nachmittags ging ich unter einem Vorwand nach Hause. Ich war um fünf Uhr mit Patrice Hollmann verabredet, aber ich sagte in der Werkstatt nichts davon. Nicht, daß ich es verbergen wollte; aber es kam mir auf einmal ziemlich unwahrscheinlich vor.
Sie hatte mir ein Café als Treffpunkt angegeben. Ich kannte es nicht; ich wußte nur, daß es ein kleines, elegantes Lokal war. Ahnungslos ging ich hin. Aber ich prallte erschrocken zurück, als ich eintrat. Der Raum war überfüllt mit schwätzenden Frauen. Ich war in eine typische Damenkonditorei geraten.
Mit Mühe gelang es mir, einen Tisch, der gerade frei wurde, zu ergattern. Unbehaglich blickte ich umher. Außer mir waren nur noch zwei Männer da, und die gefielen mir nicht.
»Kaffee, Tee, Schokolade?« fragte der Kellner und wedelte mit seiner Serviette eine Anzahl Kuchenkrümel von der Tischplatte auf meinen Anzug.
»Einen großen Kognak«, erwiderte ich.
Er brachte ihn. Aber er brachte gleichzeitig ein Kaffeekränzchen mit, das Platz suchte, an der Spitze eine Athletin reiferen Alters mit einem Pleureusenhut. »Vier Plätze, bitte!« sagte er und zeigte auf meinen Tisch.
»Halt«, antwortete ich, »der Tisch ist nicht frei. Ich erwarte jemand.«
»Das geht nicht, mein Herr!« sagte der Kellner. »Um diese Zeit können keine Plätze reserviert werden.«
Ich sah ihn an. Dann sah ich die Athletin an, die jetzt dicht am Tisch stand und eine Sessellehne umklammerte. Ich sah ihr Gesicht und verzichtete auf jeden Widerstand. Selbst mit Kanonen hätte man diese Person nicht wankend gemacht in ihrem Entschluß, den Tisch zu erobern.
»Können Sie mir wenigstens noch einen Kognak bringen?« knurrte ich den Kellner an.
»Sehr wohl, mein Herr. Wieder einen großen?«
»Ja.«
»Bitte sehr.« Er verbeugte sich. »Es ist doch ein Tisch für sechs Personen, mein Herr«, sagte er entschuldigend.
»Schon recht. Bringen Sie nur den Kognak.«
Die Athletin schien auch einem Abstinentenklub anzugehören. Sie starrte auf meinen Schnaps, als wäre er ein verfaulter Fisch. Um sie zu ärgern, bestellte ich noch einen und starrte zurück. Das ganze Unternehmen erschien mir plötzlich lächerlich. Was wollte ich hier? Und was wollte ich von dem Mädchen? Ich wußte nicht einmal, ob ich sie in all dem Durcheinander und Geschwätz überhaupt wiedererkennen würde. Ärgerlich schüttete ich meinen Kognak hinunter. — »Salute!« sagte jemand hinter mir.
Ich fuhr auf. Da stand sie und lachte. »Sie fangen ja recht zeitig an!« Ich stellte das Glas, das ich immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. Ich war plötzlich verwirrt. Das Mädchen sah ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Zwischen den vielen Kuchen essenden, wohlgenährten Weibern wirkte es wie eine schmale, junge Amazone, kühl, strahlend, sicher und unangreifbar. — Das wird nie etwas mit uns, dachte ich und sagte: »Wo sind Sie denn nur so geisterhaft hergekommen? Ich habe doch die ganze Zeit die Tür beobachtet.«
Sie zeigte nach rechts hinüber. »Dort drüben ist noch ein Eingang. Aber ich habe mich verspätet. Warten Sie schon lange?«
»Gar nicht. Höchstens zwei, drei Minuten. Ich bin auch erst eben gekommen.«
Das Kaffeekränzchen an meinem Tisch wurde still. Ich spürte die abschätzenden Blicke von vier soliden Müttern im Nacken. »Wollen wir hier bleiben?« fragte ich.
Das Mädchen streifte mit einem raschen Blick den Tisch. Ihr Mund zuckte. Sie sah mich belustigt an. »Ich fürchte, Cafés sind überall gleich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn sie leer sind, sind sie besser. Dies hier ist ein Teufelslokal, in dem man Minderwertigkeitskomplexe bekommt. Wir könnten am besten in eine Bar gehen.«
»In eine Bar? Gibt es denn Bars, die am hellen Tage offen sind?«
»Ich weiß eine«, sagte ich. »Sie ist allerdings sehr ruhig. Wenn Sie das mögen...«
»Manchmal schon...«
Ich blickte auf. Ich konnte im Augenblick nicht feststellen, wie sie das meinte. Ich hatte nichts gegen Ironie, wenn sie nicht gegen mich ging; aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.
»Also gehen wir«, sagte sie.
Ich winkte dem Kellner. »Drei große Kognaks«, brüllte der Unglücksvogel mit einer Stimme, als wollte er einem Gast im Grabe die Rechnung machen. »Drei Mark dreißig!«
Das Mädchen drehte sich um. »Drei Kognaks in drei Minuten? Ganz schönes Tempo!«
»Es sind noch zwei von gestern dabei.«
»So ein Lügner«, zischte die Athletin am Tisch hinter mir. Sie hatte lange geschwiegen.
Ich wandte mich um und verbeugte mich. »Ein gesegnetes Weihnachtsfest, meine Damen!« Dann ging ich rasch.
»Haben Sie Streit gehabt?« fragte mich das Mädchen draußen.
»Nichts Besonderes. Ich habe nur eine ungünstige Wirkung auf Hausfrauen in gesicherten Verhältnissen.«
»Ich auch«, erwiderte sie.
Ich sah sie an. Sie erschien mir wie aus einer andern Welt. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was sie war und wie sie lebte.
Die Bar war sicherer Boden für mich. Fred, der Mixer, stand hinter der Theke und polierte gerade die großen Schwenkgläser für Kognak, als wir hereinkamen. Er begrüßte mich, als sähe er mich zum erstenmal und hätte mich nicht vor zwei Tagen noch nach Hause bringen müssen. Er hatte eine gute Schule und eine riesige Erfahrung hinter sich.
Der Raum war leer bis auf einen Tisch. Dort saß, wie fast immer, Valentin Hauser. Ich kannte ihn vom Kriege her; wir waren in derselben Kompanie gewesen. Er hatte mir einmal durchs Sperrfeuer einen Brief nach vorne gebracht, weil er dachte, er wäre von meiner Mutter. Er wußte, daß ich darauf wartete, denn meine Mutter war operiert worden. Aber er hatte sich geirrt — es war nur eine Reklame für Kopfschützer aus Brennesselstoff gewesen. Auf dem Rückwege hatte er einen Schuß ins Bein bekommen.
Valentin hatte einige Zeit nach dem Kriege eine Erbschaft gemacht. Die vertrank er seitdem. Er behauptete, das Glück feiern zu müssen, lebend herausgekommen zu sein. Es war ihm gleich, daß das schon eine Anzahl Jahre her war. Er erklärte, man könne es gar nicht genug feiern. Er war einer der Menschen, die ein unheimliches Gedächtnis für den Krieg haben. Wir andern hatten vieles vergessen; er aber erinnerte sich an jeden Tag und jede Stunde.
Ich sah, daß er schon viel getrunken hatte: Er saß ganz versunken und abwesend in seiner Ecke. Ich hob die Hand. »Salü, Valentin!«
Er blickte auf und nickte. »Salü, Robby!«
Wir setzten uns in eine Ecke. Der Mixer kam. »Was möchten Sie trinken?« fragte ich das Mädchen.
»Vielleicht einen Martini«, erwiderte sie. »Einen trockenen Martini.«
»Darin ist Fred Spezialist.«
Fred erlaubte sich ein Lächeln. »Mir wie immer«, sagte ich.
Die Bar war kühl und halbdunkel. Sie roch nach vergossenem Gin und Kognak. Es war ein würziger Geruch, wie nach Wacholder und Brot. Von der Decke hing das holzgeschnitzte Modell eines Segelschiffs herab. Die Wand hinter der Theke war mit Kupfer beschlagen. Das gedämpfte Licht eines Leuchters warf rote Reflexe hinein, als spiegele sich dort ein unterirdisches Feuer. Von den kleinen, schmiedeeisernen Wandarmen brannten nur zwei — einer bei Valentin und einer bei uns. Sie hatten gelbe Pergamentschirme, die aus alten Landkarten gemacht waren, und sahen aus wie schmale, erleuchtete Ausschnitte der Welt.
Ich war etwas verlegen und wußte nicht recht, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Ich kannte das Mädchen ja überhaupt nicht, und je länger ich es ansah, um so fremder erschien es mir. Es war lange her, daß ich mit jemand so zusammen gewesen war; ich hatte keine Übung mehr darin. Ich hatte mehr Übung im Umgang mit Männern. Vorhin, im Café, war es mir zu laut gewesen — jetzt, hier, war es plötzlich zu ruhig. Jedes Wort bekam durch die Stille des Raumes so viel Gewicht, daß es schwer war, unbefangen zu reden. Fast wünschte ich mich schon wieder ins Café zurück.
Fred brachte die Gläser. Wir tranken. Der Rum war stark und frisch. Er schmeckte nach Sonne. Er war etwas, woran man sich halten konnte. Ich trank und gab das Glas Fred gleich wieder mit.
»Gefällt es Ihnen hier?« fragte ich.
Das Mädchen nickte.
»Besser als in der Konditorei drüben?«
»Ich hasse Konditoreien«, sagte sie.
»Weshalb haben wir uns dann gerade da getroffen?« fragte ich verblüfft.
»Ich weiß nicht.« Sie nahm ihre Kappe ab. »Mir fiel nichts anderes ein.«
»Um so besser, daß es Ihnen dann hier gefällt. Wir sind oft hier. Abends ist diese Bude für uns schon fast so eine Art Zuhause.«
Sie lachte. »Ist das nicht eigentlich traurig?«
»Nein«, sagte ich, »zeitgemäß.«
Fred brachte mir das zweite Glas. Er legte eine grüne Havanna dazu auf den Tisch. »Von Herrn Hauser.«
Valentin winkte aus seiner Ecke herüber und hob sein Glas. »31. Juli 17, Robby«, sagte er mit schwerer Stimme.
Ich nickte ihm zu und hob ebenfalls mein Glas.
Er mußte immer jemand zutrinken; ich hatte ihn abends schon getroffen, wie er dem Mond oder einem Fliederbusch in einer Bauernkneipe zutrank. Dann erinnerte er sich an irgendeinen Tag aus den Schützengräben, wo es besonders schwer zugegangen war, und war dankbar dafür, daß er noch da war und so sitzen konnte.
»Er ist mein Freund«, sagte ich zu dem Mädchen. »Ein Kamerad aus dem Kriege. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der aus einem großen Unglück ein kleines Glück gemacht hat. Er weiß nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen soll — deshalb freut er sich einfach, daß er noch lebt.«
Sie sah mich nachdenklich an. Ein Streifen Licht fiel schräg über ihre Stirn und ihren Mund. »Das kann ich gut verstehen«, sagte sie.
Ich blickte auf. »Das sollten Sie aber nicht. Dafür sind Sie viel zu jung.«
Sie lächelte. Es war ein leichtes, schwebendes Lächeln, das nur in den Augen war. Das Gesicht veränderte sich kaum dabei; es wurde nur heller, von innen heraus heller. »Zu jung«, sagte sie, »das ist so ein Wort. Ich finde, zu jung ist man nie. Nur immer zu alt.«
Ich schwieg einen Augenblick. »Dagegen ließe sich eine Menge sagen«, erwiderte ich dann und machte Fred ein Zeichen, mir noch etwas zu trinken zu bringen. Das Mädchen war so sicher und selbstverständlich; ich fühlte mich wie ein Holzblock dagegen. Ich hätte gern ein leichtes, spielerisches Gespräch geführt, so ein richtiges Gespräch, wie es einem gewöhnlich hinterher einfällt, wenn man wieder allein ist. Lenz konnte das; bei mir aber wurde es immer gleich ungeschickt und schwer. Gottfried behauptete nicht mit Unrecht von mir, als Unterhalter stände ich ungefähr auf der Stufe eines Postsekretärs.
Zum Glück war Fred vernünftig. Er brachte mir statt der kleinen Fingerhüte jetzt gleich ein anständiges Weinglas voll heran. So brauchte er nicht immer hin und her zu laufen, und es fiel auch nicht so auf, wieviel ich trank. Ich mußte trinken; anders konnte ich diese stockige Schwere nicht loswerden.
»Wollen Sie nicht noch einen Martini nehmen?« fragte ich das Mädchen.
»Was trinken Sie denn da?«
»Das hier ist Rum.«
Sie betrachtete mein Glas. »Das haben Sie neulich auch schon getrunken.«
»Ja«, sagte ich, »das trinke ich meistens.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das schmeckt.«
»Ob es schmeckt, weiß ich schon gar nicht mehr.«
Sie sah mich an. »Weshalb trinken Sie es denn?«
»Rum«, sagte ich, froh, etwas gefunden zu haben, über das ich reden konnte. »Rum hat mit Schmecken nicht viel zu tun. Er ist nicht so einfach ein Getränk — er ist schon mehr ein Freund. Ein Freund, der alles leichter macht. Er verändert die Welt. Und deshalb trinkt man ja« — Ich schob das Glas beiseite. »Aber soll ich Ihnen nicht noch einen Martini bestellen?«
»Lieber einen Rum«, sagte sie. »Ich möchte ihn auch mal versuchen.«
»Gut«, erwiderte ich, »aber nicht diesen. Der ist für den Anfang zu schwer. Bring einen Baccardi-Cocktail«, rief ich zu Fred hinüber.
Fred brachte die Gläser. Er setzte auch eine Schale mit Salzmandeln und schwarzgebrannten Kaffeebohnen dazu. »Laß meine Flasche nur gleich hier stehen«, sagte ich.
Langsam bekam alles Griff und Glanz. Die Unsicherheit schwand, die Worte kamen von selber, und ich achtete nicht mehr so darauf, was ich sagte. Ich trank weiter und spürte, wie die große, weiche Welle herankam und mich erfaßte, wie sich die leere Stunde der Dämmerung mit Bildern füllte und geisterhaft über den gleichgültigen, grauen Bezirken des Daseins der lautlose Zug der Träume wiederauftauchte. Die Wände der Bar weiteten sich, und plötzlich war es nicht mehr die Bar — es war eine Ecke der Welt, ein Winkel der Zuflucht, ein halbdunkler Unterstand, um den ringsumher die ewige Schlacht des Chaos brauste und in dem wir geborgen hockten, rätselhaft zueinandergeweht durch das Zwielicht der Zeit. Das Mädchen saß zusammengekauert in seinem Stuhl, fremd und geheimnisvoll, als wäre es hierher verschlagen von der anderen Seite des Lebens. Ich hörte mich sprechen, aber es war, als wäre ich es nicht mehr, als spräche jetzt ein anderer, einer, der ich hätte sein mögen. Die Worte stimmten nicht mehr, sie verschoben sich, sie drängten hinüber in andere, buntere Gebiete, als sie die kleinen Ereignisse meines Lebens geben konnten — ich wußte, daß sie schon nicht mehr Wahrheit waren, daß sie zu Phantasie und Lüge wurden, aber es war mir gleich —, die Wahrheit war trostlos und fahl, und nur das Gefühl und der Abglanz der Träume waren Leben...
In der kupfernen Wanne der Bar glühte das Licht. Ab und zu hob Valentin sein Glas und murmelte ein Datum vor sich hin. Draußen spülte sich gedämpft die Straße mit den Raubvogelrufen der Autos vorbei. Sie schrie herein, wenn jemand die Tür öffnete. Sie schrie wie ein keifendes, neidisches, altes Weib.
Es war schon dunkel, als ich Patrice Hollmann nach Hause brachte. Langsam ging ich zurück. Ich fühlte mich plötzlich allein und leer. Ein feiner Regen sprühte hernieder. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen. Ich hatte zuviel getrunken, das merkte ich jetzt. Nicht, daß ich schwankte — aber ich merkte es doch deutlich.
Mir wurde mit einem Schlage mächtig heiß. Ich knöpfte den Mantel auf und schob den Hut zurück. Verdammt, es hatte mich wieder einmal überrumpelt! Was mochte ich da vorhin nur alles zusammengeredet haben? Ich wagte gar nicht, genau darüber nachzudenken. Ich wußte es nicht einmal mehr, das war das schlimmste. Hier allein, auf der kalten, autobusdröhnenden Straße sah das alles ganz anders aus als im Halbdunkel der Bar. Ich verfluchte mich selber. Einen schönen Eindruck mußte das Mädchen von mir bekommen haben! Sie hatte es sicher gemerkt. Sie hatte ja selbst fast nichts getrunken. Beim Abschied hatte sie mich auch so sonderbar angesehen...
Herrgott! Ich drehte mich um. Dabei stieß ich mit einem dicken kleinen Mann zusammen. »Na«, sagte ich wütend.
»Sperren Sie doch Ihre Augen auf, Sie bockender Strohwisch!« bellte der Dicke.
Ich starrte ihn an.
»Wohl noch nicht oft Menschen gesehen, was?« kläffte er weiter.
Er kam mir gerade recht. »Menschen wohl«, sagte ich, »aber noch keine Bierfässer, die Spazierengehen.«
Der Dicke besann sich keine Sekunde. Er stoppte und schwoll. »Wissen Sie was?« fauchte er. »Gehen Sie in den Zoo! Träumerische Känguruhs haben auf der Straße nichts zu suchen.«
Ich merkte, daß ich einen Schimpfer hoher Klasse vor mir hatte. Es galt, trotz aller Depression, die Ehre zu wahren.
»Wandere weiter, geisteskrankes Siebenmonatskind«, sagte ich und hob segnend die Hand.
Er beachtete meine Aufforderung nicht. »Laß dir Beton ins Gehirn spritzen, runzliger Hundsaffe!« bellte er.
Ich gab ihm einen dekadenten Plattfuß zurück. Er mir einen Kakadu in der Mauser; ich ihm einen arbeitslosen Leichenwäscher. Darauf bezeichnete er mich, schon mit Respekt, als krebskranken Kuhkopf; ich ihn, um ein Ende zu machen, als wandelnden Beefsteakfriedhof. Sein Gesicht verklärte sich plötzlich. »Beefsteakfriedhof ist gut!« sagte er. »Kannte ich noch nicht. Kommt in mein Repertoire! Alsdann...« Er lüftete den Hut, und wir trennten uns voll Achtung voneinander.
Das Schimpfen hatte mich erfrischt. Aber der Ärger war geblieben. Er wurde sogar immer stärker, je nüchterner ich wurde. Ich kam mir vor wie ein ausgewrungenes nasses Handtuch. Aber allmählich ärgerte ich mich nicht nur über mich — ich ärgerte mich über alles —, auch über das Mädchen. Sie war ja der Anlaß gewesen, daß ich mich betrunken hatte. Ich schlug den Kragen hoch. Sollte sie meinetwegen denken, was sie wollte, mir war es jetzt egal — sie wußte so wenigstens gleich, woran sie war. Und meinetwegen sollte die ganze Sache zum Teufel gehen — was geschehen war, war geschehen. Konnte man nichts mehr dran tun. War vielleicht sogar besser...
Ich ging in die Bar zurück und betrank mich nun erst richtig.

5

IV

Das Wetter wurde warm und feucht, und es regnete einige Tage lang. Dann klärte es sich auf, die Sonne fing an zu brüten, und als ich am Freitagmorgen in die Werkstatt kam, sah ich Mathilde Stoß auf dem Hof stehen, den Besen unter den Arm geklemmt, mit einem Gesicht wie ein gerührtes Nilpferd.
»Nu sehen Sie doch mal, Herr Lohkamp, die Pracht! Is doch immer wieder'n Wunder.«
Ich blieb überrascht stehen. Der alte Pflaumenbaum neben der Benzinpumpe war über Nacht aufgeblüht.
Er hatte den ganzen Winter krumm und kahl dagestanden, wir hatten alte Reifen darangehängt und Ölkanister zum Trocknen über die Äste gestülpt, er war nichts anderes gewesen als ein bequemer Ständer für alles, vom Putzlappen bis zur Motorhaube — noch vor ein paar Tagen hatten unsere gewaschenen blauen Leinenhosen daran herumgeflattert, noch gestern hatte man ihm kaum etwas angemerkt —, und nun auf einmal, über Nacht, war er verwandelt und verzaubert in eine schimmernde Wolke von Rosa und Weiß, eine Wolke von hellen Blüten, als hätte sich ein Schmetterlingsschwarm auf unsern dreckigen Hof verflogen...
»Und der Geruch«, sagte Mathilde schwärmerisch und verdrehte die Augen, »wunderbar — genauso wie Ihr Rum...«
Ich roch nichts. Aber ich verstand sofort. »Es riecht mehr nach dem Kundenkognak«, behauptete ich.
Sie wehrte energisch ab. »Herr Lohkamp, Sie müssen erkältet sein. Vielleicht ha'm Sie auch Polypen in der Nase. Polypen hat heute fast jeder Mensch. Nee, die alte Stoß hat 'ne Nase wie'n Windhund, verlassen Sie sich drauf, es ist Rum — alter Rum...«
»Na schön, Mathilde...«
Ich schenkte ihr ein Glas Rum ein und ging dann zur Benzinpumpe, Jupp saß schon da. Er hatte in einer verrosteten Konservenbüchse vor sich eine Anzahl abgeschnittener Blütenzweige stehen. »Was soll denn das heißen?« fragte ich erstaunt.
»Für die Damen«, erklärte Jupp. »Wenn sie tanken, gibt's so einen Zweig gratis. Habe daraufhin schon neunzig Liter mehr verkauft. Der Baum ist Gold wert, Herr Lohkamp. Wenn wir den nicht hätten, müßten wir ihn künstlich nachmachen.«
»Du bist ein geschäftstüchtiger Knabe.«
Er grinste. Die Sonne durchleuchtete seine Ohren, daß sie aussahen wie rubinfarbene Kirchenfenster. »Zweimal bin ich auch schon fotografiert worden«, berichtete er. »Mit dem Baum dahinter.«
»Paß auf, du wirst noch ein Filmstar«, sagte ich und ging zur Grube hinüber, wo Lenz gerade unter dem Ford hervorkroch.
»Robby«, sagte er, »mir ist da was eingefallen. Wir müssen uns mal um das Mädchen von dem Binding kümmern.«
Ich starrte ihn an. »Wie meinst du das?«
»Genau, wie ich es sage. Aber was starrst du denn so?«
»Ich starre nicht...«
»Du stierst sogar. Wie hieß das Mädchen eigentlich noch?
Pat, aber wie weiter?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte ich.
Er richtete sich auf. »Das weißt du nicht? Du hast doch ihre Adresse aufgeschrieben! Ich habe es selbst gesehen.«
»Habe den Zettel verloren.«
»Verloren!« Er griff sich mit beiden Händen in seinen gelben Haarwald. »Und dazu habe ich damals den Binding eine Stunde draußen beschäftigt! Verloren! Na, vielleicht weiß Otto sie noch.«
»Otto weiß sie auch nicht.«
Er sah mich an. »Jammervoller Dilettant! Um so schlimmer! Weißt du denn nicht, daß das ein fabelhaftes Mädchen war? Herrgott!« Er starrte zum Himmel. »Läuft uns endlich schon mal was Richtiges über den Weg, dann verliert so ein Trauerbolzen die Adresse!«
»So großartig fand ich sie gar nicht.«
»Weil du ein Esel bist«, erwiderte Lenz, »ein Trottel, der nichts kennt, was über das Niveau der Huren aus dem Café International hinausgeht! Du Klavierspieler, du! Ich sage dir nochmals: Es war ein Glücksfall, ein besonderer Glücksfall, dieses Mädchen! Du hast natürlich keine Ahnung von so was! Hast du dir die Augen angesehen? Natürlich nicht — du hast dein Schnapsglas angesehen...«
»Halt den Schnabel!« unterbrach ich ihn, denn mit dem Schnapsglas traf er in eine offene Wunde.
»Und die Hände«, fuhr er fort, ohne mich zu beachten, »schmale, lange Hände wie eine Mulattin, davon versteht Gottfried etwas, das kannst du glauben! Heiliger Moses! Endlich einmal ein Mädchen, wie es sein muß, schön, natürlich und, was das wichtigste ist, mit Atmosphäre« — er unterbrach sich —, »weißt du überhaupt, was das ist, Atmosphäre?«
»Luft, die man in einen Reifen pumpt«, erklärte ich mürrisch.
»Natürlich«, sagte er mitleidig und verachtungsvoll, »Luft, natürlich! Atmosphäre, Aura, Strahlung, Wärme, Geheimnis — das, was die Schönheit erst beseelt und lebendig macht —, aber was rede ich — deine Atmosphäre ist der Rumdunst...« »Hör jetzt auf oder ich lasse was auf deinen Schädel fallen«, knurrte ich.
Aber Gottfried redete weiter, und ich tat ihm nichts. Er hatte ja keine Ahnung davon, was passiert war und daß jedes Wort von ihm mich mächtig traf. Besonders jedes über das Trinken. Ich war schon drüber weg gewesen und hatte mich ganz gut getröstet; jetzt aber wühlte er alles wieder auf. Er lobte und lobte das Mädchen, und mir wurde bald zumute, als hätte ich wirklich etwas Besonderes unwiederbringlich verloren.

Ärgerlich ging ich um sechs Uhr zum Café International. Das war meine Zuflucht; Lenz hatte es mir ja auch bestätigt. Zu meinem Erstaunen herrschte ein Riesenbetrieb, als ich eintrat. Auf der Theke standen Torten und Napfkuchen, und der plattfüßige Alois rannte mit einem Tablett voll Kaffeegeschirr klappernd ins Hinterzimmer. Ich blieb stehen. Kaffee, kannenweise? Da mußte ja ein ganzer Verein schwer betrunken unter den Tischen liegen.
Aber der Wirt klärte mich auf. Heute war im Hinterzimmer die Abschiedsfeier für Rosas Freundin Lilly. Ich schlug mich vor den Kopf. Natürlich, dazu war ich ja eingeladen! Als einziger Mann sogar, wie Rosa bedeutungsvoll gesagt hatte — denn der schwule Kiki, der auch da war, zählte nicht. Ich ging rasch noch einmal los und besorgte einen Strauß Blumen, eine Ananas, eine Kinderklapper und eine Tafel Schokolade.
Rosa empfing mich mit dem Lächeln einer großen Dame. Sie trug ein schwarzes, ausgeschnittenes Kleid und thronte oben am Tisch. Ihre Goldzähne leuchteten. Ich erkundigte mich, wie es ihrer Kleinen ginge, und überreichte für sie die Zelluloidklapper und die Schokolade. Rosa strahlte.
Ich wandte mich mit der Ananas und den Blumen an Lilly. »Meine herzlichsten Glückwünsche!«
»Er ist und bleibt ein Kavalier!« sagte Rosa. »Und nun komm, Robby, setz dich zwischen uns beide.«
Lilly war die beste Freundin Rosas. Sie hatte eine glänzende Karriere hinter sich. Sie war das gewesen, was die unerreichbare Sehnsucht jeder kleinen Hure ist: eine Hotelfrau. Eine Hotelfrau geht nicht auf den Straßenstrich — sie wohnt im Hotel und macht da ihre Bekanntschaften. Fast alle Huren kommen nicht dazu — sie haben nicht genug Garderobe und auch nie genug Geld, um einmal eine Zeitlang auf Freier warten zu können. Lilly hatte zwar nur in Provinzhotels gelebt; aber sie hatte doch im Laufe der Jahre fast viertausend Mark gespart. Jetzt wollte sie heiraten. Ihr künftiger Mann betrieb ein kleines Installationsgeschäft. Er wußte alles von ihr, und es war ihm gleichgültig. Für die Zukunft konnte er unbesorgt sein; wenn eines dieser Mädchen heiratete, war es zuverlässig. Sie kannten den Rummel und hatten genug davon. Sie waren treu.
Lilly sollte Montag heiraten. Heute gab Rosa ihr einen Abschiedskaffee. Alle waren dazu erschienen, um noch einmal mit Lilly zusammen zu sein. Nach ihrer Hochzeit konnte sie nicht mehr hierher kommen.
Rosa schenkte mir eine Tasse Kaffee ein. Alois trabte mit einem riesigen Napfkuchen herbei, der gespickt war mit Rosinen, Mandeln und grüner Sukkade. Sie legte mir ein mächtiges Stück davon auf. Ich wußte, was ich zu tun hatte. Kennerisch probierte ich einen Bissen und markierte gewaltiges Erstaunen. »Donnerwetter, der ist aber bestimmt nicht im Laden gekauft...«
»Selbstgebacken«, sagte Rosa glücklich. Sie war eine fabelhafte Köchin und hatte gern, wenn man es anerkannte. Besonders in Gulasch und Napfkuchen war sie unerreicht. Sie war nicht umsonst eine Böhmin.
Ich blickte mich um. Da saßen sie rings um den Tisch, die Arbeiterinnen im Weinberge Gottes, die untrüglichen Menschenkennerinnen, die Soldaten der Liebe — Wally, die Schöne, der man neulich bei einer nächtlichen Autofahrt den Weißfuchs gestohlen hatte; — Lina mit dem Holzbein, die immer noch Liebhaber fand; — Fritzi, das Luder, die den plattfüßigen Alois liebte, obschon sie längst eine eigene Wohnung hätte haben können und einen Freund, der sie aushielt; — Margot mit den roten Backen, die immer in Dienstmädchentracht ging und damit elegante Freier fing; — Marion, die jüngste, strahlend und unbedenklich; — Kiki, der als Mann nicht mitzählte, weil er Frauenkleider trug und geschminkt war; — Mimi, das arme Biest, dem das Laufen mit seinen fünfundvierzig Jahren und den Krampfadern immer schwerer fiel; — ein paar Barfrauen und Tischdamen, die ich nicht kannte; — und endlich, als zweiter Ehrengast, klein, grau und verschrumpelt wie ein Winterapfel, Muttchen, die Vertraute aller, Trost und Stütze nächtlicher Wanderer, Muttchen mit dem Wurstkessel von der Ecke Nikolaistraße, fliegendes Büfett und Wechselbüro nachts, die neben ihren Frankfurter Würstchen auch noch heimlich Zigaretten und Gummiartikel verkaufte und angepumpt werden konnte.
Ich wußte, was sich schickte. Kein Wort von Geschäft, keine unzarte Andeutung heute — vergessen die wunderbare Leistung Rosas, die ihr den Beinamen das »Eiserne Pferd« eingetragen hatte; — vergessen Fritzis Unterhaltungen mit dem Viehhändler Stefan Grigoleit über die Liebe; — vergessen Kikis Tänze um den Salzbrezelkorb im Morgengrauen. Die Unterhaltung hier konnte jedem Damenkränzchen Ehre machen.
»Alles schon vorbereitet, Lilly?« fragte ich.
Sie nickte. »Die Aussteuer hatte ich ja schon lange.«
»Wunderbare Aussteuer«, sagte Rosa. »Fehlt aber auch nicht ein Spitzendeckchen.«
»Wozu braucht man denn Spitzendeckchen?« fragte ich.
»Na hör mal, Robby!« Rosa sah mich so vorwurfsvoll an, daß ich rasch erklärte, ich wüßte es schon. Spitzendecken — gehäkelte Möbelschoner, natürlich, sie waren das Symbol kleinbürgerlicher Behaglichkeit, das geheiligte Symbol der Ehe, des verlorenen Paradies. Sie waren ja alle keine Huren aus Temperament; sie waren Gescheiterte der bürgerlichen Existenz. Ihre geheime Sehnsucht war das Ehebett; nicht das Laster. Aber das hätten sie nie eingestanden.
Ich setzte mich ans Klavier. Rosa hatte schon darauf gewartet. Sie liebte Musik wie alle diese Mädchen. Ich spielte zum Abschied noch einmal alle ihre und Lillys Lieblingsschlager. Zu Anfang das »Gebet einer Jungfrau«. Der Titel war zwar nicht ganz angebracht für das Lokal, aber es war auch nur ein Bravourstück mit viel Geklimper. Dann folgte »Der Vöglein Abendlied«, das »Alpenglühen«, »Wenn die Liebe stirbt«, »Die Millionen des Harlekin« und zum Schluß »Nach der Heimat möcht' ich wieder«. Das liebte Rosa besonders. Huren sind ja das Härteste und Sentimentalste zugleich. Alle sangen es mit. Der schwule Kiki die zweite Stimme.
Lilly brach auf. Sie mußte ihren Bräutigam abholen. Rosa küßte sie herzhaft ab. »Mach's gut, Lilly. Laß dich nicht unterkriegen!«
Beladen mit Geschenken ging sie davon. Weiß der Henker, sie hatte ein ganz anderes Gesicht als früher. Die harten Linien, die sich bei jedem eingraben, der mit der menschlichen Gemeinheit zu tun hat, waren weggewischt; das Gesicht war weicher geworden, es hatte wahrhaftig wieder etwas von einem jungen Mädchen.
Wir standen vor der Tür und winkten Lilly nach. Mimi fing plötzlich an zu heulen. Sie war selbst mal verheiratet gewesen. Ihr Mann war im Kriege an Lungenentzündung gestorben. Wäre er gefallen, hätte sie eine kleine Rente gehabt und nicht auf die Straße müssen. Rosa klopfte ihr auf den Rücken. »Na, Mimi, nur nicht weich werden! Komm, wir trinken noch einen Schluck Kaffee.«
Die ganze Gesellschaft kehrte in das dunkle International zurück, wie eine Schar Hühner in den Stall. Aber es kam keine rechte Stimmung mehr auf. »Spiel uns noch einen zum Schluß, Robby!« sagte Rosa. »Zum Aufmuntern.«
»Schön«, erwiderte ich. »Wollen wir mal den ›Alten Kameradenmarsch‹ 'runterhauen.«
Dann verabschiedete ich mich auch. Rosa steckte mir noch ein Paket Kuchen zu. Ich schenkte es Muttchens Sohn, der draußen bereits den abendlichen Wurstkessel aufbaute.
Ich überlegte, was ich machen sollte. In die Bar wollte ich auf keinen Fall; in ein Kino auch nicht; in die Werkstatt? Unschlüssig sah ich nach der Uhr. Es war acht. Jetzt mußte Köster wieder zurück sein. Wenn er da war, konnte Lenz nicht wieder stundenlang über das Mädchen reden. Ich ging hin.
In der Bude war Licht. Nicht nur in der Bude — auch der ganze Hof war überflutet. Köster war allein da. »Was ist denn hier los, Otto?« fragte ich. »Hast du vielleicht den Cadillac verkauft?«
Köster lachte. »Nein. Gottfried hat nur ein bißchen illuminiert.«
Beide Scheinwerfer des Cadillac brannten. Der Wagen war so geschoben, daß die Lichtgarben durch das Fenster in den Hof fielen, mitten auf den weißblühenden Pflaumenbaum. Es sah wunderbar aus, wie er so kreidig dastand. Die Dunkelheit zu beiden Seiten schien wie ein schwarzes Meer zu rauschen.
»Großartig«, sagte ich. »Wo ist er denn?«
»Er holt was zu essen.«
»Glänzende Idee. Fühle mich so ein bißchen windig. Kann aber sein, daß es bloß Hunger ist.«
Köster nickte »Essen ist immer gut. Hauptgesetz aller alten Krieger. Ich habe heute nachmittag auch was Windiges gemacht. Habe Karl zum Rennen gemeldet.«
»Was?« sagte ich. »Etwa zum Sechsten?«
Er nickte.
»Verdammt noch mal, Otto, da starten doch allerlei Kanonen.«
Er nickte wieder. »In der Sportwagenklasse Braumüller.«
Ich krempelte mir die Ärmel auf. »Dann 'ran, Otto! Große Ölwäsche für unsern Liebling.«
»Halt«, rief der letzte Romantiker, der gerade hereinkam, »erst futtern!« Er packte das Abendbrot aus — Käse, Brot, steinharte Räucherwurst und Sprotten. Dazu tranken wir gut gekühltes Bier. Wir aßen wie eine Kolonne ausgehungerter Drescher. Dann gingen wir Karl zu Leibe. Zwei Stunden arbeiteten wir an ihm herum und kontrollierten und schmierten alle Lager. Hinterher aßen Lenz und ich zum zweitenmal Abendbrot. Gottfried beleuchtete jetzt auch den Ford. Durch Zufall war bei dem Zusammenstoß einer der Scheinwerfer heil geblieben. Der starrte nun von dem hochgebogenen Chassis schräg hinauf in den Himmel.
Lenz drehte sich zufrieden um. »So, Robby, nun hol mal die Flaschen. Wir wollen das ›Fest des blühenden Baumes‹ feiern.«
Ich stellte den Kognak, den Gin und zwei Gläser auf den Tisch.
»Und du?« fragte Gottfried.
»Ich trinke nichts.«
»Was? Warum nicht?«
»Weil ich keine Lust zu dieser verdammten Sauferei mehr habe.«
Lenz betrachtete mich eine Weile. »Unser Kind ist übergeschnappt, Otto«, sagte er dann zu Köster.
»Laß ihn doch, wenn er nicht will.«
Lenz schenkte sich sein Glas voll. »Der Junge ist schon seit einiger Zeit etwas verrückt.«
»Ist noch nicht das Schlechteste«, erklärte ich.
Der Mond kam groß und rot hinter dem Dach der Fabrik gegenüber hervor. Wir saßen eine Weile und schwiegen.
»Sag mal, Gottfried«, begann ich dann, »du bist doch ein Fachmann in der Liebe, nicht?«
»Fachmann? Ich bin der Altmeister der Liebe«, erwiderte Lenz bescheiden.
»Schön. Ich möchte nämlich mal wissen, ob man sich eigentlich dabei immer blödsinnig benimmt.«
»Wieso blödsinnig?«
»Na so, als ob man halb trunken ist. Herumredet und Unsinn quatscht und schwindelt.«
Lenz brach in ein Gelächter aus. »Aber Baby! Das Ganze ist doch Schwindel. Ein wunderbarer Schwindel von Mama Natur. Schau dir den Pflaumenbaum an! Er schwindelt auch gerade. Macht sich schöner, als er nachher ist. Es wäre ja scheußlich, wenn Liebe was mit Wahrheit zu tun hätte. Gott sei Dank, alles können die verdammten Ethiker doch nicht unterjochen.«
Ich richtete mich auf. »Du meinst, ohne etwas Schwindel geht's überhaupt nicht?«
»Überhaupt nicht, Kindchen.«
»Kann man sich aber doch verflucht lächerlich durch machen.«
Lenz grinste. »Merke dir eins, Knabe: Nie, nie, nie kann man sich lächerlich bei einer Frau machen, wenn man etwas ihretwegen tut. Selbst beim albernsten Theater nicht. Mach, was du willst — steh kopf, rede den dümmsten Quatsch, prahle wie ein Pfau, singe vor ihrem Fenster, nur eins tu nicht; sei nicht sachlich! Nicht vernünftig!«
Ich wurde lebendig. »Was meinst du dazu, Otto?«
Köster lachte. »Wird wohl stimmen.«
Er stand auf und klappte Karls Motorhaube auf. Ich holte meine Rumflasche und ein Glas und stellte sie auf den Tisch. Otto ließ den Wagen an. Der Motor schlurfte ganz tief und verhalten. Lenz hatte die Füße auf der Fensterbank und starrte hinaus. Ich setzte mich neben ihn. »Warst du schon mal betrunken, wenn du mit einer Frau zusammen warst?«
»Oft«, erwiderte er, ohne sich zu rühren.
»Und?«
Er sah mich aus schrägen Augen an. »Du meinst, wenn man dann was verboxt hat? Nie entschuldigen, Baby. Nie reden. Blumen schicken. Ohne Brief. Nur Blumen. Die decken alles zu. Sogar Gräber.«
Ich sah ihn an. Er rührte sich nicht. Seine Augen glitzerten im Widerschein des weißen Lichtes draußen. Der Motor lief immer noch, leise grollend, als bebe unter uns die Erde.
»Könnte nun eigentlich ruhig etwas trinken«, sagte ich und machte die Flasche auf.
Köster stellte den Motor ab. Dann wandte er sich an Lenz.
»Der Mond ist jetzt hell genug, um ein Glas zu finden, Gottfried. Mach die Illumination aus. Besonders den Ford. Das Biest erinnert mich mit dem schrägen Scheinwerfer an den Krieg. War kein Spaß nachts, wenn die Dinger nach dem Flugzeug langten.«
Lenz nickte. »Und mich erinnert das da — na, ist ja egal...« Er stand auf und machte die Scheinwerfer aus.
Der Mond war über das Fabrikdach emporgestiegen. Er war immer heller geworden und hing nun wie ein gelber Lampion in den Ästen des Pflaumenbaumes. Die Zweige schwankten leise hin und her im schwachen Wind. »Merkwürdig«, sagte Lenz nach einer Weile, »warum setzt man allen möglichen Leuten Denkmäler — warum nicht mal dem Mond oder einem blühenden Baum?«
Ich ging früh nach Hause. Als ich die Korridortür aufschloß, hörte ich Musik. Es war das Grammophon Erna Bönigs, der Sekretärin. Eine leise, klare Frauenstimme sang. Dann kam ein Geglitzer von gedämpften Geigen und Banjopizzikatis. Und wieder die Stimme, eindringlich, weich, als wäre sie ganz erfüllt von Glück. Ich horchte, um die Worte zu verstehen. Es klang sonderbar rührend, hier auf dem dunklen Korridor, zwischen der Nähmaschine von Frau Bender und den Koffern der Familie Hasse, wie die Frau da so leise sang. Ich sah den ausgestopften Wildschweinschädel über der Küche an. Ich hörte das Dienstmädchen mit Geschirr rumoren. »Wie hab' ich nur leben können ohne dich«, sang die Stimme, ein paar Schritte weiter hinter der Tür.
Ich zuckte die Achseln und ging in mein Zimmer.
Nebenan hörte ich erregtes Gezänk. Ein paar Minuten später klopfte es bei mir und Hasse kam herein.
»Störe ich Sie?« fragte er müde.
»Gar nicht«, sagte ich. »Wollen Sie was trinken?«
»Lieber nicht. Nur etwas sitzen.«
Er sah stumpf vor sich hin. »Sie haben's gut«, sagte er, »Sie sind allein...«
»Ach Unsinn«, erwiderte ich. »Immer so allein 'rumsitzen, das ist auch nichts — können Sie mir schon glauben...«
Er saß zusammengesunken in seinem Sessel. Seine Augen waren gläsern im Halbdunkel, das der Widerschein der Laternen von draußen hereinwarf. Die schmalen, abfallenden Schultern... »Hab' mir das Leben ganz anders vorgestellt«, sagte er nach einer Weile.
»Haben wir alle«, sagte ich.
Nach einer halben Stunde ging er wieder hinüber, um sich mit seiner Frau zu vertragen. Ich gab ihm ein paar Zeitungen und eine halbe Flasche Curaçao mit, die noch von irgendwann auf meinem Schrank herumstand — ein unangenehmes, süßes Zeug, aber für ihn ganz gut. Er verstand doch nichts davon.
Leise, fast lautlos ging er hinaus, ein Schatten im Schatten, als wäre er schon erloschen. Ich machte die Tür hinter ihm zu. Vom Korridor her wehte dabei wie ein buntes Seidentuch ein Fetzen Musik noch mit herein — Geigen, gedämpfte Banjos — »wie hab' ich nur leben können ohne dich...«
Ich setzte mich ans Fenster. Draußen lag der Friedhof im blauen Mondlicht. Die bunten Würfel der Lichtreklamen kletterten über die Wipfel der Bäume, und die Grabsteine schimmerten aus der Dunkelheit hervor. Sie waren still und ohne Schrecken. Autos hupten dicht an ihnen entlang, und das Licht der Scheinwerfer huschte über ihre verwitterten Inschriften.
Ich saß ziemlich lange und dachte an allerlei Dinge. Auch daran, wie wir damals zurückgekommen waren aus dem Kriege, jung, ohne Glauben, wie Bergleute aus einem eingestürzten Schacht. Wir hatten marschieren wollen gegen die Lüge, die Ichsucht, die Gier, die Trägheit des Herzens, die all das verschuldet hatten, was hinter uns lag — wir waren hart gewesen, ohne anderes Vertrauen als das zu dem Kameraden neben uns und das eine andere, das nie getrogen hatte: zu den Dingen — zu Himmel, Tabak, Baum und Brot und Erde —; aber was war daraus geworden? Alles war zusammengebrochen, verfälscht und vergessen. Und wer nicht vergessen konnte, dem blieben nur die Ohnmacht, die Verzweiflung, die Gleichgültigkeit und der Schnaps. Die Zeit der großen Menschen- und Männerträume war vorbei. Die Betriebsamen triumphierten. Die Korruption. Das Elend.

»Sie haben's gut, Sie sind allein«, sagte Hasse. Alles ganz schön — wer allein war, konnte nicht verlassen werden. Aber manchmal, abends, dann zerbrach das künstliche Gebäude, das Leben verwandelte sich in eine schluchzende, jagende Melodie, einen Strudel von wilder Sehnsucht, von Begehren, Schwermut und Hoffnung, herauszukommen aus diesem sinnlosen Betäuben, heraus aus dem sinnlosen Geleier dieser ewigen Drehorgel, ganz gleich, wohin es ging. Ach, dieses armselige Bedürfnis nach einem bißchen Wärme — konnten es denn nicht zwei Hände sein und ein geneigtes Gesicht? Oder war das auch nur Täuschung und Verzicht und Flucht? Gab es denn etwas anderes als Alleinsein?
Ich schloß das Fenster. Nein, es gab nichts anderes. Für alles andere hatte man viel zuwenig Boden unter den Füßen.

Aber am nächsten Morgen brach ich frühzeitig auf und klopfte den Besitzer eines kleinen Blumenladens aus seiner Wohnung, bevor ich zur Werkstatt ging. Ich suchte einen Busch Rosen bei ihm aus und sagte ihm, er möge sie gleich fortschicken. Es war ein wenig sonderbar für mich, als ich die Adresse langsam auf die Karte schrieb: Patrice Hollmann.

6

V

Köster war in seinem ältesten Anzug zum Finanzamt gefahren. Er wollte versuchen, unsere Steuern herunterzukriegen. Lenz und ich waren allein in der Werkstatt.
»Los, Gottfried«, sagte ich, »'ran an den dicken Cadillac.«
Am Abend vorher war unser Inserat erschienen. Wir konnten also heute mit Kunden rechnen — wenn überhaupt jemand kam. Es galt, den Wagen vorzubereiten.
Zunächst gingen wir mit Polierwasser über den Lack. Er bekam dadurch Hochglanz und sah aus, als hätte er hundert Mark mehr gekostet. Dann füllten wir das dickste Öl, das es gab, in den Motor. Die Kolben waren nicht mehr ganz erstklassig und lärmten etwas. Durch das dicke Öl wurde das ausgeglichen, und die Maschine lief wunderbar ruhig. Auch in das Getriebe und das Differential gaben wir dickes Fett, um sie völlig ruhig zu machen.
Dann fuhren wir hinaus. In der Nähe war ein Stück sehr schlechter Straße. Wir gingen mit fünfzig Kilometertempo darüber. Die Karosserie klapperte. Wir ließen eine Viertel Atmosphäre Luft aus den Reifen und versuchten es noch einmal. Es war schon besser. Wir ließen noch ein Viertel heraus. Jetzt rührte sich nichts mehr.
Wir fuhren zurück, ölten die quietschende Motorhaube, klemmten etwas Gummi dazwischen, füllten heißes Wasser in den Kühler, damit der Motor gleich gut ansprang, und spritzten den Wagen unten noch einmal mit einem Petroleumzerstäuber ab, damit er auch da glänzte. Dann hob Gottfried Lenz die Hände zum Himmel. »Nun komm, gesegneter Kunde! Komm, lieblicher Brieftaschenbesitzer!
Wir harren deiner wie der Bräutigam der Braut!«

Die Braut ließ auf sich warten. Wir schoben deshalb das Dampfroß des Bäckermeisters über die Grube und begannen, ihm die Vorderachse auszubauen. Ein paar Stunden arbeiteten wir ruhig, ohne viel zu reden. Dann hörte ich Jupp von der Benzinpumpe her das Lied: »Horch, was kommt von draußen 'rein...« pfeifen.
Ich kletterte aus der Grube und schaute durchs Fenster. Ein kleiner, untersetzter Mann strich um den Cadillac herum. Er sah bürgerlich und solide aus. »Schau mal, Gottfried«, flüsterte ich, »sollte das da eine Braut sein?«
»Klar«, sagte Lenz nach dem ersten Blick. »Sieh dir das Gesicht an. Der ist schon mißtrauisch, bevor jemand da ist. Los, 'ran! Ich bleibe hier als Reserve. Komme nach, wenn du es nicht schaffst. Denk an meine Tricks!«
»Gut.« Ich ging 'raus.
Der Mann sah mir aus klugen schwarzen Augen entgegen.
Ich stellte mich vor. »Lohkamp.«
»Blumenthal.«
Das war Gottfrieds erster Trick: sich vorzustellen. Er behauptete, es gäbe gleich eine intimere Atmosphäre. Sein zweiter Trick war, sehr reserviert zu beginnen und den Kunden auszuhorchen, um dann da einzuhaken, wo es richtig war.
»Sie kommen wegen des Cadillacs, Herr Blumenthal?« fragte ich. Blumenthal nickte.
»Da drüben ist er«, sagte ich und zeigte hinüber.
»Das sehe ich«, erwiderte Blumenthal.
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Achtung! dachte ich, ein Heimtücker!
Wir gingen über den Hof. Ich öffnete eine Tür des Wagens und ließ den Motor an. Dann schwieg ich, um Blumenthal Zeit zur Besichtigung zu lassen. Er würde sicher etwas zu kritisieren haben; da wollte ich dann ansetzen.
Aber Blumenthal besichtigte nicht. Er kritisierte auch nicht. Er schwieg ebenfalls und stand wie ein Ölgötze da. Es blieb mir nichts übrig, ich mußte aufs Geratewohl vom Leder ziehen.
Ich begann langsam und systematisch, den Cadillac zu beschreiben, wie eine Mutter ihr Kind, und versuchte dabei herauszukriegen, ob der Mann irgend etwas verstand. War er Fachmann, dann mußte ich mehr auf Motor und Chassis gehen — verstand er nichts, auf Komfort und Kinkerlitzchen.
Doch er verriet auch jetzt nichts. Er ließ mich reden, bis ich mir vorkam wie ein Luftballon.
»Wozu wollen Sie den Wagen haben? Für die Stadt oder für die Reise?« fragte ich schließlich, um vielleicht da einen Punkt zu finden.
»Für alles mögliche«, erklärte Blumenthal.
»Aha! Und wollen Sie ihn selbst fahren oder mit Chauffeur?«
»Je nachdem.«
Je nachdem. Antworten gab der Mann wie ein Papagei. Er schien einem Orden schweigender Brüder anzugehören.
Um ihn aufzumuntern, versuchte ich, ihn irgend etwas probieren zu lassen. Gewöhnlich wurden Kunden zugänglicher dadurch. Ich fürchtete, daß er mir sonst einschlief.
»Das Verdeck geht für ein so großes Kabriolett besonders leicht«, sagte ich. »Versuchen Sie selbst einmal, es zu schließen. Sie können es mit einer Hand.«
Aber Blumenthal meinte, es wäre nicht nötig. Er sähe es schon. Ich warf die Türen krachend ins Schloß und rüttelte an den Griffen.
»Nichts ausgeleiert. Fest wie das Steuer. Probieren Sie.«
Blumenthal probierte nicht. Er fand es selbstverständlich. Eine verflucht harte Nuß.
Ich führte ihm die Fenster vor. »Spielend leicht zu kurbeln. Stehen auf jeder Höhe fest.«
Er rührte sich nicht.
»Dazu unzerbrechliches Glas«, fuhr ich, schon leicht verzweifelt, fort.
»Ein unschätzbarer Vorteil! In der Werkstatt drüben steht ein Ford...« Ich erzählte die Sache von der Frau des Bäckermeisters und schmückte sie noch etwas aus, indem ich ein Kind mit verunglücken ließ.
Aber Blumenthal hatte ein Innenleben wie ein Kassenschrank.
»Unzerbrechliches Glas haben alle Wagen«, unterbrach er mich, »das ist doch nichts Besonderes.«
»Unzerbrechliches Glas gehört bei keinem Wagen zur Serienausrüstung«, erwiderte ich mit sanfter Schärfe. »Höchstens bei einigen Typen die Vorderscheibe. Auf keinen Fall aber die großen Seitenfenster.«
Ich ließ die Hupen ertönen und ging zur Beschreibung des inneren Komforts über — der Koffer, der Sitze, der Taschen, des Schaltbretts —, ich ging bis in jede Kleinigkeit, ich reichte Blumenthal sogar den Zigarettenanzünder hin und benutzte die Gelegenheit, ihm eine Zigarette anzubieten, um ihn vielleicht damit etwas umzustimmen — aber er lehnte ab.
»Ich rauche nicht, danke«, sagte er und sah mich so gelangweilt an, daß mir plötzlich ein fürchterlicher Verdacht kam: vielleicht wollte er gar nicht zu uns, vielleicht hatte er sich nur geirrt und wollte etwas ganz anderes kaufen, eine Maschine, um Knopflöcher zu nähen, oder einen Radioapparat, und er stand hier nur ein bißchen unschlüssig herum, ehe er weiterging.
»Machen wir eine Probefahrt, Herr Blumenthal«, schlug ich schließlich, schon stark abgekämpft, vor.
»Probefahrt?« erwiderte er, als hätte ich Bahnhof gesagt.
»Ja, Probefahrt. Sie müssen doch sehen, was der Wagen leistet. Er liegt wie ein Brett auf der Straße. Wie auf Schienen. Und die Maschine zieht an, als wäre das schwere Kabriolett eine Flaumfeder...«
»Ach, Probefahrten...«, er machte eine wegwerfende Handbewegung, »Probefahrten zeigen nichts. Was am Wagen fehlt, merkt man immer erst hinterher.«
Natürlich, du gußeiserner Satan, dachte ich ärgerlich, oder meinst du, ich stoße dich mit der Nase drauf? »Na schön, dann nicht«, sagte ich und ließ alle Hoffnung fahren. Der Mann wollte nicht, das war klar.
Aber da wandte er sich plötzlich um, sah mir voll in die Augen und sagte leise und scharf und sehr rasch: »Was kostet der Wagen?«
»Siebentausend Mark«, erwiderte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, wie aus der Pistole geschossen. Dieser Mann durfte nicht merken, daß ich auch nur einen Moment überlegte, das wußte ich. Jede Sekunde Zögern hätte tausend Mark gekostet, die er abgehandelt hätte. »Siebentausend Mark netto«, wiederholte ich fest und dachte: Wenn du jetzt fünf bietest, hast du ihn weg.
Aber Blumenthal bot gar nichts. Er stieß nur ein kurzes Schnaufen aus. »Viel zu teuer!«
»Natürlich!« sagte ich und gab den Fall endgültig auf.
»Wieso natürlich?« fragte Blumenthal auf einmal ziemlich menschlich.
»Herr Blumenthal«, erwiderte ich, »haben Sie heutzutage schon mal jemanden getroffen, der auf einen Preis was anderes antwortet?«
Er sah mich aufmerksam an. Dann zog so etwas wie der Schimmer eines Lächelns über sein Gesicht. »Stimmt. Aber der Wagen ist wirklich zu teuer.«
Ich traute meinen Ohren nicht. Da war er ja endlich, der richtige Ton! Der Ton des Interessenten! Oder war das wieder ein neuer verfluchter Dreh?
In diesem Augenblick kam ein eleganter Stutzer durch das Hoftor. Er zog eine Zeitung aus der Tasche, verglich die Hausnummer noch einmal und schritt auf mich zu. »Ist hier der Cadillac zu verkaufen?«
Ich nickte und sah sprachlos auf den gelben Bambusspazierstock und die Wildlederhandschuhe des Stutzers.
»Könnte ich ihn mal sehen«, fragte der weiter, ohne eine Miene zu verziehen.
»Das ist er hier«, sagte ich, »aber vielleicht gedulden Sie sich einen Moment, ich habe noch zu tun. Wollen Sie solange drinnen Platz nehmen?«
Der Stutzer horchte einen Augenblick auf das Summen des Motors, machte erst ein kritisches, dann ein anerkennendes Gesicht und ließ sich von mir in die Werkstatt führen.
»Idiot«, knurrte ich ihn an und ging dann rasch zu Blumenthal zurück.
»Wenn Sie den Wagen einmal gefahren haben, werden Sie anders über den Preis denken«, sagte ich. »Sie können ihn gern so lange probieren, wie Sie wollen. Vielleicht kann ich Sie auch abends zu einer Probefahrt abholen, wenn Ihnen das besser paßt.«
Aber die flüchtige Regung war bereits verflogen. Blumenthal stand schon wieder da wie ein Gesangvereinspräsident aus Granit. »Lassen Sie nur«, sagte er, »ich muß jetzt gehen. Wenn ich eine Probefahrt machen will, kann ich Ihnen ja noch telefonieren.«
Ich sah, daß vorläufig nichts weiter zu machen war. Dieser Mann war nicht zu bereden. »Gut«, erklärte ich, »aber wollen Sie mir nicht Ihre Telefonnummer geben, damit ich Ihnen Bescheid sagen kann, wenn noch ein Interessent da ist?«
Blumenthal sah mich merkwürdig an. »Interessenten sind noch keine Käufer.«
Er zog eine Zigarrentasche heraus und hielt sie mir hin. Auf einmal rauchte er. Sogar Corona-Coronas — er mußte Geld wie Heu haben. Aber es war mir schon egal. Ich nahm die Zigarre.
Er gab mir freundlich die Hand und ging. Ich sah ihm nach und verfluchte ihn leise, aber gründlich. Dann ging ich zurück in die Werkstatt.
»Na«, begrüßte mich der Stutzer Gottfried Lenz, »wie hab' ich das gemacht? Sah, wie du da herumwürgtest, und wollte mal etwas nachhelfen. Ein Glück, daß Otto sich hier fürs Finanzamt umgezogen hat! Sah seinen guten Anzug da hängen — sauste im Galopp 'rein, durchs Fenster 'raus und wieder hierher als seriöser Käufer! Gut gemacht, was?«
»Idiotisch gemacht«, erwiderte ich, »der Mann ist schlauer als wir beide zusammen! Sieh dir die Zigarre an! Eine Mark fünfzig das Stück. Du hast mir einen Milliardär verjagt.«
Gottfried nahm mir die Zigarre aus der Hand, beroch sie und zündete sie sich an. »Ich habe dir einen Schwindler verjagt. Milliardäre rauchen nicht solche Zigarren. Die rauchen welche zu einem Groschen das Stück.«
»Unsinn«, antwortete ich, »Schwindler nennen sich nicht Blumenthal. Die nennen sich Graf Blumenau oder so.«
»Der Mann kommt wieder«, meinte Lenz, hoffnungsvoll wie immer, und blies mir den Rauch meiner Zigarre ins Gesicht.
»Der nicht«, sagte ich überzeugt. »Aber wie kommst du nur zu dem Bambusknüppel und den Handschuhen?«
»Geliehen. Drüben im Geschäft von Benn und Co. Ich kenne da die Verkäuferin. Vielleicht behalte ich den Stock sogar. Er gefällt mir.« Selbstgefällig wirbelte er den dicken Prügel durch die Luft.
»Gottfried«, sagte ich, »du bist hier zu schade. Weißt du was? Geh zum Variete. Da gehörst du hin.«

»Sie sind angerufen worden«, sagte Frida, das schielende Dienstmädchen Frau Zalewskis, als ich mittags auf einen Sprung nach Hause kam.
Ich drehte mich um. »Wann?«
»Vor 'ner halben Stunde. War 'ne Dame.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Sie will abends noch mal anrufen. Aber ich habe ihr gleich gesagt, es hätte nicht viel Zweck. Sie wären abends nie zu Hause.«
Ich starrte sie an. »Was? Das haben Sie gesagt? Herrgott, wenn Ihnen doch mal jemand telefonieren beibringen würde.«
»Ich kann telefonieren«, erklärte Frida pomadig. »Und zu Hause sind Sie abends auch so gut wie nie.«
»Das geht Sie doch gar nichts an«, fluchte ich. »Nächstens erzählen Sie noch, ob ich Löcher in den Strümpfen habe.«
»Kann ich ja machen«, gab Frida zurück und sah mich hämisch mit ihren roten entzündeten Augen an. Wir waren alte Feinde.
Ich hätte sie am liebsten in ihren Suppentopf gesteckt, beherrschte mich aber, griff in die Tasche, drückte ihr eine Mark in die Hand und fragte versöhnlich: »Hat die Dame nicht ihren Namen genannt?«
»Nee«, sagte Frida.
»Was hatte sie denn für eine Stimme? Ein bißchen dunkel und tief und so, als wäre sie etwas heiser?«
»Weiß ich nicht«, erklärte Frida phlegmatisch, als hätte ich ihr nie eine Mark in die Hand gedrückt.
»Einen hübschen Ring haben Sie da an der Hand, wirklich reizend«, sagte ich, »und nun besinnen Sie sich mal genau, ob Sie sich nicht doch erinnern.«
»Nee«, erwiderte Frida, und die Schadenfreude leuchtete ihr nur so aus dem Gesicht.
»Dann häng dich auf, du Satansbesen«, fauchte ich und ließ sie stehen.

Abends um sechs Uhr war ich pünktlich zu Hause. Als ich die Tür aufmachte, bot sich mir ein ungewohntes Bild. Auf dem Korridor stand Frau Bender, die Säuglingsschwester, umgeben von sämtlichen Damen der Pension. »Kommen Sie mal her«, sagte Frau Zalewski.
Die Ursache der Versammlung war ein schleifengeschmückter Säugling, der vielleicht ein halbes Jahr alt war. Frau Bender hatte ihn aus ihrem Heim in einem Kinderwagen mitgebracht. Es war ein völlig normales Kind; aber die Damen beugten sich mit einem Ausdruck so irrsinnigen Entzückens darüber, als wäre es der erste Säugling, den die Welt hervorgebracht hätte. Dazu stießen sie glucksende Rufe aus, zwirbelten mit den Fingern vor den Augen der kleinen Kreatur und spitzten die Lippen. Sogar Erna Bönig in ihrem Drachenkimono beteiligte sich an dieser Orgie platonischer Mütterlichkeit.
»Ist es nicht ein reizendes Wesen?« fragte Frau Zalewski mit schwimmenden Blick.
»Das kann man erst so in zwanzig, dreißig Jahren richtig beurteilen«, erwiderte ich und schielte nach dem Telefon. Hoffentlich kam der Anruf nicht gerade, während hier alles versammelt war.
»Sehen Sie sich's doch mal richtig an«, forderte Frau Hasse mich auf.
Ich sah hin. Es war ein Säugling wie alle. Ich konnte nichts Besonderes daran entdecken. Höchstens die furchtbar kleinen Hände und daß es merkwürdig war, selbst auch mal so winzig gewesen zu sein. »Der arme Wurm«, sagte ich, »der hat noch keine Ahnung, was ihm bevorsteht. Möchte wissen, für was für einen Krieg der gerade zurechtkommt.«
»Rohling«, erwiderte Frau Zalewski. »Haben Sie denn kein Gefühl?«
»Viel zuviel«, erklärte ich, »sonst käme ich ja nicht auf solche Gedanken.« Damit zog ich ab in mein Zimmer.
Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Ich hörte meinen Namen und ging hinaus. Richtig, die ganze Gesellschaft war noch da! Sie wich auch nicht, als ich den Hörer am Ohr hatte und die Stimme von Patrice Hollmann vernahm, die sich für die Blumen bedankte. Im Gegenteil, der Säugling, der scheinbar der Vernünftigste von allen war und genug von der Afferei hatte, fing plötzlich an zu brüllen. »Entschuldigen Sie«, sagte ich verzweifelt in das Telefon, »ich kann Sie nicht verstehen, hier tobt ein Säugling; aber es ist nicht meiner.« Die Damen zischten wie ein Nest von Riesenschlangen, um das schreiende Geschöpf zu beruhigen. Sie erreichten prompt, daß es noch stärker loslegte. Jetzt erst bemerkte ich, daß es tatsächlich ein besonderer Säugling war; seine Lungen mußten bis in die Beine reichen, anders war diese schmetternde Stimme nicht zu erklären. Ich war in einer schwierigen Lage; mit den Augen schoß ich wütende Blicke auf den Mutterkomplex vor mir, mit dem Munde versuchte ich freundliche Worte in die Hörmuschel zu sprechen — vom Scheitel bis zur Nase war ich Gewitter, von der Nase bis zum Kinn eine sonnige Frühlingslandschaft —, es war mir ein Rätsel, daß ich es fertigbrachte, mich trotzdem zum nächsten Abend zu verabreden.
»Sie sollten sich eine schalldichte Telefonzelle anschaffen«, sagte ich zu Frau Zalewski.
Aber die war nicht auf den Mund gefallen. »Wieso«, fragte sie funkelnd zurück, »haben Sie soviel zu verbergen?«
Ich schwieg und drückte mich. Mit aufgerührten Muttergefühlen soll man keinen Streit anfangen. Die haben die Moral der ganzen Welt hinter sich.
Abends waren wir bei Gottfried verabredet. Ich aß in einer kleinen Kneipe und ging dann hin. Unterwegs kaufte ich mir im elegantesten Herrenmodengeschäft zur Feier des Tages eine prachtvolle neue Krawatte. Ich war immer noch überrascht, wie glatt alles gegangen war, und ich gelobte mir, morgen seriös zu sein wie der Generaldirektor eines Beerdigungsinstitutes.
Gottfrieds Bude war eine Sehenswürdigkeit. Sie hing voll von Reiseandenken, die er aus Südamerika mitgebracht hatte. Bunte Bastmatten an den Wänden, ein paar Masken, ein eingetrockneter Menschenschädel, groteske Tontöpfe, Speere und als Hauptstück eine großartige Sammlung von Fotografien, die eine ganze Wand einnahmen — Indiomädchen und Kreolinnen, schöne, braune, geschmeidige Tiere von unbegreiflicher Anmut und Lässigkeit.
Außer Lenz und Köster waren Braumüller und Grau noch da. Theo Braumüller hockte mit sonnenverbranntem, kupfernem Schädel auf der Sofalehne und musterte begeistert Gottfrieds fotografische Sammlung. Er war Rennfahrer für eine Autofabrik und seit langem mit Köster befreundet. Am Sechsten fuhr er das Rennen mit, zu dem Otto Karl gemeldet hatte.
Ferdinand Grau saß massig, aufgeschwemmt und ziemlich betrunken am Tisch. Als er mich sah, zog er mich mit seiner breiten Pratze zu sich heran. »Robby«, sagte er mit schwerer Stimme, »was willst du hier unter den Verlorenen? Du hast hier nichts zu suchen. Geh wieder weg. Rette dich. Du kannst es noch!«
Ich blickte zu Lenz hinüber. Er zwinkerte mir zu. »Ferdinand ist hoch in Form. Er versäuft seit zwei Tagen eine liebe Tote. Hat ein Porträt verkauft und gleich Geld bekommen.«
Ferdinand Grau war Maler. Dabei wäre er aber längst verhungert, wenn er nicht eine Spezialität gehabt hätte. Er malte nach Fotografien fabelhaft lebensechte Porträts von Verstorbenen für pietätvolle Angehörige. Davon lebte er — sogar ganz gut. Seine Landschaften, die ausgezeichnet waren, kaufte kein Mensch. Das gab seiner Unterhaltung einen etwas pessimistischen Unterton.
»Ein Gastwirt war's diesmal, Robby«, sagte er, »ein Gastwirt mit einer verstorbenen Erbtante in Essig und Öl.« Er schüttelte sich. »Schauderhaft.«
»Hör mal, Ferdinand«, erwiderte Lenz, »du solltest nicht so harte Ausdrücke gebrauchen. Du lebst ja von einer der schönsten menschlichen Eigenschaften: von der Pietät.«
»Unsinn«, erklärte Grau, »ich lebe vom Schuldbewußtsein. Pietät ist nichts als Schuldbewußtsein. Man will sich rechtfertigen für das, was man dem lieben Verstorbenen bei Lebzeiten alles gewünscht und angetan hat.« Er fuhr sich mit der Hand langsam über den glühenden Schädel. »Was meinst du, wie oft mein Gastwirt seiner Tante den Tod an den Hals gewünscht hat — dafür läßt er sie jetzt in den feinsten Farben malen und hängt sie übers Sofa. So ist sie ihm lieber. Pietät! Der Mensch erinnert sich seiner spärlichen guten Eigenschaften immer erst, wenn es zu spät ist. Dann ist er gerührt darüber, wie edel er hätte sein können, und hält sich für tugendhaft. Tugend, Güte, Edelmut« — er winkte mit seiner mächtigen Pratze ab —, »die wünscht man sich bei andern, damit man sie hereinlegen kann.«
Lenz grinste. »Du rüttelst an den Grundpfeilern der menschlichen Gesellschaft, Ferdinand!«
»Die Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft sind Habgier, Angst und Korruption«, gab Grau zurück. »Der Mensch ist böse, aber er liebt das Gute — wenn andere es tun.« — Er hielt Lenz sein Glas hin. »So, und nun schenk mir ein und rede nicht den ganzen Abend — laß auch mal andere Leute zu Wort kommen.«
Ich kletterte über das Sofa zu Köster hinüber. Mir war plötzlich etwas eingefallen. »Otto, du mußt mir mal einen Gefallen tun. Ich brauche morgen abend den Cadillac.«
Braumüller unterbrach das intensive Studium einer wenig bekleideten kreolischen Tänzerin. »Kannst du denn schon Kurven fahren?« erkundigte er sich. »Ich dachte bis jetzt, du könntest nur geradeaus fahren, wenn ein anderer für dich steuert.«
»Sei du ruhig, Theo«, erwiderte ich, »aus dir werden wir beim Rennen am Sechsten schon Hackfleisch machen.«
Braumüller gluckste vor Lachen. »Also wie ist das, Otto?« fragte ich gespannt.
»Der Wagen ist nicht versichert, Robby«, sagte Köster.
»Ich werde wie eine Schnecke schleichen und wie ein Omnibus hupen. Nur ein paar Kilometer in der Stadt.«
Otto schloß die Augen bis auf einen kleinen Spalt und lächelte. »Gut, Robby; meinetwegen.«
»Brauchst du den Wagen vielleicht zu deiner neuen Krawatte?« fragte Lenz, der herangekommen war.
»Halt den Schnabel«, sagte ich und schob ihn beiseite.
Aber er ließ nicht locker. »Zeig mal her, Baby!« Er befühlte die Seide. »Herrlich. Unser Kind als Gigolo. Mir scheint, du willst auf Brautschau!«
»Du kannst mich heute nicht beleidigen, du Verwandlungskünstler«, erwiderte ich.
»Brautschau?« Ferdinand Grau hob den Kopf. »Warum soll er denn nicht auf Brautschau gehen?« Er wurde lebhafter und wandte sich mir zu. »Tu's ruhig, Robby! Du hast noch das Zeug dazu. Zur Liebe gehört eine gewisse Einfalt. Die hast du. Bewahre sie dir. Sie ist ein Gottesgeschenk. Nie wieder zu kriegen, wenn man sie mal verloren hat.«
»Nimm dir's nicht allzusehr zu Herzen«, grinste Lenz. »Dumm geboren zu werden ist keine Schande. Nur dumm zu sterben.«
»Schweig, Gottfried.« Grau wischte ihn mit einer Bewegung seiner mächtigen Tatze beiseite. »Auf dich kommt's nicht an, du Etappenromantiker. Um dich ist's nicht schade.«
»Sprich dich nur ruhig aus, Ferdinand«, sagte Lenz. »Aussprechen erleichtert immer.«
»Du bist ein Drückeberger«, erklärte Grau, »ein pathetischer Drückeberger.«
»Sind wir alle«, grinste Lenz. »Wir leben nur noch von Illusionen und Krediten.«
»Jawohl«, sagte Grau und sah uns der Reihe nach unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an. »Von Illusionen aus der Vergangenheit und Krediten auf die Zukunft.« Dann wandte er sich mir wieder zu. »Einfalt habe ich gesagt, Robby. Nur neidische Leute nennen es Dummheit. Kränke dich nicht deswegen. Es ist kein Fehler, sondern eine Begabung.«
Lenz wollte etwas einwerfen. Aber Ferdinand sprach schon weiter. »Du weißt, was ich meine. Ein einfaches Gemüt, noch nicht zerfressen von Skepsis und Überintelligenz. Parzival war dumm. Wäre er klug gewesen, hätte er nie den heiligen Gral erobert. Nur wer dumm ist, siegt im Leben; der andere sieht viel zu viele Hindernisse und wird unsicher, ehe er beginnt. In schwierigen Zeiten ist Einfalt das kostbarste Gut — ein Zaubermantel, der Gefahren verbirgt, in die der Superkluge wie hypnotisiert hineinrennt.«
Er trank einen Schluck und sah mich mit seinen riesigen blauen Augen an, die wie ein Stück Himmel in dem zerklüfteten Gesicht saßen. »Nie zuviel wissen wollen, Robby! Je weniger man weiß, desto einfacher ist es, zu leben. Wissen macht frei — aber unglücklich. Komm, trink mit mir auf die Einfalt, die Dummheit und was zu ihr gehört — auf die Liebe, den Glauben an die Zukunft, die Träume vom Glück —, auf die herrliche Dummheit, das verlorene Paradies...«
Er saß schwer und massig da, plötzlich in sich selbst und seine Trunkenheit versunken, wie ein einsamer Hügel von unangreifbarer Schwermut. Sein Leben war kaputt, und er wußte, daß er es nicht mehr zusammenbringen konnte. Er hauste in seinem großen Atelier und hatte ein Verhältnis mit seiner Haushälterin. Die Frau war fest und derb. Grau dagegen, trotz seines mächtigen Körpers, empfindsam und haltlos. Er kam nicht los von ihr, und es war ihm wohl auch schon egal. Er war zweiundvierzig Jahre alt.
Obschon ich wußte, daß es die Betrunkenheit war, fühlte ich doch einen leisen, merkwürdigen Schauer, als ich ihn so sah. Er kam nicht oft und trank fast immer allein in seinem Atelier. Das bringt einen rasch 'runter.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er drückte mir ein Glas in die Hand. »Trink, Robby. Und rette dich. Denk daran, was ich dir gesagt habe.«
»Gut, Ferdinand!«
Lenz zog das Grammophon auf. Er hatte einen Haufen Negerplatten und spielte ein paar — vom Mississippi, von Baumwollpflückern und von den schwülen Nächten an den blauen tropischen Flüssen.

7

VI

Patrice Hollmann wohnte in einem großen gelben Häuserblock, der durch ein schmales Rasenstück von der Straße getrennt war. Vor dem Eingang stand eine Laterne. Ich parkte den Cadillac direkt darunter. Er sah in dem bewegten Licht aus wie ein mächtiger Elefant aus fließendem schwarzem Glanz.
Ich hatte meine Garderobe noch weiter vervollständigt. Zu der Krawatte hatte ich noch einen neuen Hut und ein Paar Handschuhe gekauft — außerdem trug ich einen Ulster von Lenz, ein herrliches graues Stück aus feinster Shetlandwolle. So ausgerüstet, wollte ich meinen ersten säuferischen Eindruck nachdrücklich in die Flucht schlagen.
Ich hupte. Gleich darauf flammte wie eine Rakete in fünf Fenstern übereinander die Treppenbeleuchtung auf. Der Lift begann zu summen. Ich sah ihn herunterschweben wie einen hellen Förderkorb, der vom Himmel herabgelassen wurde. Patrice Hollmann öffnete die Tür und kam rasch die Treppe herunter. Sie trug eine kurze braune Pelzjacke und einen engen braunen Rock.
»Hallo!« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Ich freue mich so, herauszukommen. Ich war den ganzen Tag zu Hause.«
Ich hatte gern, wie sie die Hand gab — mit einem Druck, der kräftiger war, als man vermutete. Ich haßte Leute, die einem schlaff die Hand hinhielten wie einen toten Fisch.
»Warum haben Sie mir das nicht früher gesagt«, erwiderte ich. »Ich hätte Sie dann schon mittags abgeholt.«
»Haben Sie denn soviel Zeit?«
»Das nicht. Aber ich hätte mich schon frei gemacht.«
Sie holte tief Atem. »Wunderbare Luft! Es riecht nach Frühling.«
»Wenn Sie Lust haben, können wir in der Luft herumfahren, soviel Sie wollen«, sagte ich, »nach draußen, vor die Stadt, durch den Wald — ich habe einen Wagen mitgebracht.« Damit zeigte ich so nachlässig auf den Cadillac, als wäre er ein alter Ford.
»Der Cadillac?« Überrascht sah sie mich an. »Gehört der Ihnen?«
»Heute abend, ja. Sonst gehört er unserer Werkstatt. Wir haben ihn aufgearbeitet und wollen das Geschäft unseres Lebens damit machen.« Ich öffnete die Tür. »Wollen wir zuerst in die ›Traube‹ fahren und essen? Was meinen Sie dazu?«
»Essen schon, aber wozu gerade in der ›Traube‹?«
Ich sah verdutzt auf. Die »Traube« war das einzige elegante Restaurant, das ich kannte.
»Offen gestanden«, sagte ich, »etwas anderes weiß ich nicht. Ich denke auch, der Cadillac verpflichtet uns etwas.«
Sie lachte. »In der ›Traube‹ ist es bestimmt steif und langweilig. Gehen wir doch woanders hin!«
Ich stand ratlos da. Meine seriösen Träume lösten sich in Dunst auf.
»Dann müssen Sie schon etwas vorschlagen«, sagte ich. »Die Lokale, die ich nämlich sonst noch kenne, sind etwas handfest. Ich glaube, das ist nichts für Sie.«
»Warum glauben Sie das?«
»Das sieht man doch so ungefähr...«
Sie blickte mich rasch an. »Wir können es ja mal versuchen.«
»Gut.« Ich warf entschlossen mein ganzes Programm um.
»Dann weiß ich was, wenn Sie nicht schreckhaft sind. Wir gehen zu Alfons.«
»Alfons klingt schon sehr gut«, erwiderte sie, »und schreckhaft bin ich heute abend auch nicht.«
»Alfons ist ein Bierwirt«, sagte ich, »ein guter Freund von Lenz.«
Sie lachte. »Lenz hat wohl überall Freunde?«
Ich nickte. »Er findet sie auch leicht. Das haben Sie ja bei Binding gesehen.«
»Ja, weiß Gott«, erwiderte sie. »Das ging ja wie der Blitz.«
Wir fuhren los.

Alfons war ein schwerer, ruhiger Mann. Vorstehende Backenknochen. Kleine Augen. Aufgekrempelte Hemdsärmel. Arme wie ein Gorilla. Er warf jeden, der ihm in seiner Kneipe nicht paßte, selbst 'raus. Auch die Mitglieder des Sportvereins Heimattreue. Für sehr schwierige Gäste hatte er einen Hammer unter der Theke bereit. Das Lokal lag praktisch; dicht beim Krankenhaus. Alfons sparte so die Transportkosten.
Er wischte mit der behaarten Tatze über die helle Tischplatte aus Tannenholz. »Bier?« fragte er.
»Korn und was zu essen«, sagte ich.
»Und die Dame?« fragte Alfons.
»Die Dame will auch einen Korn«, sagte Patrice Hollmann.
»Heftig, heftig«, meinte Alfons. »Es gibt Schweinerippchen mit Sauerkraut.«
»Selbstgeschlachtet?« fragte ich.
»Klar.«
»Aber die Dame möchte sicher etwas Leichteres essen.«
»Kann nicht ihr Ernst sein«, meinte Alfons. »Schauen Sie

sich erst mal die Rippchen an.«
Er ließ den Kellner eine Portion zeigen. »War eine wunderbare Sau«, sagte er. »Prämiiert. Zwei erste Preise.«
»Da kann natürlich niemand widerstehen«, erwiderte Patrice Hollmann zu meinem Erstaunen mit einer Sicherheit, als verkehre sie schon Jahre in der Kaschemme hier.
Alfons zwinkerte. »Also zwei Portionen?«
Sie nickte.
»Schön! Werde mal selbst aussuchen.«
Er ging in die Küche. »Ich nehme meine Zweifel wegen des Lokals zurück«, sagte ich. »Sie haben Alfons im Sturm erobert. Selbst aussuchen, das macht er sonst nur bei Stammgästen.«
Alfons kam zurück. »Habe euch noch eine frische Wurst 'reingegeben.«
»Keine schlechte Idee«, sagte ich.
Alfons sah uns wohlwollend an. Der Korn kam. Drei Gläser. Eins für Alfons mit. »Na, denn Prost«, sagte er. »Auf daß unsere Kinder reiche Eltern kriegen.«
Wir kippten die Gläser. Das Mädchen nippte nicht, es kippte auch.
»Heftig, heftig«, sagte Alfons und schlurfte zur Theke zurück.
»Schmeckt Ihnen der Korn?« fragte ich.
Sie schüttelte sich. »Etwas kräftig. Aber ich kann mich doch vor Alfons nicht blamieren.«
Die Schweinerippchen hatten es in sich. Ich aß zwei große Portionen, und auch Patrice Hollmann aß bedeutend mehr, als ich ihr zugetraut hatte. Ich fand es großartig, daß sie so gut mitmachte und sich so ohne weiteres in das Lokal fand. Sie trank auch ohne Ziererei noch einen zweiten Korn mit Alfons.
Der zwinkerte mir heimlich zu, er fände die Sache richtig. Und Alfons war ein Kenner. Nicht gerade in bezug auf Schönheit und Kultur — wohl aber in bezug auf Kern und Gehalt.
»Wenn Sie Glück haben, lernen Sie Alfons in seiner menschlichen Schwäche kennen«, sagte ich.
»Das möchte ich mal«, erwiderte sie. »Er sieht aus, als hätte er keine.«
»Doch!« Ich zeigte auf einen Tisch neben der Theke. »Da...«
»Was? Das Grammophon?«
»Nicht das Grammophon. Chorgesang! Alfons hat eine Schwäche für Chorgesang. Keine Tänze, keine klassische Musik — nur Chöre: Männerchöre, gemischte Chöre —, alles, was da an Platten liegt, sind Chöre. Da sehen Sie, er kommt.«
»Geschmeckt?« fragte Alfons.
»Wie bei Muttern«, erwiderte ich.
»Die Dame auch?«
»Die besten Schweinerippchen meines Lebens«, erklärte die Dame kühn.
Alfons nickte befriedigt. »Spiele euch jetzt mal meine neue Platte vor. Werdet staunen.«
Er ging zum Grammophon. Die Nadel kratzte, und machtvoll erhob sich ein Männerchor, der mit gewaltigen Stimmen das »Schweigen im Walde« sang. Es war ein verflucht lautes Schweigen.
Vom ersten Takt an wurde alles im Lokal still. Alfons konnte gefährlich werden, wenn jemand keine Andacht zeigte. Er stand an der Theke, die haarigen Arme aufgestützt. Sein Gesicht veränderte sich unter der Macht der Musik. Es wurde träumerisch — so träumerisch, wie eben ein Gorilla werden kann. Chorgesang hatte eine unbeschreibliche Gewalt über ihn. Er wurde dabei sanft wie ein Rehkitz. Er konnte mitten in einer Schlägerei sein — wenn ein Männerchor ertönte, ließ er, wie von einem Zauberschlag getroffen, los, horchte und war bereit zur Versöhnung. Früher, als er noch jähzorniger war, hatte seine Frau immer Platten spielfertig liegen, die er besonders liebte. Wenn es dann gefährlich wurde und er schon mit dem Hammer hinter der Theke hervorkam, setzte sie rasch die Nadel an — und Alfons ließ den Hammer sinken, lauschte und wurde ruhig. Inzwischen war das nicht mehr so nötig — die Frau war tot, ihr Bild, ein Geschenk Ferdinand Graus, der dafür hier Freitisch hatte, hing über der Theke —, und auch Alfons war älter und kälter geworden.
Die Platte lief aus. Alfons kam heran.
»Wunderbar«, sagte ich.
»Besonders der erste Tenor«, ergänzte Patrice Hollmann.
»Richtig«, meinte Alfons und wurde zum erstenmal lebhafter, »Sie verstehen was davon! Der erste Tenor ist ganz große Klasse.«
Wir verabschiedeten uns von ihm. »Grüßt Gottfried«, sagte er. »Soll sich mal wieder sehen lassen.«

Wir standen auf der Straße. Die Laternen vor dem Hause warfen unruhige Lichter und Schatten nach oben in das Ästegewirr eines alten Baumes. Die Zweige hatten schon einen leichten grünen Schimmer, und durch das flackernde, undeutliche Licht von unten erschien der Baum viel mächtiger und höher; er sah aus, als verlöre sich die Krone in der Dämmerung darüber — wie eine riesige, gespreizte Hand, die in einer ungeheuren Sehnsucht nach dem Himmel griff.
Patrice Hollmann schauerte ein wenig.
»Ist Ihnen kalt?« fragte ich.
Sie zog die Schultern hoch und steckte die Hände in die Ärmel ihrer Pelzjacke. »Nur einen Augenblick. Es war drinnen ziemlich warm.« — »Sie sind zu leicht angezogen«, sagte ich. »Es ist abends noch kalt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich trage nicht gern schwere Sachen. Und ich möchte, daß es endlich einmal warm wird. Ich mag keine Kälte. Wenigstens nicht in der Stadt.«
»Im Cadillac ist es warm«, sagte ich. »Zur Vorsicht habe ich auch eine Decke mitgebracht.«
Ich half ihr in den Wagen und legte ihr die Decke über die Knie. Sie zog sie höher hinauf. »Herrlich! So ist es wunderbar. Kälte macht traurig.«
»Nicht nur Kälte.« Ich setzte mich ans Steuer. »Wollen wir jetzt etwas spazierenfahren?«
Sie nickte. »Gern.«
»Wohin?«
»Einfach so langsam durch die Straßen. Ganz gleich, wohin.«
»Gut.«
Ich ließ den Motor an, und wir fuhren langsam und planlos durch die Stadt. Es war die Zeit, wo der Abendverkehr am stärksten ist. Wir glitten fast unhörbar hindurch, so leise summte die Maschine. Es war, als sei der Wagen ein Schiff, das lautlos über die bunten Kanäle des Lebens trieb. Die Straßen wehten vorüber, die hellen Portale, die Lichter, die Laternenreihen, der süße, weiche, abendliche Aufruhr des Daseins, das sanfte Fieber der erleuchteten Nacht, und über allem, zwischen den Dächerrändern, der eisengraue, große Himmel, gegen den die Stadt ihr Licht warf.
Das Mädchen saß schweigend neben mir; Helligkeit und Schatten glitten durch das Fenster über ihr Gesicht. Ich sah manchmal zu ihr hinüber; sie erinnerte mich jetzt wieder an den Abend, wo ich sie zum erstenmal gesehen hatte. Ihr Gesicht war ernster geworden, es erschien fremder als vorher, aber sehr schön — es war das Gesicht, das mich damals angerührt und nicht losgelassen hatte. Mir schien, als wäre etwas von dem Geheimnis der Stille darin, das die Dinge haben, die der Natur nahe sind — Bäume, Wolken, Tiere — und manchmal eine Frau.

Wir kamen in die ruhigen Straßen der Vororte. Der Wind wurde stärker. Er schien die Nacht vor sich her zu treiben. An einem großen Platz, um den rundherum kleine Häuser in kleinen Gärten schliefen, hielt ich den Wagen an.
Patrice Hollmann machte eine Bewegung, als erwache sie.
»Schön ist das«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn ich einen Wagen hätte, würde ich jeden Abend so langsam herumfahren. Es hat etwas Unwirkliches, so lautlos überall vorüberzugleiten.
Man ist wach und träumt zur selben Zeit. Ich kann mir denken, daß man keine Menschen mehr brauchte, abends...«
Ich zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. »Abends braucht man welche, was?«
Sie nickte. »Abends schon. Das ist eine sonderbare Sache, wenn es dunkel wird.«
Ich riß das Päckchen auf. »Es sind amerikanische Zigaretten. Mögen Sie die?«
»Ja. Lieber als andere sogar.«
Ich gab ihr Feuer. Einen Augenblick beleuchtete das warme, nahe Licht des Streichholzes ihr Gesicht und meine Hände, und ich hatte plötzlich den verrückten Gedanken, als gehörten wir seit langem zusammen.
Ich drehte das Fenster herunter, damit der Rauch abziehen konnte.
»Wollen Sie jetzt etwas fahren?« fragte ich. »Es macht Ihnen doch sicher Spaß.«
Sie wendete sich mir zu. »Ich möchte schon; aber ich kann es nicht.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Ich habe es nie gelernt.«
Ich sah meine Chance. »Das hätte Binding Ihnen doch längst zeigen können«, sagte ich.
Sie lachte. »Binding ist viel zu verliebt in seinen Wagen. Der läßt niemand heran.«
»Das ist ja albern«, erklärte ich, vergnügt, dem Dicken eins auswischen zu können. »Ich lasse Sie ohne weiteres fahren. Kommen Sie.«
Ich schlug alle Mahnungen Kösters in den Wind und stieg aus, um sie ans Steuer zu lassen. Sie wurde aufgeregt. »Aber ich kann wirklich nicht fahren.« »Doch«, erwiderte ich. »Sie können es. Sie wissen es nur noch nicht.« Ich zeigte ihr, wie man schaltet und kuppelt. »So«, sagte ich dann, »und nun mal los!« »Einen Moment!« Sie zeigte auf einen Omnibus, der einsam die Straße entlangschlich. »Wollen wir den nicht erst vorbeilassen?« »Auf keinen Fall!« Ich schaltete rasch und ließ die Kupplung ein. Sie hielt das Steuerrad krampfhaft fest und sah angespannt über die Straße. »Mein Gott, wir fahren ja viel zu schnell!« Ich blickte auf den Tachometer. »Sie fahren jetzt genau fünfundzwanzig Kilometer. Das sind in Wirklichkeit zwanzig. Gutes Tempo für einen Langstreckenläufer.« »Mir kommt's vor wie achtzig.« Nach ein paar Minuten war die erste Angst überwunden.
Wir fuhren eine breite, gerade Straße hinunter. Der Cadillac torkelte ein bißchen hin und her, als ob er statt Benzin Kognak im Tank hätte, und manchmal streifte er verdächtig nahe die Bordschwelle — aber allmählich ging es ganz gut, und es wurde so, wie ich es mir gedacht hatte: Ich bekam Übergewicht, weil wir plötzlich Lehrer und Schüler geworden waren, und das nutzte ich aus.
»Achtung«, sagte ich, »drüben steht ein Polizist!«
»Soll ich anhalten?«
»Dazu ist es jetzt zu spät.«
»Und was passiert, wenn er mich erwischt? Ich habe doch keinen Führerschein.« »Dann kommen wir beide ins Gefängnis.«
»Um Gottes willen!« Sie suchte erschreckt mit dem Fuß die Bremse.
»Gas!« rief ich. »Gas! Feste drauftreten! Wir müssen stolz und schnell vorbei. Das beste Mittel gegen das Gesetz ist Frechheit.«
Der Polizist beachtete uns gar nicht. Das Mädchen atmete auf. »Ich wußte bis jetzt noch gar nicht, daß Verkehrspolizisten aussehen können wie feuerspeiende Drachen«, sagte sie, als wir ihn ein paar hundert Meter hinter uns hatten.
»Das tun sie erst, wenn man sie anfährt.« Ich zog langsam die Bremse. »So, hier haben wir eine prachtvolle, leere Seitenstraße. Hier wollen wir nun mal richtig üben. Zunächst das Anfahren und das Halten.«
Patrice Hollmann würgte ein paarmal den Motor ab. Sie knöpfte ihre Pelzjacke auf. »Mir wird warm dabei! Aber ich muß es lernen!«
Sie saß eifrig und aufmerksam am Steuer und beobachtete, was ich ihr vormachte. Dann fuhr sie mit aufgeregten kleinen Ausrufen ihre ersten Kurven und hatte vor entgegenkommenden Scheinwerfern Angst wie vor dem Teufel, und ebensoviel Stolz, wenn sie glücklich passiert waren. Bald entstand in dem kleinen, vom Licht des Schaltbretts halb erhellten Raum ein Gefühl von Kameradschaft, wie es sich rasch bei technischen und sachlichen Dingen einstellt — und als wir nach einer halben Stunde die Plätze wechselten und ich zurückfuhr, waren wir vertrauter miteinander geworden, als wenn wir uns gegenseitig unsere ganze Lebensgeschichte erzählt hätten.

In der Nähe der Nikolaistraße hielt ich den Wagen wieder an. Wir standen gerade unter einer roten Kinoreklame. Der Asphalt schimmerte matt darunter wie verblichener Purpur. An der Bordschwelle glänzte ein großer schwarzer Ölfleck.
»So«, sagte ich, »jetzt haben wir uns redlich ein Glas zu trinken verdient. Wo wollen wir das tun?« Patrice Hollmann überlegte einen Augenblick. »Gehen wir doch wieder in die hübsche Bar mit Segelschiffen«, schlug sie dann vor.
Ich war im Augenblick in höchstem Alarm. In der Bar saß jetzt todsicher der letzte Romantiker. Ich sah schon sein Gesicht. »Ach«, sagte ich rasch, »das ist doch nichts Besonderes. Es gibt viel nettere Lokale...«
»Ich weiß nicht — ich fand es sehr hübsch neulich.«
»Tatsächlich?« fragte ich verblüfft. »Sie fanden es neulich hübsch?«
»Ja«, erwiderte sie lachend. »Sehr sogar...«
So was! dachte ich, und deshalb habe ich mir Vorwürfe gemacht! »Ich glaube aber, es ist um diese Zeit sehr voll da«, versuchte ich noch einmal.
»Wir können es uns ja mal ansehen.«
»Ja, das können wir.« Ich überlegte, was ich machen sollte.
Als wir ankamen, stieg ich rasch aus. »Ich schaue schnell mal nach. Bin gleich wieder da.«
Es war kein Bekannter da, außer Valentin. »Sag mal«, fragte ich, »war Gottfried schon hier?«
Valentin nickte. »Mit Otto. Sind vor 'ner halben Stunde weggegangen.«
»Schade«, sagte ich aufatmend. »Hätte sie gern getroffen.« Ich ging zum Wagen zurück. »Wir können es riskieren«, erklärte ich. »Zufällig ist es nicht so schlimm heute.« Zur Vorsicht jedoch parkte ich den Cadillac um die nächste Ecke im tiefsten Schatten.
Aber wir saßen noch keine zehn Minuten, als der strohblonde Kopf von Lenz an der Theke erschien. Verflucht, dachte ich, jetzt ist's passiert! Ein paar Wochen später war's mir lieber gewesen.
Gottfried schien nicht bleiben zu wollen. Schon glaubte ich gerettet zu sein, da sah ich, daß Valentin ihn auf mich aufmerksam machte. Das hatte ich für meine Lüge von vorhin. Gottfrieds Gesicht, als er uns erblickte, wäre eine hervorragende Studie für einen lernbegierigen Filmschauspieler gewesen. Die Augen traten ihm heraus wie Spiegeleier, und ich hatte Sorge, daß ihm der Unterkiefer wegfiel. Es war schade, daß kein Regisseur in diesem Augenblick in der Bar saß; ich wäre sicher gewesen, daß er Lenz vom Fleck weg engagiert hätte. Für Rollen zum Beispiel, wo vor einem schiffbrüchigen Matrosen plötzlich die Seeschlange mit Gebrüll auftaucht.
Gottfried hatte sich rasch wieder in der Gewalt. Ich warf ihm einen beschwörenden Blick zu, zu verschwinden. Er beantwortete ihn mit einem niederträchtigen Grinsen, zog sich den Rock glatt und kam heran.
Ich wußte, was mir bevorstand, und griff sofort an. »Hast du Fräulein Bomblatt schon nach Hause gebracht?« fragte ich, um ihn gleich zu neutralisieren.
»Ja«, erwiderte er, ohne mit einem Wimperzucken zu verraten, daß er bis vor einer Sekunde von Fräulein Bomblatt nichts gewußt hatte.
»Sie läßt dich grüßen, und du möchtest sie morgen früh gleich anrufen.«
Das war ganz gut wiedergehauen. Ich nickte. »Werde ich machen. Hoffe doch, daß sie den Wagen kaufen wird.«
Lenz öffnete aufs neue den Mund. Ich trat ihn gegen das Schienbein und sah ihn mit einem derartigen Blick an, daß er schmunzelnd aufhörte.
Wir tranken ein paar Glas. Ich nur Sidecars, mit viel Zitrone. Ich wollte nicht wieder von mir selbst überrumpelt werden.
Gottfried war glänzend aufgelegt. »Ich war eben bei dir«, sagte er. »Wollte dich abholen. Hinterher war ich auf dem Rummelplatz. Da ist ein großartiges neues Karussell. Wollen wir mal hin?« Er sah Patrice Hollmann an.
»Sofort!« erwiderte sie. »Ich liebe Karussells über alles!«
»Dann wollen wir gleich aufbrechen«, sagte ich. Ich war froh, daß wir 'rauskamen. Im Freien war die Sache einfacher.

Drehorgelmänner — äußerste Vorposten des Rummelplatzes. Melancholisch süßes Gebrumm. Auf den zerschlissenen Samtdecken der Orgeln manchmal ein Papagei oder ein frierender, kleiner Affe in einer roten Tuchjacke. Dann die scharfen Stimmen der Verkäufer von Porzellankitt, Glasschneidern, türkischem Honig, Luftballons und Anzugstoffen. Das kalte blaue Licht und der Geruch der Karbidlampen. Die Wahrsager, die Sterndeuter, die Pfefferkuchenzelte, die Schiffsschaukeln, die Buden mit den Attraktionen — und endlich, brausend von Musik, bunt, glanzvoll, erleuchtet wie Paläste, die kreisenden Türme der Karussells.
»Los Kinder!« Lenz stürzte sich mit wehenden Haaren auf die Berg-und-Tal-Bahn. Sie hatte das größte Orchester. Bei jeder Runde traten sechs Posaunenbläser aus vergoldeten Nischen, drehten sich nach allen Seiten, schmetterten, schwenkten die Instrumente und traten zurück. Es war glorios.
Wir setzten uns in einen großen Schwan und sausten auf und ab. Die Welt glitzerte und glitt, sie schwankte und fiel in einen schwarzen Tunnel zurück, den wir mit Trommelwirbeln durchjagten, um gleich darauf wieder von Glanz und Posaunen empfangen zu werden.
»Weiter!« Gottfried steuerte auf ein fliegendes Karussell mit Luftschiffen und Aeroplanen zu. Wir enterten einen Zeppelin und machten auf ihm drei Runden.
Etwas atemlos standen wir wieder unten. »Und jetzt zum Teufelsrad!« erklärte Lenz.
Das Teufelsrad war eine große, glatte, in der Mitte etwas erhöhte Scheibe, die sich immer rascher drehte und auf der man sich behaupten mußte. Gottfried bestieg sie mit etwa zwanzig Personen. Er steppte wie ein Rasender und erhielt Sonderapplaus. Zum Schluß war er allein mit einer Köchin, die einen Hintern wie ein Sechstalerpferd hatte. Die schlaue Person setzte sich, als die Sache schwierig wurde, einfach mitten auf die Scheibe, und Gottfried fegte, dicht vor ihr steppend, herum. Die andern waren schon alle heruntergewirbelt. Schließlich ereilte das Schicksal auch den letzten Romantiker; er taumelte in die Arme der Köchin und rollte, umschlungen von ihr, zur Seite. Als er wieder zu uns stieß, führte er die Köchin am Arm. Er nannte sie ohne weiteres Lina. Lina lächelte verschämt. Er fragte, womit er sie bewirten dürfe. Lina erklärte, daß Bier gut gegen Durst sei. Die beiden verschwanden in einem Schuhplattlerzelt.
»Und wir? Wohin gehen wir jetzt?« fragte Patrice Hollmann mit glänzenden Augen.
»Ins Geisterlabyrinth«, sagte ich und zeigte auf eine große Bude.
Das Labyrinth war ein Weg voller Überraschungen. Nach ein paar Schritten wackelte der Boden, Hände tasteten im Dunkel nach einem, Fratzen sprangen aus den Ecken, Gespenster heulten — wir lachten, aber einmal fuhr das Mädchen vor einem grün beleuchteten Totenkopf jäh zurück. Einen Augenblick lag sie in meinem Arm, ihr Atem streifte mein Gesicht, ich fühlte ihr Haar an meinem Mund — gleich darauf lachte sie wieder, und ich ließ sie los.
Ich ließ sie los; aber etwas in mir ließ sie nicht los. Als wir längst draußen waren, fühlte ich immer noch ihre Schulter in meinem Arm, spürte das weiche Haar, den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut —. Ich vermied, sie anzusehen. Sie war plötzlich anders geworden für mich.
Lenz wartete schon auf uns. Er war allein. »Wo ist Lina?« fragte ich.
»Säuft«, erwiderte er und deutete mit dem Kopf auf das bäurische Zelt. »Mit einem Schmied.«
»Mein Beileid«, sagte ich.
»Unsinn«, meinte Gottfried, »laß uns jetzt lieber zu ernster Mannesarbeit übergehen.«
Wir gingen zu einer Bude, wo man Hartgummiringe auf Haken werfen mußte und alles mögliche gewinnen konnte. »So«, sagte Lenz zu Patrice Hollmann und schob seinen Hut in den Nacken, »jetzt werden wir Ihnen eine Aussteuer zusammenholen.«
Er warf als erster und gewann eine Weckuhr. Ich folgte und schnappte einen Teddybären. Der Budenbesitzer übergab uns beides und machte viel Hallo davon, um weitere Kunden anzulocken. »Dir wird das Hallo schon vergehen«, schmunzelte Gottfried und eroberte eine Bratpfanne. Ich einen zweiten Teddybären. »Nanu, so was von Schwein«, sagte der Budenbesitzer nur und reichte uns die Sachen.
Der Mann wußte nicht, was ihm bevorstand. Lenz war der beste Handgranatenwerfer der Kompanie gewesen, und im Winter, wenn wenig zu tun war, hatten wir monatelang geübt, unsere Hüte auf alle möglichen Haken zu werfen. Dagegen waren die Ringe hier ein Kinderspiel. Gottfried holte sich mühelos als nächstes eine kristallene Blumenvase. Ich ein halbes Dutzend Grammophonplatten. Der Budenbesitzer schob sie uns schweigend zu und prüfte dann seine Haken. Lenz zielte, warf und gewann ein Kaffeegeschirr, den zweiten Preis. Wir halten jetzt schon einen Haufen Zuschauer. Ich warf drei Ringe ganz rasch auf denselben Haken. Ergebnis: die büßende heilige Magdalena im Goldrahmen.
Der Budenbesitzer zog ein Gesicht, als ob er beim Zahnarzt wäre, und weigerte sich, uns weiter werfen zu lassen. Wir wollten aufhören, aber die Zuschauer machten Krach. Sie verlangten von dem Mann, daß er uns weitertrudeln ließ. Sie wollten sehen, wie er ausgeplündert wurde. Am meisten Krach machte Lina, die plötzlich mit ihrem Schmied wieder da war. »Vorbeiwerfen dürfen die Leute, was?« krähte sie, »aber treffen nicht, wie?« Der Schmied brummte beifällig.
»Schön«, meinte Lenz, »jeder noch einen Wurf.«
Ich warf als erster. Eine Waschschüssel mit Krug und Seifenschale. Dann kam Lenz. Er nahm fünf Ringe. Vier warf er rasch auf denselben Haken. Vor dem fünften machte er eine Kunstpause und zog eine Zigarette hervor. Drei Mann reichten ihm Feuer. Der Schmied klopfte ihm auf die Schulter. Lina fraß vor Aufregung ihr Taschentuch. Dann visierte Gottfried und warf ganz leicht, damit er nicht abprallte, den letzten Ring über die vier andern. Er blieb hängen. Donnerndes Gebrüll. Er hatte den Hauptgewinn gekapert — einen Kinderwagen mit rosa Decke und Spitzenkissen.
Der Budenbesitzer schob ihn fluchend heraus. Wir packten alles hinein und zogen zur nächsten Bude. Lina schob den Wagen. Der Schmied machte darüber solche Witze, daß ich vorzog, mit Patrice Hollmann ein Stück zurückzubleiben. Bei der nächsten Bude mußte man Ringe über Weinflaschen werfen. Wenn der Ring richtig fiel, hatte man die Flasche gewonnen. Wir holten sechs Flaschen heraus, Lenz besah die Etiketten und schenkte sie dem Schmied.
Es gab noch eine Bude ähnlicher Art. Aber der Besitzer hatte Lunte gerochen und erklärte sie, als wir ankamen, für geschlossen. Der Schmied wollte Radau machen; er hatte gesehen, daß hier Bierflaschen erstritten werden konnten. Aber wir wehrten ab. Der Mann, der diese Bude besaß, hatte nur einen Arm.
In großer Begleitung erschienen wir beim Cadillac. »Was nun?« fragte Lenz und kratzte sich den Schädel. »Am besten binden wir den Kinderwagen hinten an.«
»Natürlich«, sagte ich. »Aber du mußt 'rein und ihn steuern, damit er nicht kippt.«
Patrice Hollmann protestierte. Sie hatte Sorge, Lenz würde es tatsächlich machen. »Schön«, meinte Gottfried, »dann wollen wir mal sortieren. Die beiden Teddys behalten Sie unbedingt. Die Grammophonplatten auch. Die Bratpfanne?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Geht dann in den Besitz der Werkstatt über«, erklärte Gottfried. »Nimm sie an dich, Robby, alter Meister des Spiegeleierbratens. Das Kaffeegeschirr?«
Das Mädchen nickte zu Lina hinüber. Die Köchin errötete. Gottfried überreichte ihr die Stücke wie bei einer Preisverteilung. Dann griff er die Steingutschale heraus. »Das Waschgeschirr hier? An den Herrn Nachbarn, nicht wahr? Kann's gut gebrauchen im Beruf. Die Weckuhr ebenfalls. Schmiede haben einen schweren Schlaf.«
Ich übergab Gottfried die Blumenvase. Er reichte sie Lina. Die wollte stotternd ablehnen. Ihre Augen klebten an der büßenden Magdalena. Sie glaubte, wenn sie die Vase nähme, bekäme der Schmied das Bild. »Ick schwärme for Kunst«, brachte sie heraus. Rührend gierig stand sie da und kaute vor Aufregung an ihren roten Fingern.
»Gnädiges Fräulein«, fragte Lenz mit großer Geste und drehte sich um, »was meinen Sie dazu?«
Patrice Hollmann nahm das Bild und gab es der Köchin. »Es ist ein sehr schönes Bild, Lina«, sagte sie.
»Häng's über dein Bett und nimm's dir zu Herzen«, ergänzte Lenz.
Lina griff zu. Das Wasser stand ihr in den Augen. Sie bekam einen mächtigen Schluckauf vor Dankbarkeit.
»Und nun du«, sagte Lenz nachdenklich zu dem Kinderwagen. Linas Augen wurden trotz allen Magdalenenglückes schon wieder gierig. Der Schmied meinte, man könne nie wissen, wann man so was nötig hätte, und lachte darüber derartig, daß er eine Weinflasche fallen ließ. Aber Lenz wollte nicht. »Augenblick, hab' da vorhin was gesehen«, sagte er und verschwand. Ein paar Minuten später holte er den Wagen und schob ihn davon. »Erledigt«, meinte er, als er allein wiederkam. Wir stiegen in den Cadillac. »Wie Weihnachten!« sagte Lina glücklich in all ihrem Kram und gab uns die rote Pratze zum Abschied.
Der Schmied nahm uns noch eine Sekunde beiseite. »Hört mal zu«, sagte er, »wenn ihr mal jemand zu verhauen habt — ich wohne Leibnizstraße sechzehn, Hinterhof, zwei Treppen links. Eventuell, wenn's mehrere sind, komme ich auch mit meinem Verein.«
»Gemacht«, erwiderten wir und fuhren los. Als wir um die Ecke des Rummelplatzes bogen, zeigte Gottfried aus dem Fenster. Da stand unser Kinderwagen, ein richtiges Kind drin und eine blasse, immer noch verstörte Frau daneben, die ihn untersuchte.
»Gut, was?« meinte Gottfried.
»Bringen Sie ihr noch die Teddybären!« rief Patrice Hollmann. »Die gehören dazu.«
»Einen vielleicht«, sagte Lenz, »einen müssen Sie behalten.«
»Nein, beide.«
»Gut.« Lenz sprang aus dem Wagen, warf die Plüschdinger der Frau in die Arme und raste, ehe sie etwas sagen konnte, davon, als würde er verfolgt. »So«, sagte er aufatmend, »jetzt ist mir vor meinem eigenen Edelmut ganz schlecht geworden. Setzt mich am International ab. Ich muß unbedingt einen Kognak haben.«
Er stieg aus, und ich brachte das Mädchen nach Hause. Es war anders als das letztemal. Sie stand in der Tür, und das Licht der Laterne überflackerte ihr Gesicht. Sie sah herrlich aus. Ich wäre gern mit ihr gegangen. »Gute Nacht«, sagte ich, »schlafen Sie gut.«
»Gute Nacht.«
Ich sah ihr nach, bis die Beleuchtung erlosch. Dann fuhr ich mit dem Cadillac los. Ich fühlte mich merkwürdig. Es war nicht wie sonst, wenn man mal abends auf ein Mädchen verrückt war. Es war viel mehr Zärtlichkeit dabei. Zärtlichkeit und der Wunsch, sich einmal ganz loslassen zu können. Fallen zu lassen, irgendwohin...
Ich fuhr zu Lenz ins International. Es war fast leer. In einer Ecke saß Fritzi mit ihrem Freund, dem Kellner Alois. Sie stritten miteinander. Gottfried saß mit Mimi und Wally auf dem Sofa neben der Theke. Er war reizend mit beiden, auch mit Mimi, dem armen alten Geschöpf.
Die Mädchen gingen bald. Sie mußten ins Geschäft; jetzt war die Hauptzeit. Mimi ächzte und seufzte wegen ihrer Krampfadern. Ich setzte mich neben Gottfried. »Schieß nur los«, sagte ich.
»Wozu, Baby?« erwiderte er zu meinem Erstaunen. »Ist ganz richtig, was du machst.«
Ich war erleichtert, daß er es so einfach nahm. »Hätte ja schon vorher einen Ton reden können«, sagte ich.
Er winkte ab. »Unsinn.«
Ich bestellte mir einen Rum. »Weißt du«, sagte ich dann, »ich habe keine Ahnung, was sie ist und so. Auch nicht, wie sie zu dem Binding steht. Hat er dir damals eigentlich was gesagt?«
Er sah mich an. »Kümmert dich das was?«
»Nein.«
»Wollt' ich auch meinen. Der Mantel steht dir übrigens gut.« Ich errötete.
»Brauchst nicht rot zu werden. Hast ganz recht. Wollte, ich könnte es auch.«
Ich schwieg eine Weile. »Wieso, Gottfried?« fragte ich schließlich.
Er sah mich an. »Weil alles andere Dreck ist, Robby. Weil es heute nichts gibt, was lohnt. Denk daran, was Ferdinand dir gestern erzählt hat. Hat gar nicht unrecht, der alte dicke Leichenpinseler. Na, nun komm, setz dich an den Kasten da und spiel ein paar von den alten Soldatenliedern.«
Ich spielte »Drei Lilien« und den »Argonnerwald«. Es klang geisterhaft in dem leeren Lokal, wenn man daran dachte, wann wir es immer gesungen hatten.

8

VII

Zwei Tage später kam Köster eilig aus der Bude. »Robby, dein Blumenthal hat telefoniert. Du sollst um elf mit dem Cadillac zu ihm kommen. Er will eine Probefahrt machen.«
Ich schmiß Schraubenzieher und Engländer hin. »Mensch, Otto — wenn das was würde!«
»Was habe ich euch gesagt«, ließ Lenz sich aus der Grube unter dem Ford her vernehmen. »Er kommt wieder, habe ich gesagt. Immer auf Gottfried hören!«
»Halt den Schnabel, die Situation ist ernst«, schrie ich hinunter. »Otto, wieviel kann ich äußerst vom Preis nachlassen?«
»Äußerst zweitausend. Alleräußerst zweitausendzweihundert. Wenn's gar nicht anders geht, zweifünf. Wenn du siehst, daß du einen Wahnsinnigen vor dir hast, zweisechs. Aber sag ihm, daß wir ihn dann in alle Ewigkeit verfluchen werden.«
»Gut.«
Wir putzten den Wagen blitzblank. Ich stieg ein. Köster legte mir die Hand auf die Schulter. »Robby, bedenke, daß du als Soldat andere Sachen mitgemacht hast. Verteidige die Ehre unserer Werkstatt bis aufs Blut. Stirb stehend, die Hand an Blumenthals Brieftasche.«
»Gemacht«, grinste ich.
Lenz kramte eine Medaille aus der Tasche und hielt sie mir vors Gesicht. »Faß mein Amulett an, Robby!«
»Meinetwegen.« Ich faßte zu.
»Abrakadabra, großer Schiwa«, betete Gottfried, »segne diese Memme mit Mut und Stärke! Halt, hier, noch besser, nimm's mit! So, jetzt spuck noch dreimal aus.«
»In Ordnung«, sagte ich, spuckte ihm vor die Füße und fuhr los, vorbei an Jupp, der aufgeregt mit dem Benzinschlauch salutierte.
Unterwegs kaufte ich ein paar Nelken und dekorierte sie künstlerisch in den Kristallvasen des Wagens. Ich spekulierte damit auf Frau Blumenthal.
Leider empfing mich Blumenthal in seinem Büro, nicht in der Wohnung. Ich mußte eine Viertelstunde warten. Liebling, dachte ich, den Trick kenne ich, damit machst du mich nicht mürbe. Ich forschte im Vorzimmer eine hübsche Stenotypistin, die ich mit der Nelke aus meinem Knopfloch bestach, über das Geschäft aus. Trikotagen. Umsatz gut, neun Personen im Büro, ein stiller Sozius, schärfste Konkurrenz Meyer und Sohn, der Meyersohn fuhr roten Zweisitzer Essex — soweit war ich, als Blumenthal mich rufen ließ.
Er schoß sofort mit Kanonen. »Junger Mann«, sagte er, »ich hab' nicht viel Zeit. Neulich der Preis war ein Wunschtraum von Ihnen. Also Hand aufs Herz, was kostet der Wagen?«
»Siebentausend Mark«, erwiderte ich.
Er wandte sich kurz ab. »Dann ist nichts zu machen.«
»Herr Blumenthal«, sagte ich, »sehen Sie sich den Wagen noch einmal an...«
»Nicht nötig«, unterbrach er mich, »ich habe ihn mir ja neulich genau angesehen...«
»Sehen und Sehen ist zweierlei«, erklärte ich. »Sie sollen Details sehen. Die Lackierung erstklassig, von Voll und Ruhrbeck, Selbstkosten 250 Mark — die Bereifung neu, Katalogpreis 600 Mark, macht schon 850. Die Polsterung, feinster Cord...«
Er winkte ab. Ich begann von neuem. Ich forderte ihn auf, das luxuriöse Fahrzeug zu besichtigen, das herrliche Verdeckleder, den verchromten Kühler, die modernen Stoßstangen, sechzig Mark das Paar — wie ein Kind zur Mutter strebte ich zu dem Cadillac zurück und versuchte Blumenthal zu überreden, herunterzukommen. Ich wußte, daß mir, wie Antäus, neue Kräfte auf der Erde wachsen würden. Preise verlieren viel von ihrem abstrakten Schrecken, wenn man was dafür zeigen kann.
Aber Blumenthal wußte ebenso, daß seine Stärke hinter seinem Schreibtisch lag. Er setzte seine Brille ab und ging mich jetzt erst richtig an. Wir kämpften wie ein Tiger mit einer Pythonschlange. Blumenthal war der Python. Ehe ich mich umsehen konnte, hatte er mir schon fünfzehnhundert Mark abgehandelt.
Mir wurde angst und bange. Ich griff in die Tasche und nahm Gottfrieds Amulett fest in die Hand. »Herr Blumenthal«, sagte ich ziemlich erschöpft, »es ist ein Uhr, Sie müssen sicher zum Essen!« Ich wollte um alles in der Welt 'raus aus dieser Bude, in der die Preise wie Schnee zerschmolzen.
»Ich esse erst um zwei«, erklärte Blumenthal ungerührt, »aber wissen Sie was? Wir können jetzt die Probefahrt machen.«
Ich atmete auf.
»Nachher reden wir dann weiter«, fügte er hinzu. Ich atmete wieder ein.
Wir fuhren zu seiner Wohnung. Zu meinem Erstaunen war er im Wagen plötzlich wie ausgewechselt. Gemütlich erzählte er mir den Witz vom Kaiser Franz Josef, den ich längst kannte. Ich versetzte ihm dafür den vom Straßenbahnschaffner; er mir den vom verirrten Sachsen; ich ihm sofort den vom schottischen Liebespaar — erst vor seiner Wohnung wurden wir wieder Seriös. Er bat mich zu warten, er wolle seine Frau holen.
»Mein lieber dicker Cadillac«, sagte ich und klopfte dem Wagen auf den Kühler, »hinter dieser Witzeerzählerei steckt sicher wieder eine neue Teufelei. Aber sei nur ruhig, wir kriegen dich schon unter Dach und Fach. Er kauft dich schon — wenn ein Jude wiederkommt, dann kauft er. Wenn ein Christ wiederkommt, kauft er noch lange nicht. Er macht ein halbes Dutzend Probefahrten, um eine Droschke zu sparen, und dann fällt ihm plötzlich ein, daß er statt dessen eine Kücheneinrichtung braucht. Nein, nein, Juden sind gut, die wissen, was sie wollen. Aber ich schwöre dir, mein guter Dicker: Wenn ich diesem direkten Nachkommen des streitbaren Judas Makkabäus auch nur noch hundert Mark nachlasse, will ich mein ganzes Leben keinen Schnaps mehr trinken.«
Frau Blumenthal erschien. Ich erinnerte mich an alle Ratschläge von Lenz und verwandelte mich aus einem Kämpfer in einen Kavalier. Blumenthal hatte dafür nur ein niederträchtiges Lächeln. Der Mann war aus Eisen. Er hätte Lokomotiven verkaufen sollen, aber keine Trikotagen.
Ich sorgte dafür, daß er hinten in den Wagen kam und seine Frau neben mich. »Wohin darf ich Sie fahren, gnädige Frau?« fragte ich schmelzend.
»Wohin Sie wollen«, meinte sie, mütterlich lächelnd.
Ich begann zu plaudern. Es war eine Wohltat, einen harmlosen Menschen vor sich zu haben. Ich sprach so leise, daß Blumenthal nicht viel verstehen konnte. So sprach ich freier. Es war ohnehin schon schlimm genug, daß er hinten saß.
Wir hielten. Ich stieg aus und sah meinen Feind fest an. »Sie müssen doch zugeben, daß der Wagen sich wie Butter fährt, Herr Blumenthal.«
»Was heißt schon Butter, junger Mann«, entgegnete er sonderbar freundlich, »wenn die Steuern einen auffressen. Der Wagen kostet zuviel Steuern. Ihnen gesagt.«
»Herr Blumenthal«, sagte ich, bestrebt, den Ton festzuhalten, »Sie sind Geschäftsmann, zu Ihnen kann ich, aufrichtig reden. Das sind keine Steuern, das sind Spesen. Sagen Sie selbst, was erfordert ein Geschäft denn heute? Sie wissen es — nicht mehr Kapital wie früher —, Kredit braucht es! Und wie kriegt man Kredit? Immer noch durchs Auftreten. Ein Cadillac ist solide und flott — behäbig, aber nicht altmodisch — gesundes Bürgertum —, er ist die lebendige Reklame fürs Geschäft.«
Blumenthal wandte sich belustigt an seine Frau. »Ein jüdisches Köpfchen hat er, wie? Junger Mann«, sagte er dann, immer noch familiär, »die beste Reklame für Solidität ist heute ein schäbiger Anzug und Autobusfahren. Wenn wir beide das Geld hätten, das für die eleganten Autos, die da 'rumflitzen, noch nicht bezahlt ist, könnten wir uns bequem zur Ruhe setzen. Ihnen gesagt. Im Vertrauen.«
Ich sah ihn mißtrauisch an. Was hatte er nur mit seiner Freundlichkeit vor? Oder dämpfte die Gegenwart seiner Frau seinen Kampfgeist? Ich beschloß, eine Pistole abzufeuern. »So ein Cadillac ist doch was anderes als ein Essex, nicht wahr, gnädige Frau? Der Junior von Meyer und Sohn fährt so ein Ding, aber ich möchte ihn nicht geschenkt haben, diesen grellroten, auffälligen Schlitten...«
Ich hörte Blumenthal schnauben und fuhr rasch fort: »Die Farbe hier kleidet Sie übrigens sehr gut, gnädige Frau — gedämpftes Kobaltblau zu Blond...«
Plötzlich sah ich Blumenthal wie einen ganzen Wald voll Affen grinsen. »Meyer und Sohn — tüchtig, tüchtig...«, stöhnte er. »Und jetzt auch noch Schmonzes — Schmonzes!«
Ich blickte ihn an. Ich traute meinen Augen nicht; das war echt! Sofort schlug ich weiter in dieselbe Kerbe. »Herr Blumenthal, gestatten Sie, daß ich etwas richtigstelle. Bei einer Frau sind Schmonzes nie Schmonzes. Es sind Komplimente, die in unserer Jammerzeit leider immer seltener werden. Die Frau ist kein Stahlmöbel; sie ist eine Blume — sie verlangt keine Sachlichkeit; sie verlangt die heitere Schmonzessonne. Besser, ihr jeden Tag etwas Hübsches zu sagen, als mit tierischem Ernst das ganze Leben für sie zu arbeiten. Ihnen gesagt. Ebenfalls im Vertrauen. Und dabei habe ich nicht einmal Schmonzes geredet, sondern ein physikalisches Grundgesetz herangezogen. Blau paßt gut zu Blond.«
»Gut gebrüllt, Löwe«, sagte Blumenthal strahlend. »Hören Sie, Herr Lohkamp! Ich weiß, daß ich Ihnen noch glatt tausend Mark abhandeln kann...«
Ich trat einen Schritt zurück. Tückischer Satan, dachte ich, das ist der erwartete Schlag. Ich sah mich bereits als Abstinent durchs Leben wandern und warf den Blick eines gemarterten Rehkitzes zu Frau Blumenthal hinüber. »Aber Vater...«, sagte sie.
»Laß mal, Mutter«, erwiderte er. »Also ich könnte es — aber ich tue es nicht. Es hat mir Spaß als Geschäftsmann gemacht, wie Sie gearbeitet haben. Noch etwas zu phantasievoll, aber immerhin — das mit Meyer und Sohn war schon gut. Haben Sie eine jüdische Mutter?«
»Nein.«
»Waren Sie mal in der Konfektion?«
»Ja.«
»Sehen Sie, daher der Stil. In was für 'ner Branche?«
»Seele«, erwiderte ich, »ich wollte mal Schulmeister werden.«
»Herr Lohkamp«, sagte Blumenthal. »Respekt! Wenn Sie mal ohne Stellung sind, rufen Sie bei mir an.«
Er schrieb einen Scheck aus und gab ihn mir. Ich traute meinen Augen nicht! Vorauszahlung! — ein Wunder! »Herr Blumenthal«, sagte ich überwältigt, »erlauben Sie mir, zu dem Wagen zwei kristallene Aschenbecher und eine erstklassige Gummifußmatte gratis dreinzugeben.«
»Schön«, meinte er, »da kriegt der alte Blumenthal auch mal was geschenkt.« Dann lud er mich für den nächsten Tag zum Abendessen ein. Frau Blumenthal lächelte mir mütterlich zu.
»Es gibt gefüllten Hecht«, sagte sie weich.
»Eine Delikatesse«, erklärte ich. »Dann bringe ich Ihnen gleich den Wagen mit. Morgen früh lassen wir ihn zu.«

Ich flog wie eine Schwalbe zurück zur Werkstatt. Aber Lenz und Köster waren zum Essen gegangen. Ich mußte meinen Triumph noch bezähmen. Nur Jupp war da. »Verkauft?« fragte er.
»Das möchtest du wohl wissen, du Strolch«, sagte ich. »Hier, da hast du einen Taler. Bau dir ein Flugzeug dafür.«
»Also verkauft«, grinste Jupp.
»Ich fahre jetzt zum Essen«, sagte ich, »aber wehe, wenn du den andern was sagst, bevor ich zurück bin.«
»Herr Lohkamp«, beteuerte er und wirbelte den Taler durch die Luft, »ich bin ein Grab.«
»So siehst du aus«, sagte ich und gab Gas.
Als ich auf den Hof zurückkam, machte Jupp mir ein Zeichen. »Was ist los?« fragte ich. »Hast du den Schnäbel nicht gehalten?«
»Herr Lohkamp! Wie Eisen!« Er grinste. »Nur — der Fordfritze ist drin.«
Ich ließ den Cadillac auf dem Hof stehen und ging in die Werkstatt. Der Bäckermeister war da und beugte sich gerade über ein Buch mit Farbproben. Er trug einen karierten Gürtelmantel mit breitem Trauerflor. Neben ihm stand eine hübsche Person mit hurtigen schwarzen Augen, einem offenen Mäntelchen mit verrupftem Kaninchenfellbesatz und zu kleinen Lackschuhen. Die schwarze Person war für leuchtendes Zinnober; aber der Bäcker hatte gegen Rot Bedenken, weil er doch in Trauer war. Er schlug ein fahles Gelbgrau vor.
»Ach was«, maulte die Schwarze, »ein Ford muß auffallend lackiert sein. Sonst sieht er nach nichts aus.«
Sie schickte verschwörerische Blicke nach uns aus, zuckte mit den Achseln, als der Bäcker sich bückte, verzog den Mund und blinzelte uns zu. Ein munteres Kind! Schließlich einigten sich beide auf Resedagrün. Das Mädchen wollte ein helles Verdeck dazu haben. Doch da wurde der Bäckermeister stark: Irgendwo sollte die Trauer herauskommen. Er setzte ein schwarzes Lederverdeck durch. Dabei machte er nebenbei noch ein Geschäft; denn er bekam das Verdeck ja gratis und Leder war teurer als Stoff.
Die beiden gingen. Aber auf dem Hof gab es noch einen Aufenthalt. Die Schwarze hatte den Cadillac kaum erblickt, als sie drauflos schoß. »Sieh mal, Puppi, das ist ein Wagen! Fabelhaft! Das lass' ich mir gefallen!«
Im nächsten Augenblick hatte sie die Tür schon offen und saß drin, schielend vor Begeisterung. »Das sind Sitze! Kolossal! Wie Klubsessel! Das ist was anderes als der Ford!«
»Na, komm schon«, sagte Puppi mißmutig.
Lenz stieß mich an — ich sollte in Aktion treten und versuchen, dem Bäcker den Wagen aufzuhängen. Ich sah Gottfried von oben herab an und schwieg. Er stieß stärker. Ich stieß zurück und drehte ihm den Rücken zu.
Mit Mühe bekam der Bäcker sein schwarzes Juwel endlich aus dem Wagen und zog etwas gekränkt und stark verärgert ab.
Wir sahen dem Paar nach. »Ein Mann von schnellen Entschlüssen!« sagte ich. »Reparierter Wagen — neue Frau — alle Achtung!«
»Na«, meinte Köster, »an der wird er noch Freude haben.«
Kaum waren die beiden um die Ecke, da blubberte Gottfried los. »Bist du denn ganz von Gott verlassen, Robby? Verpaßt so eine Gelegenheit! Das war doch ein Schulbeispiel, wie man anspringen muß!«
»Unteroffizier Lenz«, erwiderte ich, »nehmen Sie die Knochen zusammen, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden! Glauben Sie, ich bin ein Bigamist und verheirate den Wagen zweimal?«
Es war ein großer Moment, Gottfried dastehen zu sehen. Er machte Augen wie Teller. »Treib keinen Scherz mit heiligen Dingen«, stotterte er.
Ich beachtete ihn gar nicht, sondern wandte mich an Köster. »Otto, nimm Abschied von unserm Cadillac-Kinde! Es gehört nicht mehr uns. Es wird der Unterhosenbranche fortan Glanz verleihen! Hoffe, daß es ein gutes Leben dort haben wird! Nicht so heldisch wie bei uns — dafür aber sicherer.«
Ich zog den Scheck heraus. Lenz fiel beinahe auseinander.
»Doch nicht — was? Etwa — bezahlt?« flüsterte er heiser.
»Was dachten Sie Anfänger denn?« fragte ich und schwenkte den Scheck hin und her. »Ratet!«
»Vier!« rief Lenz mit geschlossenen Augen.
»Vierfünf«, sagte Köster.
»Fünf«, schrie Jupp von der Pumpe aus herüber.
»Fünffünf«, schmetterte ich.
Lenz riß mir den Scheck aus der Hand. »Unmöglich! Wird bestimmt ungedeckt sein!«
»Herr Lenz«, sagte ich mit Würde, »der Scheck ist so sicher, wie Sie unsicher sind! Mein Freund Blumenthal ist für die zwanzigfache Summe gut. Mein Freund, verstehen Sie, bei dem ich morgen abend gefüllten Hecht esse. Nehmen Sie sich ein Beispiel daran! Freundschaft schließen, Vorauszahlung bekommen und zum Abendbrot eingeladen werden: das heißt verkaufen! So, jetzt können Sie rühren!«
Gottfried faßte sich mit Mühe. Er versuchte ein letztes. »Mein Inserat und das Amulett!«
Ich schob ihm die Medaille hin. »Hier hast du deine Hundemarke wieder. Hab' sie ganz vergessen gehabt.«
»Du hast tadellos verkauft, Robby«, sagte Köster. »Gottlob, daß wir den Schlitten los sind. Können den Zaster verdammt gut gebrauchen.«
»Gibst du mir fünfzig Mark Vorschuß?« fragte ich.
»Hundert. Hast's verdient.«
»Möchtest du nicht auch meinen grauen Mantel auf Vorschuß dazu haben?« fragte Gottfried mit zugekniffenen Augen.
»Möchtest du ins Krankenhaus, trauriger, indiskreter Bastard?« fragte ich zurück.
»Kinder, wir machen Schluß für heute!« schlug Köster vor. »Genug für einen Tag verdient! Man soll Gott auch nicht versuchen. Wollen mit Karl 'rausfahren und zum Rennen trainieren.«
Jupp hatte längst seine Benzinpumpe im Stich gelassen. Er wischte sich aufgeregt die Hände. »Herr Köster, dann übernehme ich wohl solange hier wieder das Kommando, wie?«
»Nein, Jupp«, sagte Otto lachend, »du kommst mit!«
Wir fuhren zunächst zur Bank und gaben den Scheck ab. Lenz ruhte nicht, bis er wußte, daß er in Ordnung war. Dann hauten wir ab, daß die Funken aus dem Auspuff stoben.

9

VIII

Ich stand meiner Wirtin gegenüber. »Wo brennt's?« fragte Frau Zalewski.
»Nirgendwo«, erwiderte ich. »Ich will nur meine Miete bezahlen.« Es war noch drei Tage zu früh, und Frau Zalewski fiel vor Erstaunen fast um, »Dahinter steckt doch was«, meinte sie argwöhnisch.
»Nicht die Spur«, erwiderte ich. »Kann ich heute abend mal die beiden Brokatsessel aus Ihrem Salon haben?«
Kampfbereit stemmte sie die Arme auf die dicken Hüften. »Da haben wir es! Gefällt Ihnen Ihr Zimmer nicht mehr?«
»Doch. Aber Ihre Brokatsessel gefallen mir besser.«
Ich erklärte ihr, daß ich vielleicht Besuch von einer Kusine bekäme und dazu das Zimmer gern etwas hübscher haben möchte. Sie lachte, daß ihr Busen nur so wogte. »Kusine«, wiederholte sie verächtlich, »und wann kommt die Kusine?«
»Es ist noch gar nicht sicher«, sagte ich, »aber wenn sie kommt, natürlich früh, frühabends, zum Essen. Warum soll es übrigens keine Kusinen geben, Frau Zalewski?«
»Es gibt schon welche«, erwiderte sie, »aber für die borgt man keine Sessel.«
»Ich wohl«, behauptete ich, »ich habe sehr viel Familiensinn.«
»So sehen Sie aus! Rumtreiber seid ihr alle miteinander. Die Brokatsessel können Sie haben. Stellen Sie die roten Plüsch solange in den Salon.«
»Danke schön. Morgen bringe ich alles zurück. Den Teppich auch.«
»Teppich?« Sie drehte sich um. »Wer hat denn hier ein Wort vom Teppich gesagt?«
»Ich. Und Sie auch, eben gerade.«
Sie sah mich entrüstet an. »Der gehört doch dazu«, sagte ich. »Die Sessel stehen doch drauf.«
»Herr Lohkamp«, erklärte Frau Zalewski majestätisch, »treiben Sie es nicht zu weit! Mäßigkeit in allem, war ein Wort des seligen Zalewski. Das könnten Sie auch mal beherzigen.«
Ich wußte, daß der selige Zalewski sich trotz dieses Wahlspruches buchstäblich totgesoffen hatte. Seine Frau hatte mir das selbst bei anderen Gelegenheiten oft genug erzählt. Aber das machte ihr nichts aus. Sie benützte ihren Mann, wie andere Leute die Bibel: zum Zitieren. Und je länger er tot war, desto mehr schob sie ihm zu. Er paßte jetzt schon auf alles — wie die Bibel.

Ich war dabei, meine Bude auszuschmücken. Nachmittags hatte ich mit Patrice Hollmann telefoniert. Sie war krank gewesen, und ich hatte sie fast eine Woche nicht mehr gesehen. Jetzt waren wir um acht Uhr verabredet, und ich hatte ihr vorgeschlagen, bei mir zu essen und nachher in ein Kino zu gehen.
Die Brokatsessel und der Teppich wirkten pompös; aber die Beleuchtung dazu war schrecklich. Ich klopfte deshalb nebenan bei der Familie Hasse, um mir eine Tischlampe auszuleihen. Frau Hasse saß müde am Fenster. Ihr Mann war noch nicht da. Er arbeitete jeden Tag freiwillig ein bis zwei Stunden länger, um nur ja nicht entlassen zu werden. Die Frau hatte etwas von einem kranken Vogel. In ihren schwammigen, alternden Zügen war immer noch das schmale Gesicht eines Kindes zu erkennen — eines enttäuschten, traurigen Kindes.
Ich brachte mein Anliegen vor. Sie lebte auf und holte mir die Lampe. »Ach ja«, sagte sie seufzend, »wenn ich noch so daran denke, früher...«
Ich kannte die Geschichte. Sie handelte von den Aussichten, die sie gehabt hätte, wenn sie Hasse nicht genommen hätte. Ich kannte dieselbe Geschichte auch in der Fassung Hasses. Da handelte sie von den Aussichten, die er gehabt hätte, wenn er Junggeselle geblieben wäre. Es war wahrscheinlich die häufigste Geschichte der Welt. Auch die aussichtsloseste.
Ich hörte eine Weile zu, erwiderte ein paar Gemeinplätze und begab mich zu Erna Bönig, um mir ihr Grammophon zu holen.
Frau Hasse sprach von Erna nur als von der Person nebenan. Sie verachtete sie, weil sie sie beneidete. Ich mochte sie ganz gern. Sie machte sich nichts vor über das Leben und wußte, daß man sich dranhalten mußte, um ein bißchen von dem zu erwischen, was man so Glück nannte. Sie wußte auch, daß man es doppelt und dreifach bezahlen mußte. Glück war die ungewisseste Sache der Welt mit dem höchsten Preis.
Erna kniete vor ihrem Koffer nieder und suchte mir eine Anzahl Platten heraus. »Wollen Sie Foxtrotts?« fragte sie.
»Nein«, erwiderte ich. »Ich kann nicht tanzen.«
Sie sah erstaunt auf. »Sie können nicht tanzen? Ja, was machen Sie dann, wenn Sie ausgehen?«
»Ich tanze mit der Gurgel. Das geht auch ganz gut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ein Mann, der nicht tanzen kann, wäre bei mir abgemeldet.«
»Sie haben strenge, Grundsätze«, erwiderte ich. »Aber es gibt ja auch noch andere Platten. Sie spielten da neulich eine sehr schöne — es war eine Frauenstimme mit so einer Art Hawaiimusik...«
»Ah, die ist fabelhaft. ›Wie hab' ich nur leben können ohne dich...‹, nicht wahr?«
»Richtig! Was so Schlagerdichtern alles einfällt! Ich glaube, es sind die einzigen Romantiker, die es noch gibt.«
Sie lachte. »Warum auch nicht? So ein Grammophon ist ja auch wie eine Art Stammbuch. Früher schrieb man sich Verse ins Album — heute schenkt man sich Grammophonplatten. Wenn ich mich an irgend etwas erinnern will, brauche ich nur die Platte von damals aufzulegen, und schon ist alles wieder da.«
Ich sah auf die Stöße von Platten herab, die auf der Erde lagen. »Daran gemessen, Erna, müssen Sie einen Haufen Erinnerungen haben.«
Sie stand auf und strich sich das rötliche Haar zurück. »Ja«, sagte sie und schob einen Pack mit dem Fuß beiseite, »aber eine einzige richtige wäre mir lieber...«
Ich packte aus, was ich zum Abendbrot eingekauft hatte, und machte alles zurecht, so gut ich konnte. Aus der Küche war keine Hilfe für mich zu erwarten, dazu stand ich mit Frida zu schlecht. Sie hätte mir höchstens etwas umgeworfen. Aber es ging auch so, und bald kannte ich meine alte Bude nicht wieder in ihrem neuen Glanz. Die Sessel, die Lampe, der gedeckte Tisch — ich spürte, wie eine unruhige Erwartung sich in mir sammelte.
Ich brach auf, obschon ich noch über eine Stunde Zeit hatte. Draußen wehte der Wind in langen Stößen um die Ecken der Häuser. Die Laternen brannten schon. Die Dämmerung zwischen den Häusern war blau wie ein Meer. Das International schwamm darin wie ein abgetakeltes Kriegsschiff. Ich machte einen Sprung hinein.
»Hoppla, Robert«, sagte Rosa.
»Was machst du denn hier?« fragte ich. »Willst du nicht auf Tour?«
»Ist noch etwas zu früh.«
Alois schlich heran. »Einstöckig?« fragte er.
»Dreistöckig«, erwiderte ich.
»Gehst ja mächtig 'ran«, meinte Rosa.
»Brauche etwas Mumm«, sagte ich und kippte den Rum.
»Spielst du was?« fragte Rosa.
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Lust heute. Zu windig, Rosa. Was macht das Kleine?«
Sie lächelte mit all ihren Goldzähnen. »Unberufen, gut. Morgen gehe ich wieder hin. Habe diese Woche gute Kasse gehabt; den alten Böcken steckt das Frühjahr schon in den Knochen. Da bringe ich ihr ein neues Mäntelchen mit. Rote Wolle.«
»Rote Wolle ist der letzte Modeschrei.«
»Du bist ein Kavalier, Robby.«
»Wenn du dich da man nicht irrst. Komm, trink eins mit. Anisette, was?«
Sie nickte. Wir stießen an. »Sag mal, Rosa, was hältst du eigentlich von der Liebe?« fragte ich. »Du verstehst doch was davon.«
Sie brach in ein schallendes Gelächter aus. »Hör auf damit«, sagte sie dann. »Liebe! Ach, mein Arthur — wenn ich an den Lumpen denke, werde ich immer noch schwach in den Knien. Will dir was sagen, Robby, im Ernst gesprochen: Das menschliche Leben ist zu lang für die Liebe. Einfach zu lang. Das hat mir mein Arthur erklärt, als er abgehauen ist. Und das stimmt. Liebe ist wunderbar. Aber einem ist sie immer zu lang. Und der andere, der sitzt dann da und stiert. Stiert wie wahnsinnig.«
»Klar«, sagte ich. »Aber ohne Liebe ist man doch eigentlich auch bloß 'ne Leiche auf Urlaub.«
»Mach's wie ich«, erwiderte Rosa, »schaff dir ein Kind an. Da hast du was zum Lieben und hast deine Ruhe dabei.«
»Nicht dumm«, sagte ich. »Hat mir grade noch gefehlt.«
Rosa wiegte träumerisch den Kopf. »Was hab' ich von meinem Arthur für Schläge gekriegt — und trotzdem, wenn er jetzt hier 'reinkäme, die Melone so schief nach hinten auf dem Kopf —, Mensch, Junge, ich bibbere schon, wenn ich dran denke.«
»Wollen eins auf Arthurs Wohl trinken.«
Rosa lachte. »Der Hurenbock soll leben! Prost!«
Wir tranken aus. »Wiedersehen, Rosa. Gutes Geschäft heute abend!« »Danke! Wiedersehen, Robby!«

Die Haustür klappte. »Hallo«, sagte Patrice Hollmann, »so tief in Gedanken?«
»Nein, gar nicht! Aber wie geht es Ihnen? Sind Sie wieder gesund? Was haben Sie denn gehabt?«
»Ach, nichts Besonderes. Erkältet und ein bißchen Fieber.«
Sie sah gar nicht krank und angegriffen aus, Im Gegenteil, — ihre Augen waren mir noch nie so groß und strahlend erschienen, ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und ihre Bewegungen waren geschmeidig wie bei einem schmalen, schönen Tier.
»Sie sehen prachtvoll aus«, sagte ich. »Ganz gesund! Wir können eine Menge unternehmen.«
»Das wäre schön«, erwiderte sie. »Aber heute geht es nicht. Ich kann heute nicht.«
Ich starrte sie verständnislos an. »Sie können nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«
Ich begriff immer noch nicht. Ich glaubte, sie hätte sich das mit meiner Bude anders überlegt und wollte nur nicht bei mir essen.
»Ich habe schon bei Ihnen angerufen«, sagte sie, »damit Sie nicht vergebens kämen. Aber Sie waren schon weggegangen.«
Jetzt verstand ich endlich. »Sie können wirklich nicht? Den ganzen Abend nicht?« fragte ich.
»Heute nicht. Ich muß irgendwohin. Leider habe ich es auch erst vor einer halben Stunde erfahren.«
»Können Sie das denn nicht verschieben?«
»Nein, das geht nicht.« Sie lächelte. »Es ist so etwas wie eine geschäftliche Sache.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Mit allem hatte ich gerechnet, nur damit nicht. Ich glaubte ihr kein Wort. Geschäftliche Sache — sie sah nicht nach geschäftlichen Sachen aus! Wahrscheinlich war es nur eine Ausrede. Sicher sogar. Was konnte man abends schon für geschäftliche Besprechungen haben? So was machte man vormittags! Und man erfuhr es auch nicht erst eine halbe Stunde vorher. Sie wollte einfach nicht, das war alles.
Ich war auf eine geradezu kindische Weise enttäuscht. Jetzt spürte ich erst, wie sehr ich mich auf den Abend gefreut hatte. Ich ärgerte mich darüber, daß ich so enttäuscht war, und ich wollte nicht, daß sie es merkte. »Also schön«, sagte ich, »dann ist nichts zu machen. Auf Wiedersehen.«
Sie sah mich forschend an. »So eilig ist es nicht. Ich bin erst um neun verabredet. Wir können noch etwas Spazierengehen. Ich war die ganze Woche nicht draußen.«
»Gut«, sagte ich widerstrebend. Ich fühlte mich plötzlich müde und leer.
Wir gingen die Straße entlang. Der Abend war klargeworden, und die Sterne standen zwischen den Dächern. Wir kamen an einer Rasenanlage vorbei, auf der im Schatten ein paar Büsche standen. Patrice Hollmann blieb stehen. »Flieder«, sagte sie, »es riecht nach Flieder! Aber das ist doch ganz unmöglich, es ist ja noch zu früh.«
»Ich rieche auch nichts«, erwiderte ich.
»Doch!« Sie beugte sich über das Geländer.
»Es ist eine Daphne indica, meine Dame«, kam eine rauhe Stimme aus dem Dunkel.
Ein städtischer Gartenarbeiter mit einer Mütze mit einem Messingschild lehnte da an einem Baum. Er kam etwas schwankend heran. Ein Flaschenhals blinkte aus seiner Tasche. »Wir ha'm sie heute gesetzt«, erklärte er unter mächtigem Schluckauf. »Drüben steht sie.«
»Danke schön«, sagte Patrice Hollmann und wandte sich mir zu. »Riechen Sie es immer noch nicht?«
»Doch, jetzt rieche ich was«, antwortete ich widerwillig.
»Guten, alten Kornschnaps.«
»Prima geraten!« Der Mann im Schatten rülpste gewaltig.
Ich spürte ganz gut den süßen, schweren Duft, der durch die weiche Dunkelheit schwamm; aber ich hätte es um alles in der Welt nicht zugegeben.
Das Mädchen lachte und dehnte sich in den Schultern. »Wie schön das ist, wenn man so lange im Zimmer gewesen ist! Zu schade, daß ich fort muß! Dieser Binding — immer eilig und im letzten Moment —, er hätte wirklich die Sache auf morgen verlegen können!«
»Binding?« fragte ich. »Sie sind mit Binding verabredet?«
Sie nickte. »Mit Binding und noch jemand. Auf diesen Jemand kommt es an. Ernsthaft geschäftlich. Können Sie sich das denken?«
»Nein«, erwiderte ich, »das kann ich mir nicht denken.«
Sie lachte und sprach weiter. Aber ich hörte nicht mehr zu. Binding — das war mir wie ein Blitz in die Knochen gefahren. Ich dachte nicht daran, daß sie ihn viel länger kannte als mich, ich sah nur überlebensgroß und strahlend seinen Buick, seinen teuren Anzug und sein Portemonnaie vor mir auftauchen. Meine arme, brave, geschmückte Bude! Was hatte ich mir da nur eingebildet! Die Hassesche Lampe, die Zalewskischen Sessel! Das Mädchen paßte ja überhaupt nicht zu mir! Was war ich denn schon? Ein Fußgänger, der sich mal einen Cadillac geborgt hatte, eine täppische Schnapsdrossel, nichts weiter! So was war an jeder Straßenecke zu finden. Ich sah bereits den Portier der »Traube« vor Binding salutieren, ich sah helle, warme, gepflegte Räume, Zigarettengewölk und elegante Leute, ich hörte Musik und Gelächter, Gelächter über mich. Zurück, dachte ich, rasch zurück! Eine Ahnung, eine Hoffnung — was war schon viel gewesen! Es war sinnlos, sich darauf einzulassen. Nichts wie zurück!
»Wir können uns morgen abend treffen, wenn Sie wollen«, sagte Patrice Hollmann.
»Morgen abend habe ich keine Zeit«, erwiderte ich.
»Oder übermorgen oder irgendwann in dieser Woche. Ich habe in den nächsten Tagen nichts vor.«
»Es wird schwierig sein«, sagte ich. »Wir haben heute einen eiligen Auftrag bekommen, da müssen wir wahrscheinlich die ganze Woche durch bis nachts arbeiten.«
Es war Schwindel, aber ich konnte nicht anders. Es steckte plötzlich zuviel Wut und Beschämung in mir.
Wir überquerten den Platz und gingen die Straße am Friedhof entlang. Aus der Richtung des International sah ich Rosa herankommen. Ihre hohen Stiefel glänzten. Ich hätte abbiegen können und hätte es sonst auch wohl getan — aber jetzt ging ich geradeaus weiter, ihr entgegen. Rosa sah an mir vorüber, als wären wir todfremd. Das war selbstverständlich; keines dieser Mädchen kannte einen auf der Straße, wenn man nicht allein war. »Tag, Rosa«, sagte ich.
Sie sah erst mich, darauf Patrice Hollmann verdutzt an, nickte dann hastig und ging verwirrt weiter. Ein paar Schritte hinter ihr kam Fritzi, die Handtasche schlenkernd, mit sehr roten Lippen und wiegenden Hüften. Sie schaute gleichgültig durch mich hindurch wie durch eine Fensterscheibe. »Grüß Gott, Fritzi«, sagte ich.
Sie neigte den Kopf wie eine Königin und verriet durch nichts ihr Erstaunen; aber ich hörte sie schneller gehen, als sie vorbei war — sie wollte mit Rosa den Fall besprechen. Ich hätte immer noch in eine Nebenstraße abbiegen können, denn ich wußte, daß auch die andern noch kamen — es war gerade die Zeit des ersten großen Patrouillenganges. Aber ich ging in einer Art Trotz geradeaus weiter — warum sollte ich ihnen aus dem Wege gehen; ich kannte sie ja viel besser als das Mädchen neben mir mit seinem Binding und seinem Buick. Sollte sie es ruhig sehen — gründlich sogar.
Sie kamen alle, die lange Laternenreihe entlang — Wally, die Schöne, blaß, schmal, elegant, Lina mit dem Holzbein, die stämmige Erna, Marion, das Küken, Margot mit den roten Backen, der schwule Kiki im Fehmantel und zum Schluß Mimi, die Großmutter mit den Krampfadern, die aussah wie ein ruppiger Uhu. Ich grüßte alle, und als wir dann noch an Muttchen mit dem Wurstkessel vorüberkamen, schüttelte ich ihr herzlich die Hand.
»Sie haben viele Bekannte hier«, sagte Patrice Hollmann nach einer Weile.
»Solche ja«, erwiderte ich bockig.
Ich merkte, daß sie mich ansah. »Ich glaube, wir müssen jetzt umkehren«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich, »das glaube ich auch.«
Wir standen vor der Haustür. »Leben Sie wohl«, sagte ich, »und viel Vergnügen noch.«
Sie antwortete nicht. Mit ziemlicher Mühe brachte ich meine Augen von dem Klingelknopf an der Tür los und sah sie an. Und wahrhaftig — ich traute meinen Blicken nicht —, da stand sie, und anstatt gründlich eingeschnappt zu sein, zuckte es um ihren Mund, ihre Augen flimmerten, und dann lachte sie, herzlich und unbekümmert, sie lachte mich einfach aus. »Sie Kindskopf«, sagte sie, »o Gott, was sind Sie noch für ein Kindskopf!«
Ich starrte sie an. »Na ja...«, sagte ich dann, »immerhin« — und bekam auf einmal Sinn für die Situation — »Sie finden mich wohl etwas idiotisch, was?«
Sie lachte. Rasch machte ich einen Schritt vor und zog sie fest an mich, mochte sie denken, was sie wollte. Ihr Haar streifte meine Wange, ihr Gesicht war dicht vor mir, ich spürte den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut — dann näherten sich ihre Augen, und ich fühlte plötzlich ihre Lippen auf meinem Mund — Sie war fort, ehe ich richtig wußte, was los war.

Ich ging zurück und kam an Muttchens Wurstkessel vorbei.
»Gib mir mal eine große Bockwurst«, sagte ich strahlend.
»Mit Senf?« fragte Muttchen in ihrer sauberen, weißen Schürze.
»Mit sehr viel Senf, Muttchen!«
Ich aß die Wust genießerisch im Stehen auf und ließ mir aus dem International von Alois dazu ein Glas Bier herausreichen.
»Der Mensch ist ein komisches Wesen, Muttchen, was?« fragte ich.
»Das kannst du wohl glauben«, erwiderte sie eifrig. »Kommt da gestern ein Herr, ißt zwei Wiener mit Senf, und nachher kann er sie nicht bezahlen. Schön, es war spät, kein Mensch sonst da, was sollte ich machen, das kennt man ja, ich lasse ihn laufen. Und stell dir vor, heute kommt er wieder und bezahlt die Wiener und gibt mir noch ein Trinkgeld.«
»Eine Vorkriegsnatur, Muttchen. Wie steht das Geschäft denn sonst?«
»Schlecht! Gestern sieben Paar Wiener und neun Bockwürste. Weißt du, wenn ich die Mädchen nicht hätte, wäre ich schon längst fertig.« Die Mädchen waren die Huren, die Muttchen unterstützten, wo sie nur konnten. Wenn sie einen Freier gekapert hatten und es war irgendwie möglich, dann brachten sie ihn bei Muttchens Wurstkessel vorbei, um vorher noch eine Bockwurst zu essen, damit die alte Frau etwas verdiente.
»Jetzt wird's ja bald wärmer«, erzählte Muttchen weiter, »aber im Winter, in der Nässe und in der Kälte — da kann man anziehen, was man will, man holt sich was weg.«
»Gib mir noch eine Bockwurst«, sagte ich, »ich habe so eine Lust am Leben. Und wie steht's zu Hause?«
Sie sah mich mit ihren wasserhellen kleinen Augen an. »Immer dasselbe. Neulich hat er das Bett verkauft.«
Muttchen war verheiratet. Vor zehn Jahren war ihr Mann beim Aufspringen auf eine fahrende Untergrundbahn abgestürzt und überfahren worden. Man hatte ihm beide Beine abnehmen müssen. Das Unglück hatte eine merkwürdige Wirkung auf ihn gehabt. Er schämte sich vor seiner Frau als Krüppel so sehr, daß er nicht mehr mit ihr schlief. Im Krankenhaus hatte er sich außerdem an Morphium gewöhnt. Das brachte ihn rasch herunter, er geriet in homosexuelle Kreise, und bald trieb sich der Mann, der fünfzig Jahre normal gewesen war, nur noch mit schwulen Jungens herum. Vor denen schämte er sich nicht, weil sie Männer waren. Bei Frauen war er ein Krüppel, der glaubte, Ekel und Mitleid zu erregen — das ertrug er nicht —, bei Männern war er nur ein Mensch, der Unglück gehabt hatte. Um sich das Geld für die Jungens und für das Morphium zu verschaffen, nahm er Muttchen weg, was er fand, und verkaufte, was zu verkaufen war. Aber Muttchen hielt zu ihm, obschon er sie oft prügelte. Sie stand mit ihrem Sohn jede Nacht bis morgens um vier Uhr an ihrem Wurstkessel. Tagsüber wusch sie Wäsche und scheuerte Treppen. Sie war dauernd unterleibskrank und wog neunzig Pfund; aber man sah sie nie anders als freundlich. Sie glaubte, daß es ihr noch ganz gut ginge. Manchmal kam der Mann, wenn er sich elend fühlte, zu ihr und weinte. Das waren ihre schönsten Stunden.
»Hast du deinen feinen Posten noch?« fragte sie mich.
Ich nickte. »Ja, Muttchen. Ich verdiene jetzt gut.«
»Sieh man zu, daß du ihn hältst.«
»Werde schon aufpassen, Muttchen.«
Ich kam nach Hause. Auf dem Vorplatz stand, wie von Gott gerufen, das Dienstmädchen Frida. »Sie sind ein süßes Kind«, sagte ich, denn ich hatte Lust, etwas Gutes zu tun.
Sie machte ein Gesicht, als hätte sie Essig getrunken.
»Im Ernst!« fuhr ich fort. »Was hat das ewige Streiten für Zweck! Das Leben ist kurz, Frida, und voller Zufälle und Gefahren. Heute muß man zusammenstehen. Wollen uns vertragen!«
Sie übersah meine ausgestreckte Hand, murmelte etwas von verdammten Saufgurgeln und entschwand türendonnernd.
Ich klopfte bei Georg Block. Eine Lichtritze stand unter seiner Tür. Er büffelte. »Komm, Georgie, fressen«, sagte ich.
Er sah auf. Sein blasses Gesicht rötete sich. »Hab' keinen Hunger.« Er dachte, es wäre aus Mitleid. Deshalb wollte er nicht.
»Sieh dir's erst mal an«, sagte ich. »Es wird sonst schlecht. Tu mir den Gefallen.«
Als wir über den Korridor gingen, sah ich, daß die Tür Erna Bönigs einen Spalt offenstand. Dahinter hörte ich einen leisen Atem. Aha, dachte ich und hörte, wie bei Hasses ganz vorsichtig das Schloß schnappte und die Tür ebenfalls um einen Zentimeter nachgab. Die ganze Pension lauerte auf meine Kusine.
Im grellen Oberlicht der Bude standen die Brokatsessel von Frau Zalewski. Die Hassesche Lampe prangte, die Ananas leuchtete, die hochfeine Leberwurst, der Lachsschinken, die Flasche Sherry...
Als ich mit dem sprachlosen Georgie im besten Einhauen war, klopfte es an die Tür. Ich wußte, was jetzt kam. »Paß mal auf, Georgie«, flüsterte ich und rief: »Herein!«
Die Tür öffnete sich, und herein trat, funkelnd vor Neugier, Frau Zalewski. Zum erstenmal in meinem Leben brachte sie mir persönlich die Post, eine Drucksache, in der ich dringend zum Rohkostessen aufgefordert wurde. Sie war feenhaft aufgemacht; ganz große Dame aus früheren besseren Tagen, Spitzenkleid mit Fransenschal und Brosche mit dem Bild des seligen Zalewski als Medaillon. Ein zuckersüßes Lächeln gefror jäh auf ihrem Gesicht; verblüfft starrte sie auf den verlegenen Georgie. Ich brach in ein herzloses Gelächter aus. Sie faßte sich rasch. »Aha, versetzt«, sagte sie giftig.
»Stimmt«, gab ich zu, noch ganz versunken in ihre Aufmachung. Welch ein Glück, daß es mit der Einladung nichts geworden war.
Mutter Zalewski sah mich mißbilligend an. »Und da lachen Sie noch? Ich habe ja immer gesagt: Wo andere Menschen ein Herz haben, sitzt bei Ihnen eine Schnapsflasche.«
»Ein gutes Wort«, erwiderte ich. »Wollen Sie uns nicht ein wenig die Ehre geben, gnädige Frau?«
Sie zögerte. Aber dann siegte die Neugier, vielleicht doch noch etwas zu erfahren. Ich öffnete die Flasche Sherry.

Spät, als alles still geworden war, nahm ich meinen Mantel und eine Decke und schlich über den Korridor zum Telefon. Ich kniete vor dem Tisch nieder, auf dem der Apparat stand, legte mir Mantel und Decke über den Kopf, hob den Hörer ab und hielt mit der linken Hand den Mantel unten zu. So war ich sicher, daß mich niemand belauschen konnte. Die Pension Zalewski besaß ungeheuer lange, neugierige Ohren. Ich hatte Glück. Patrice Hollmann war zu Hause. »Sind Sie von Ihrer geheimnisvollen Besprechung schon lange zurück?« fragte ich.
»Schon fast eine Stunde.« — »Schade. Hätte ich das gewußt.«
Sie lachte. »Nein, es hätte nichts genützt. Ich liege zu Bett und habe schon wieder etwas Fieber. Es ist ganz gut, daß ich früh nach Hause gekommen bin.«
»Fieber? Was ist denn das nur für ein Fieber?«
»Ach, nichts Wichtiges. Was haben Sie denn heute abend noch gemacht?«
»Ich habe mich mit meiner Wirtin über die Weltlage unterhalten. Und Sie? Hat Ihre Sache geklappt?«
»Ich hoffe, daß sie klappt.«
Unter meinem Unterschlupf wurde es affenheiß. Ich lüftete deshalb jedesmal, wenn das Mädchen sprach, den Vorhang, atmete eilig die kühle Luft von außen und schloß die Klappe wieder, wenn ich selbst dicht über der Muschel sprach.
»Haben Sie in Ihrer Bekanntschaft nicht jemand, der Robert heißt?« fragte ich.
Sie lachte. »Ich glaube nicht...«
»Schade. Ich hätte gern mal gehört, wie Sie das aussprechen. Wollen Sie es nicht trotzdem mal versuchen?«
Sie lachte wieder.
»Nur so zum Spaß«, sagte ich. »Zum Beispiel: Robert ist ein Esel.«
»Robert ist ein Kindskopf...«
»Sie haben eine wunderbare Aussprache«, sagte ich. »Und nun wollen wir es einmal mit Robby versuchen. Also: Robby ist...«
»Robby ist ein Säufer...«, sagte die leise, ferne Stimme langsam, »und jetzt muß ich schlafen —. ich habe ein Schlafmittel genommen, und mein Kopf summt schon...«
»Ja — gute Nacht — schlafen Sie gut...«
Ich legte den Hörer auf und schob den Mantel und die Decke beiseite. Dann richtete ich mich auf und erstarrte. Einen Schritt hinter mir stand wie ein Geist der pensionierte Rechnungsrat, der das Zimmer neben der Küche bewohnte.
Ich grunzte ärgerlich irgend etwas.
»Pst!« machte er und grinste.
»Pst!« machte ich zurück und wünschte ihn zur Hölle.
Er hob einen Finger. »Ich verrate nichts — politisch, wie?«
»Was?« fragte ich erstaunt.
Er zwinkerte. »Ohne Sorge! Stehe selbst scharf rechts.
Geheimes politisches Gespräch, wie?«
Ich begriff. »Hochpolitisch!« sagte ich und grinste jetzt auch.
Er nickte und flüsterte: »Es lebe Seine Majestät!«
»Dreimal Vivat hoch!« erwiderte ich. »Aber nun mal was anderes: Wissen Sie eigentlich, wer das Telefon erfunden hat?«
Er schüttelte erstaunt den kahlen Schädel.
»Ich auch nicht«, sagte ich — »aber es muß ein fabelhafter Kerl gewesen sein...«

10

IX

Sonntag. Der Tag des Rennens. Köster hatte die letzte Woche jeden Tag trainiert. Abends hatten wir dann bis in die Nacht hinein Karl bis aufs kleinste Schräubchen kontrolliert, geschmiert und in Ordnung gebracht. Jetzt saßen wir am Ersatzteillager und warteten auf Köster, der zum Startplatz gegangen war.
Wir waren alle da: Grau, Valentin, Lenz, Patrice Hollmann und vor allem Jupp. Jupp im Overall, mit Rennbrille und Rennhaube. Er war Kösters Beifahrer, weil er am leichtesten war. Lenz hatte allerdings Bedenken gehabt. Er behauptete, Jupps riesige abstehende Ohren gäben zuviel Luftwiderstand; entweder verliere der Wagen zwanzig Kilometer an Geschwindigkeit oder er verwandele sich in ein Flugzeug.
»Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem englischen Vornamen?« fragte Gottfried Patrice Hollmann, die neben ihm saß.
»Meine Mutter war Engländerin. Sie hieß auch so. Pat.«
»Ah, Pat, das ist was anderes. Das spricht sich viel leichter.«
Er holte ein Glas und eine Flasche hervor. »Also auf gute Kameradschaft, Pat! Ich heiße Gottfried.«
Ich starrte ihn an. Während ich immer noch mit der Anrede herumlavierte, machte er am hellen Nachmittag unverfroren solche Sachen! Und sie lachte dazu und nannte ihn tatsächlich Gottfried.
Aber das war nichts gegen Ferdinand Grau. Der war völlig verrückt geworden und ließ sie nicht aus den Augen. Er rezitierte rollende Verse und erklärte, sie malen zu müssen.
Tatsächlich hockte er sich auf eine Kiste und fing an zu zeichnen.
»Hör mal, Ferdinand, alter Totenvogel«, sagte ich und nahm ihm den Block fort, »vergreif dich nicht an lebendigen Menschen. Bleib bei deinen Leichen. Und rede mehr ins Allgemeine. Mit dem Mädchen bin ich empfindlich.«
»Versauft ihr nachher mit mir den Rest der Erbtante meines Gastwirts?«
»Ob den ganzen Rest, weiß ich nicht. Aber einen Fuß sicher.«
»Gut. Dann will ich dich schonen, Knabe.«
Das Geknatter der Motoren wanderte wie Maschinengewehrfeuer um die Bahn. Geruch nach verbranntem Öl, Benzin und Rizinus. Erregender, wunderbarer Geruch, erregender, wunderbarer Trommelwirbel der Motoren!
Nebenan lärmten die Monteure in ihren wohlausgerüsteten Boxen. Wir selbst waren nur sehr dürftig versorgt. Ein bißchen Werkzeug, Zündkerzen, ein paar Räder mit Reservereifen, die wir umsonst von einer Fabrik bekommen hatten, ein paar kleinere Ersatzteile — das war schon alles. Köster fuhr nicht für eine Fabrik. Wir mußten alles selbst bezahlen. Deshalb hatten wir nicht viel.
Otto kam. Hinter ihm Braumüller, der schon zum Rennen angezogen war. »Na, Otto«, sagte er, »wenn meine Kerzen heute halten, bist du verloren! Aber sie werden nicht halten.«
»Mal sehen«, erwiderte Köster.
Braumüller drohte zu Karl hinüber. »Nimm dich in acht vor meinem Nußknacker!«
Der Nußknacker war eine ganz schwere, neue Maschine, die Braumüller fuhr. Er galt als Favorit.
»Karl wird dir schon Beine machen, Theo!« rief Lenz zu ihm hinüber.
Braumüller wollte in der alten ehrlichen Soldatensprache antworten, verschluckte sich aber, als er Patrice Hollmann bei uns sah, machte Stielaugen, grinste ziellos in die Gegend und schob ab.
»Voller Erfolg«, sagte Lenz befriedigt.
Das Gebell der Motorräder fegte über die Bahn. Köster mußte sich fertigmachen. Karl war in der Sportwagenklasse gemeldet.
»Viel helfen können wir dir ja nicht, Otto«, sagte ich und sah nach dem Werkzeug.
Er winkte ab. »Ist auch nicht nötig. Wenn Karl Bruch macht, nützt selbst eine ganze Werkstatt nichts.«
»Sollen wir nicht doch Schilder 'raushalten, damit du weißt, wie du liegst?«
Köster schüttelte den Kopf. »Ist ja Sammelstart. Da seh' ich's schon. Außerdem paßt Jupp auf.«
Jupp nickte eifrig. Er zitterte vor Aufregung und fraß andauernd Schokolade. Aber das war nur jetzt. Beim Startschuß wurde er sofort ruhig wie eine Schildkröte.
»Also los, Hals- und Beinbruch!«
Wir schoben Karl vor. »Bleib ja beim Start nicht stehen, du geliebtes Aas«, sagte Lenz und tätschelte den Kühler. »Enttäusche deinen alten Vater nicht, Karl!«
Karl dampfte ab. Wir sahen ihm nach. »Guck mal, die komische Klamotte«, sagte plötzlich jemand neben uns. »Das Hintergestell, Mensch, wie ein Strauß!«
Lenz richtete sich auf. »Meinen Sie den weißen Wagen?« fragte er mit rotem Kopf, aber noch ruhig.
»Eben«, erwiderte ihm der riesige Monteur aus der Nachbarbox wegwerfend über die Schulter weg und reichte seinem Nachbarn die Bierflasche. Lenz begann vor Wut zu stottern und schickte sich an, die niedrige Bretterwand zu übersteigen. Gottlob hatte er seine Beleidigungen noch nicht draußen. Ich zerrte ihn zurück. »Laß den Quatsch«, fluchte ich, »wir brauchen dich hier. Wozu willst du schon vorher ins Lazarett!« Störrisch wie ein Esel wollte er sich losmachen. Er konnte nun einmal bei Karl nichts vertragen.
»Sehen Sie«, sagte ich zu Patrice Hollmann, »das ist angeblich der letzte Romantiker, dieser irrsinnige Ziegenbock! Können Sie glauben, daß er mal Gedichte geschrieben hat?«
Das wirkte sofort. Es war Gottfrieds wunde Stelle. »Lange vor dem Kriege«, entschuldigte er sich. »Außerdem, Baby, beim Rennen verrückt zu werden ist keine Schande. Was, Pat?«
»Verrückt sein ist überhaupt keine Schande.«
Gottfried salutierte. »Ein großes Wort!«
Das Donnern der Motoren übertönte alles Weitere. Die Luft bebte. Erde und Himmel bebten. Das Feld raste vorbei. »Vorletzter!« knurrte Lenz. »Das Biest hat beim Anfahren doch wieder gestottert.«
»Macht nichts«, sagte ich, »der Start ist Karls Schwäche. Er zieht langsam ab, aber dann hört er überhaupt nicht mehr auf.«
In das verklingende Tosen orgelten die Lautsprecher. Wir trauten unsern Ohren nicht: Burger, ein schwerer Konkurrent, war am Start stehengeblieben.
Die Wagen brummten heran. Sie zitterten in der Ferne wie Heuschrecken auf der Bahn, wurden größer und rasten auf der gegenüberliegenden Seite an den Tribünen vorbei in die große Kurve. Es waren noch sechs, Köster immer noch an vorletzter Stelle. Wir hielten uns bereit. Hall und Widerhall schlugen stärker und schwächer aus der Kurve. Dann schoß die Meute heraus. Einer vorweg — der zweite und dritte dicht hinter ihm, und dann Köster. Er war in der Kurve vorgegangen und fuhr jetzt als vierter.
Die Sonne kam aus den Wolken hervor. Breite Streifen Helle und Grau strömten über die Bahn, die plötzlich von Licht und Schatten gefleckt war wie ein Tiger. Wolkenschatten wanderten über die Menschenmenge auf den Tribünen. Der Motorensturm war uns allen ins Blut geschlagen wie eine ungeheure Musik. Lenz zappelte herum, ich kaute eine Zigarette zu Brei, und Patrice Hollmann witterte in die Luft wie ein Fohlen am frühen Morgen. Nur Valentin und Grau saßen friedlich da und ließen sich von der Sonne bescheinen.
Wieder dröhnte der ungeheure Herzschlag der Maschinen heran, an den Tribünen vorbei. Wir starrten zu Köster hinüber. Er schüttelte den Kopf; er wollte keine Reifen wechseln. Als er zurückkam, hatte er etwas aufgeholt. Er hing dem dritten dicht am Hinterrad. So rasten sie in die unendliche Gerade.
»Verflucht!« Lenz nahm einen Schluck aus der Flasche.
»Er hat das trainiert«, sagte ich zu Patrice Hollmann. »In der Kurve 'rangehen ist seine Spezialität.«
»Auch einen Schluck aus der Pulle, Pat?« fragte Lenz.
Ich sah ihn ärgerlich an. Er hielt, ohne zu blinzeln, meinen Blick aus.
»Lieber ein Glas«, sagte sie. »Aus der Flasche trinken habe ich noch nicht gelernt.«
»Da sieht man's!« Gottfried angelte nach dem Glas. »Das sind die Fehler der modernen Erziehung.«
In den folgenden Runden zog das Feld sich weiter auseinander. Braumüller führte. Die ersten vier hatten allmählich dreihundert Meter Vorsprung. Köster verschwand mit dem dritten Kühler an Kühler hinter der Tribüne. Dann tobten die Wagen wieder heran. Wir sprangen auf. Wo war der dritte geblieben? Otto kam allein hinter den beiden anderen herangefegt. Da — endlich brummelte der dritte heran. Zerfetzte Hinterreifen. Lenz grinste schadenfroh; der Wagen hielt vor der Nebenbox. Der riesige Monteur fluchte. Eine Minute später war die Maschine wieder flott. Die nächsten Runden änderten nichts am Klassement. Lenz legte die Stoppuhr beiseite und rechnete. »Karl hat noch Reserven«, verkündete er dann.
»Ich fürchte, die andern auch«, sagte ich. »Kleingläubiger!« Er warf mir einen vernichtenden Blick zu. Auch in der vorletzten Runde schüttelte Köster den Kopf. Er wollte es riskieren, die Reifen nicht zu wechseln. Es war noch nicht so warm, daß sie es nicht hätten aushalten können.
Wie ein glasklares Tier lagerte die Spannung jetzt über dem weiten Platz und den Tribünen, als die Wagen zum Endkampf ansetzten. »Faßt alle Holz an«, sagte ich und umklammerte einen Hämmerstiel. Lenz griff an meinen Kopf. Ich stieß ihn weg. Er grinste und faßte an die Barriere.
Das Dröhnen schwoll zum Brausen, das Brausen zum Heulen, das Heulen zum Donnern, zum hohen, pfeifenden Singen der mit höchsten Touren laufenden Wagen. Braumüller flog die Kurve hoch, dicht hinter ihm raste der zweite, er ging mit stäubenden, knirschenden Hinterrädern tiefer hinein, weiter innen, er wollte wahrscheinlich drinnen versuchen, unten vorbeizukommen. »Falsch!« schrie Lenz. Da schoß auch schon Köster hinterher, schwirrend stieg der Wagen bis zum äußersten Rand empor, einen Augenblick erstarrten wir, es sah aus, als flöge er darüber hinaus, dann brüllte der Motor, und der Wagen sprang herum. »Er ist mit vollem Gas 'reingegangen!« rief ich. Lenz nickte. »Verrückt!«
Wir hingen weit über der Barriere, fiebernd vor Aufregung, ob es geglückt sei. Ich hob Patrice Hollmann auf die Kiste mit dem Werkzeug. »So sehen Sie besser! Stützen Sie sich auf meine Schulter. Passen Sie auf, er wird auch den in der Kurve schnappen.«
»Er hat ihn!« rief sie. »Er ist schon vorbei!«
»Er geht an Braumüller 'ran! Himmelherrgott, heiliger Moses!« schrie Lenz jetzt, »er ist tatsächlich vorbei und geht an Braumüller 'ran.«
In einer Wolke von Gewittern fegten die drei Wagen heraus, heran, wir schrien wie die Verrückten, auch Valentin und Graus ungeheurer Baß waren jetzt dabei — Köster war der Wahnsinn geglückt, er hatte den zweiten in der Kurve von oben her überholt, weil der sich verschätzt und im schärferen Bogen innen Fahrt verloren hatte, und jetzt stieß er wie ein Habicht auf Braumüller los, der plötzlich nur noch zwanzig Meter vor ihm lag und anscheinend Fehlzündungen hatte.
»Gib ihm, Otto! Gib ihm! Friß den Nußknacker«, brüllten wir und winkten.
Die Wagen verschwanden in der letzten Kurve. Lenz betete laut zu allen Göttern Asiens und Südamerikas um Hilfe und schwenkte sein Amulett. Ich riß meins ebenfalls heraus. Patrice Hollmann stützte sich auf meine Schulter, das Gesicht spähend weit nach vorn gereckt wie das Antlitz einer Gallionsfigur.
Da kamen sie heran. Braumüllers Motor spuckte immer noch, er setzte alle Augenblicke wieder aus. Ich machte die Augen zu; Lenz drehte sich um, den Rücken zur Bahn — wir wollten das Schicksal bestechen. Ein Ruf riß uns herum. Wir sahen gerade noch, wie Köster mit zwei Metern Vorsprung durchs Ziel ging.
Lenz wurde wahnsinnig. Er schleuderte das Werkzeug zur Erde und machte einen Handstand auf den Reifen.
»Wie sagten Sie vorhin?« brüllte er, als er wieder senkrecht stand, zu dem herkulischen Monteur hinüber, »Klamotte?«
»Ach, Mensch, quak mich nicht an«, erwiderte der Monteur mißmutig. Und zum erstenmal, seit ich ihn kannte, kriegte der letzte Romantiker bei einer Beleidigung keinen Wutanfall, sondern einen Veitstanz vor Lachen.
Wir warteten auf Otto. Er hatte noch bei der Rennleitung zu tun.
»Gottfried«, sagte auf einmal eine heisere Stimme hinter uns. Wir drehten uns um. Da stand ein menschliches Gebirge in zu engen, gestreiften Hosen, zu engem Marengojackett und schwarzer Melone.
»Alfons!« rief Patrice Hollmann.
»Persönlich«, gab er zu.
»Wir haben gewonnen, Alfons!« rief sie.
»Heftig, heftig. Dann komm' ich wohl zu spät, was?«
»Du kommst nie zu spät, Alfons«, sagte Lenz.
»Wollte euch eigentlich was zu futtern bringen. Kalter Schweinebraten und etwas Pökelrippchen. Schon zugeschnitten.«
»Gib her und setz dich, du Goldjunge«, rief Gottfried. »Wir legen gleich los.«
Er machte das Paket auf. »Mein Gott«, sagte Patrice Hollmann, »das ist ja für ein Regiment.«
»Kann man immer erst nachher entscheiden«, meinte Alfons. »Übrigens — etwas Eiskümmel ist auch da.«
Er holte zwei Flaschen heraus. »Propfen sind schon gezogen.«
»Heftig, heftig«, sagte Patrice Hollmann. Er blinzelte ihr wohlwollend zu.
Karl blubberte heran. Köster und Jupp sprangen heraus. Jupp sah aus wie ein junger Napoleon. Seine Ohren leuchteten wie Kirchenfenster. Er hatte einen entsetzlich geschmacklosen, riesigen Silberpokal in den Armen. »Der sechste«, sagte Köster lachend. »Daß den Leuten auch nie was anderes einfällt.«
»Nur den Milchtopf?« fragte Alfons sachlich. »Keinen cash?«
»Doch«, beruhigte ihn Otto, »auch cash.«
»Dann schwimmen wir ja geradezu in Geld«, sagte Grau.
»Scheint ein netter Abend zu werden.«
»Bei mir?« fragte Alfons.
»Ehrensache«, erwiderte Lenz.
»Erbsensuppe mit Schweinebauch, Pfoten und Ohren«, sagte Alfons, und sogar Patrice Hollmann machte ein Gesicht voll Hochachtung. »Gratis natürlich«, fügte er hinzu.
Braumüller kam heran, fluchend über sein Pech, die Hand voll verölter Zündkerzen. »Beruhige dich, Theo«, rief Lenz. »Der erste Preis im nächsten Kinderwagenrennen ist dir sicher.«
»Gebt ihr mir Revanche mit Kognak?« fragte Braumüller.
»In Biergläsern sogar«, sagte Grau.
»Keine Chance für Sie, Herr Braumüller«, erklärte Alfons als Sachverständiger. »Habe Köster noch nie blau gesehen.«
»Habe Karl auch noch nie vor mir gesehen«, gab Braumüller zurück. »Außer heute.«
»Trag's mit Würde«, sagte Grau. »Hier hast du ein Glas. Wir wollen auf den Niedergang der Kultur durch die Maschine trinken.«
Als wir aufbrachen, wollten wir den übriggebliebenen Proviant von Alfons mitnehmen. Es mußte noch für ein paar Mann reichlich da sein. Aber wir fanden nur noch das Papier. »Zum Donnerwetter...«, sagte Lenz. »Aha!« Er zeigte auf Jupp, der verlegen grinste, die Fäuste noch voll, mit einem Bauch, der wie eine Trommel wegstand. »Auch ein Rekord!«
Patrice Hollmann hatte nach dem Essen bei Alfons für mein Gefühl zuviel Erfolg. Ich erwischte Grau dabei, wie er ihr erneut vorschlug, sie zu malen. Sie lachte und erklärte, es dauere ihr zu lange; fotografieren sei bequemer.
»Das ist auch mehr sein Fach«, sagte ich anzüglich. »Vielleicht malt er Sie nach einer Fotografie.«
»Ruhe, Robby«, erwiderte Ferdinand unbeirrt und starrte Pat aus seinen riesigen blauen Kinderaugen an. »Der Schnaps macht dich bösartig — mich menschlich. Das ist der Unterschied zwischen unseren Generationen.«
»Er ist so an zehn Jahre älter als ich«, warf ich ein.
»Das ist heute eine Generation Unterschied«, fuhr Ferdinand fort. »Ein Leben Unterschied. Ein Jahrtausend Unterschied. Was wißt ihr Burschen denn vom Dasein! Ihr fürchtet euch ja vor euren eigenen Gefühlen. Ihr schreibt keine Briefe — ihr telefoniert; ihr träumt nicht mehr — ihr macht eine Wochenendtour; ihr seid vernünftig in der Liebe und unvernünftig in der Politik — ein erbärmliches Geschlecht!«
Ich hörte nur mit einem Ohr hin; mit dem andern horchte ich zu Braumüller hinüber. Er erklärte Patrice Hollmann gerade etwas schwankend, daß sie unbedingt bei ihm Autofahren lernen müsse. Er werde ihr alle seine Tricks zeigen.
Bei der nächsten Gelegenheit nahm ich ihn beiseite. »Es ist sehr ungesund, Theo, für einen Sportsmann, sich zuviel um Frauen zu kümmern.«
»Für mich nicht«, meinte Braumüller, »ich habe eine fabelhafte Natur.«
»Schön. Dann will ich dir sagen, was bestimmt auch für dich gesund ist: Wenn du eins mit dieser Flasche auf den Kopf geschlagen kriegst.«
Er grinste. »Steck den Degen ein, Kleiner. Weißt du, woran man einen Kavalier erkennt? Daß er sich anständig benimmt, wenn er besoffen ist. Und weißt du, was ich bin?«
»Ein Renommist!«
Ich hatte keine Sorge, daß einer von ihnen wirklich etwas unternehmen wollte; das gab es nicht unter uns. Aber ich wußte nicht so genau, wie es mit dem Mädchen war — es konnte ja leicht sein, daß einer der andern ihr großartig gefiel. Wir kannten uns noch zu wenig, als daß ich sicher gewesen wäre. Wann war man überhaupt schon sicher?
»Wollen wir leise verschwinden?« fragte ich. — Sie nickte.
Wir gingen durch die Straßen. Es war diesig geworden. Nebel fiel langsam über die Stadt, grüne und silberne Nebel. Ich nahm Pats Hand und steckte sie in meine Manteltasche.
So gingen wir lange Zeit.
»Müde?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte.
Ich zeigte auf die Cafes, an denen wir vorüberkamen.
»Wollen wir irgendwo hinein?«
»Nein. Nicht schon wieder.«
Wir gingen weiter und kamen an den Friedhof. Er war wie eine stille Insel in der steinernen Häuserflut. Die Bäume rauschten. Ihre Wipfel waren schon nicht mehr zu sehen. Wir suchten eine leere Bank und setzten uns.
Die Laternen vor uns am Straßenrand hatten zitternde orangefarbene Höfe bekommen. Im stärker fallenden Nebel begann das große Märchen Licht. Maikäfer kamen trunken aus den Linden herangetaumelt, sie umkreisten die Laternen und bumsten schwer gegen die feuchten Scheiben. Der Nebel verwandelte alles, er hob es hoch und löste es los, das Hotel gegenüber schwamm schon wie ein Ozeandampfer mit erleuchteten Kabinen über dem schwarzen Spiegel des Asphalts, der graue Schatten der Kirche dahinter wurde zu einem gespenstischen Segelschiff mit hohen Masten, die sich im grauroten Licht verloren, und nun begannen auch die Schleppzüge der Häuser zu schwimmen, zu treiben...
Wir saßen schweigend nebeneinander. Der Nebel machte alles unwirklich — auch uns. Ich sah das Mädchen an — in ihren weitgeöffneten Augen glänzte der Laternenschein. »Komm«, sagte ich, »komm dicht zu mir — sonst treibt dich der Nebel weg...«
Sie wandte mir ihr Gesicht zu. Sie lächelte, ihr Mund war leicht geöffnet, die Zähne schimmerten, ihre Augen waren groß auf mich gerichtet — aber mir schien, als sähen sie mich gar nicht —, als lächele sie über mich hinweg in das graue und silberne Fließen hinein, als sei sie geisterhaft angerührt worden von dem Wehen in den Wipfeln, von dem feuchten Rinnen die Stämme hinab, als lausche sie auf einen dunklen, unhörbaren Ruf hinter den Bäumen, hinter der Welt, als müsse sie gleich aufstehen und fortgehen, durch den Nebel, ziellos und sicher, und ihm folgen, dem geheimnisvollen Anruf der Erde und des Lebens.
Nie werde ich dieses Gesicht vergessen — nie werde ich vergessen, wie es sich dann zu mir neigte, wie es Ausdruck gewann, wie es sich schweigend erfüllte mit Zärtlichkeit und Zartheit, mit einer leuchtenden Stille, als erblühe es — nie werde ich vergessen, wie ihre Lippen mir entgegenkamen, wie ihre Augen sich den meinen näherten, wie sie dicht vor mir standen und mich ansahen, fragend, ernst, groß und schimmernd — und wie sie sich dann langsam schlossen, als ergäben sie sich...
Der Nebel zog und zog. Die Kreuze der Grabsteine ragten blaß aus den Schwaden. Ich deckte meinen Mantel über uns. Die Stadt war versunken. Die Zeit war gestorben...
Wir saßen lange so. Allmählich begann es stärker zu wehen, und Schatten schwankten durch die graue Luft vor uns. Ich hörte Schritte knirschen und leises Murmeln dazwischen. Dann das gedämpfte Klimpern von Gitarren. Ich hob den Kopf. Die Schatten kamen näher, wurden zu dunklen Gestalten und schoben sich zu einem Kreise zusammen. Stille. Und plötzlich lauter Gesang: »Jesus, Jesus sucht auch dich...«
Ich fuhr mit einem Ruck hoch und horchte. Was war da los? Waren wir auf dem Mond? Das war ja ein richtiger Chor — ein zweistimmiger Frauenchor...
»Sünder, Sünder, stehe auf«, hallte es über den Friedhof im Takt eines Regimentsmarsches... Ich starrte Pat an. »Es ist doch nicht zu fassen«, sagte ich. »Komm zur Bußbank reuiglich...«, ging es schon in flottem Tempo weiter. Auf einmal begriff ich. »Lieber Gott! Die Heilsarmee!« »Laß der Sünde keinen Lauf...«, mahnten die Schatten aufs neue in aufsteigender Kantilene. In den braunen Augen Pats erschienen funkelnde Lichter. Ihre Lippen zuckten und ihre Schultern bebten. Unaufhaltsam ging es jetzt fortissimo weiter: »Höllenbrand und Feuerpein Sind der Sünde böser Lohn; Jesus lädt dich vorher ein — Komm und büß, verlorener Sohn...«

»Ruhe, Himmeldonnerschlag!« brüllte plötzlich eine ärgerliche Stimme aus dem Nebel dazwischen.
Ein Moment verdutzter Stille. Aber die Heilsarmee war Kummer gewohnt. Verstärkt setzte der Chor sofort wieder ein. »Was willst du in der Welt allein...«, klagte er unisono...
»Knutschen, verflucht noch mal«, brüllte die ärgerliche Stimme, »hat man denn nicht mal hier Ruhe?«
»Wo Satans Blendwerk dich verlockt...«, schmetterte es mit jähem Aufschwung dagegen.
»Ihr alten Schrauben könnt mich schon lange nicht verlocken!« kam die Antwort prompt aus dem Nebel.
Ich prustete los. Pat konnte auch nicht mehr an sich halten. Wir schüttelten uns vor Lachen über dieses Duell auf dem Friedhof. Der Heilsarmee war bekannt, daß die Bänke hier die Zuflucht von Liebespaaren waren, die nicht wußten, wo sie sonst im Lärm der Stadt allein sein konnten. Deshalb hatte sie zu einem gewaltigen Schlage ausgeholt. Sie machte eine Sonntags-Razzia, um Seelen zu retten. Fromm, gläubig und laut plärrten die ungeschulten Stimmen ihren Text. Die Gitarren machten heftig Wumba Wumba dazu.
Der Friedhof wurde lebendig. Kichern und Zurufe kamen aus dem Nebel. Alle Bänke schienen besetzt zu sein. Der einsame Rebell der Liebe erhielt mächtig unsichtbaren Zuzug von Gleichgesinnten. Ein Protestchor formierte sich. Es mußte altes Militär dabeisein, das durch die Marschmusik angeregt wurde — denn machtvoll erhob sich nach kurzer Zeit das unvergängliche Lied: »In Hamburg da bin ich gewesen — hab' gesehen die blühende Welt...«
»O sei nicht länger noch verstockt«, drang schrill der Chor der Asketen noch einmal durch, denn die Heilsarmee geriet mit nickenden Schutenhüten in höchsten Alarm.
Aber das Böse siegte. »Meinen Namen, den darf ich nicht nennen«, schallte es aus rauhen Kehlen gewaltig dagegen, »denn ich bin ja ein Mädchen für Geld.«
»Jetzt wird es Zeit aufzubrechen«, sagte ich zu Pat. »Das Lied da kenne ich. Es hat mehrere Strophen, die sich mächtig steigern. Fort von hier!«
Die Stadt war wieder da mit Hupenlärm und Rädergesumm. Aber sie blieb verzaubert. Der Nebel machte aus den Omnibussen große Fabeltiere, die Autos wurden zu schleichenden Lichtkatzen und die Schaufenster zu bunten Höhlen der Verwirrung.
Wir gingen die Straße am Friedhof entlang und überquerten den Rummelplatz. Die Karussells ragten wie brausende Türme von Musik und Glanz in die diesige Luft, das Teufelsrad sprühte Purpur, Gold und Gelächter, und das Labyrinth schimmerte in blauen Feuern.
»Gesegnetes Labyrinth!« sagte ich.
»Warum?« fragte Pat.
»Wir waren doch einmal zusammen drin.«
Sie nickte.
»Ich habe das Gefühl, es ist endlos lange her.«
»Wollen wir noch einmal hinein?«
»Nein«, sagte ich. »Jetzt nicht mehr. Willst du etwas trinken?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie sah wunderschön aus. Der Nebel war wie ein leichter Duft, der sie noch strahlender machte.
»Bist du auch nicht müde?« fragte ich.
»Nein, noch nicht.«
Wir kamen an die Buden mit den Ringen und den Haken. Lampen mit weißem, spritzendem Karbidlicht hingen davor. Pat sah mich an. »Nein«, sagte ich, »heute werfe ich nicht. Keinen einzigen Ring. Und wenn der Schnapskeller Alexanders des Großen zu gewinnen wäre.« Wir gingen weiter, über den Platz und durch die städtischen Anlagen.
»Hier muß irgendwo die Daphne indica stehen«, sagte Pat.
»Ja, man riecht sie schon von weitem über den Rasen her. Ganz deutlich. Oder nicht?«
Sie sah mich an. »Doch«, sagte sie.
»Sie muß aufgeblüht sein. Man riecht sie jetzt durch die ganze Stadt.« Ich blickte vorsichtig nach rechts und links, ob irgendwo eine leere Bank wäre. Aber es mußte wohl an der Daphne indica liegen oder am Sonntag oder an uns — ich fand keine. Alle waren besetzt. Ich sah auf die Uhr. Es war schon nach zwölf. »Komm«, sagte ich, »wir gehen zu mir — da sind wir für uns.«
Sie antwortete nicht, aber wir gingen zurück. Am Friedhof sahen wir etwas Unerwartetes. Die Heilsarmee hatte Verstärkung herangezogen. Vier Reihen tief stand jetzt der Chor. Nicht nur Schwestern, auch zwei Reihen Brüder in Uniform waren da. Nicht mehr zweistimmig schrill, sondern vierstimmig wie eine Orgel klang der Gesang. Im Walzertakt brauste es über die Grabsteine: »Himmlisches Jerusalem...«
Von der Opposition war nichts mehr zu hören. Sie war weggefegt. »Beharrlichkeit«, sagte mein Rektor Hillermann immer schon, »Beharrlichkeit und Fleiß sind besser als Zuchtlosigkeit und Genie...«
Ich schloß die Tür auf. Einen Augenblick überlegte ich. Dann knipste ich das Licht an. Der Schlauch des Korridors gähnte gelb und scheußlich. »Mach die Augen zu«, sagte ich leise zu Pat, »der Anblick ist nur für abgebrühte Nerven.« Ich nahm sie mit einem Ruck hoch und ging langsam mit einem gewöhnlichen Schritt, als wäre ich allein, vorbei an Koffern und Gaskochern, bis zu meinem Zimmer.
»Schauerlich, was?« sagte ich verlegen und starrte auf die Plüschgarnitur, die sich uns entgegenbreitete. Ja, jetzt fehlten mir die Brokatstücke Frau Zalewskis — der Teppich, die Hassesche Lampe — »Es ist gar nicht so schauerlich«, sagte Pat.
»Doch, doch«, erwiderte ich und ging zum Fenster. »Aber die Aussicht ist wenigstens schön. Vielleicht rücken wir die Sessel ans Fenster.«
Pat ging im Zimmer umher. »Es ist gar nicht schlimm. Vor allem ist es wunderbar warm.«
»Frierst du?«
»Ich habe es gern warm«, sagte sie und hob ein wenig die Schultern.
»Ich mag Kälte und Regen nicht. Ich kann sie auch nicht vertragen.«
»Himmel — und wir haben die ganze Zeit draußen im Nebel gesessen...«
»Um so besser ist es jetzt hier...«
Sie dehnte sich und ging wieder mit ihren schönen Schritten durchs Zimmer. Ich war sehr befangen und sah mich rasch um. — Gottlob, es lag nicht viel umher. Meine zerrissenen Hausschuhe schubste ich mit einer Fußdrehung nach hinten unters Bett.
Pat stand vor dem Kleiderschrank und schaute hinauf. Oben lag ein alter Koffer, den Lenz mir geschenkt hatte. Er war bunt beklebt mit Zetteln von seinen Abenteurerfahrten. »Rio de Janeiro...«, las sie, »Manáos — Santiago — Buenos Aires — Las Palmas...«
Sie schob den Koffer zurück und kam auf mich zu. »Da bist du überall schon gewesen?«
Ich murmelte irgend etwas. Sie nahm meinen Arm. »Komm, erzähl mir davon, erzähl mir von all diesen Städten, es muß doch herrlich gewesen sein, so weit zu reisen...«
Und ich? Ich sah sie vor mir, schön, jung, voll Erwartung, ein Schmetterling, verflogen durch einen glücklichen Zufall in mein abgebrauchtes, schäbiges Zimmer, in mein belangloses, sinnloses Leben, bei mir und doch nicht bei mir — ein Atemzug nur, und er konnte sich heben und wieder davonfliegen — scheltet mich, verdammt mich, ich konnte es nicht, ich konnte nicht nein sagen, nicht sagen, daß ich nie dagewesen war, jetzt nicht...
Wir standen am Fenster, der Nebel drängte und quoll gegen die Scheiben — und ich spürte: Hinter ihm lauert es wieder, das Verschwiegene, Verborgene, Vergangene, die feuchten Tage des Grauens, die Öde, der Schmutz, die Fetzen verwesten Daseins, die Ratlosigkeit, die verirrte Kraftmeierei eines ziellos abschnurrenden Lebens — aber hier, vor mir im Schatten, bestürzend nahe, der leise Atem, die unfaßbare Gegenwart, Wärme, klares Leben —, ich mußte es halten, ich mußte es gewinnen — »Rio...« sagte ich — »Rio de Janeiro — ein Hafen wie ein Märchen. In sieben Bogen schwingt das Meer um die Bucht, und die Stadt steigt weiß und flimmernd darüber auf...« Ich begann zu erzählen von heißen Städten und endlosen Ebenen, von den gelben Schlammfluten der Flüsse, von schimmernden Inseln und Krokodilen, von den Wäldern, die die Straßen fressen, vom Schrei der Jaguare nachts, wenn der Flußdampfer durch den Brodem von Vanille, Schwüle, Orchideenduft, Verwesung und Dunkel gleitet, ich hatte das alles von Lenz gehört, aber jetzt schien es mir fast, als wäre ich es selbst gewesen, so wunderlich mischten sich Erinnerung und Sehnsucht danach mit dem Wunsch, zu dem geringen und dunklen Wirrwarr meines Lebens etwas Glanz hinzuzutun, um nicht dieses unbegreiflich schöne Gesicht vor mir zu verlieren, diese jähe Hoffnung, dieses beglückende Blühen, für das ich allein viel zuwenig war. Später konnte ich das alles einmal erklären, später, wenn ich mehr war, wenn alles sicherer war, später, aber nicht jetzt — »Manáos«, sagte ich. »Buenos Aires«, und jedes Wort war Bitte und Beschwörung.
Nacht. Draußen begann es zu regnen. Die Tropfen fielen weich und zärtlich. Sie klatschten nicht mehr wie vor einem Monat, als sie nur die Äste der Linden trafen — jetzt rauschten sie leise herab in die jungen nachgebenden Blätter, sie drängten sich an sie und rannen an ihnen herunter, ein mystisches Fest und ein geheimnisvolles Fließen zu den Wurzeln, von denen sie wieder aufsteigen würden, um selbst Blätter zu werden, die den Regen wieder erwarteten in den Nächten des Frühjahrs.
Es war still geworden. Der Lärm der Straße war verstummt — eine einsame Laterne flackerte auf dem Bürgersteig. Die zarten Blätter der Bäume, von unten beschienen, sahen fast weiß aus, durchsichtig beinahe. Die Wipfel waren schimmernde, helle Segel.
»Horch, der Regen, Pat...«
»Ja...«
Sie lag neben mir. Ihr Haar hob sich dunkel von den

weißen Kissen ab. Das Gesicht erschien sehr bleich unter dem Düster des Haares. Eine Schulter war hochgeschoben, sie glänzte von irgendeinem Licht wie matte Bronze, und ein schmaler Streifen Licht fiel auch auf ihren Arm. »Sieh nur«, sagte sie und hob auch die Hände hinein.
»Ich glaube, es kommt von der Laterne draußen«, sagte ich.
Sie richtete sich auf. Jetzt war auch ihr Gesicht im Licht, das lief über die Schultern und die Brust, gelb, wie der Schein von Wachskerzen, es veränderte sich, floß zusammen, wurde zu Orange, blaue Kreise flirrten hindurch, und dann stand plötzlich ein warmes Rot hinter ihr wie eine Gloriole, glitt höher und wanderte langsam über die Decke des Zimmers.
»Es ist die Zigarettenreklame von drüben.«
»Siehst du, wie schön dein Zimmer ist.«
»Es ist schön, weil du da bist. Es wird jetzt auch nie mehr das Zimmer von früher sein — weil du hiergewesen bist.«
Sie kniete im Bett, ganz von fahlem Blau umweht. »Aber...« sagte sie, »ich werde doch noch oft hier sein — oft.«
Ich lag still da und sah sie an. Ich sah alles wie durch einen weichen, klaren Schlaf, entspannt, gelöst, ruhig und sehr glücklich. »Wie schön du so bist, Pat! Viel schöner als in allen Kleidern.«
Sie lächelte und beugte sich zu mir herunter. »Du mußt mich sehr lieben, Robby. Ich weiß nicht, was ich machen soll ohne Liebe!«
Ihre Augen hielten mich fest. Ihr Gesicht war dicht über mir. Es war bewegt, ganz aufgeschlossen, voll leidenschaftlicher Kraft. »Du mußt mich festhalten«, flüsterte sie, »ich brauche jemand, der mich festhält. Ich falle sonst. Ich habe Angst.«
»Du siehst nicht so aus, als ob du Angst hättest«, erwiderte ich.
»Doch. Ich tue nur so. Ich habe oft Angst.«
»Ich werde dich schon festhalten«, sagte ich, immer noch in diesem unwirklichen Traumwachen, diesem verschwebenden hellen Schlaf.
»Ich werde dich schon richtig festhalten, Pat. Du wirst dich wundern.« Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. »Wirklich?«
Ich nickte. Ihre Schultern leuchteten grün wie in tiefem Wasser. Ich ergriff ihre Hände und zog sie zu mir herab — eine Welle, eine leuchtende, atmende, weiche Woge, die anstieg und alles verlöschte.
Sie schlief in meinem Arm. Ich erwachte oft und sah sie an. Ich dachte, die Nacht könne nie zu Ende gehen. Wir trieben irgendwo, jenseits der Zeit. Es war alles so schnell gekommen, ich begriff es noch gar nicht. Ich begriff noch gar nicht, daß mich ein Mensch lieben konnte. Ich verstand wohl, daß ich für einen Mann ein ganz guter Kamerad sein konnte; aber ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb eine Frau mich lieben sollte. Ich dachte, daß es wohl nur diese Nacht sein würde, und glaubte, beim Erwachen würde es vorbei sein.
Die Dunkelheit wurde grau. Ich lag ganz still. Mein Arm unter Pats Kopf war eingeschlafen, ich konnte nichts mehr fühlen. Aber ich rührte mich nicht. Erst als sie sich im Schlaf umdrehte und sich gegen das Kissen drückte, konnte ich ihn wegnehmen. Ich stand ganz leise auf und putzte mir geräuschlos die Zähne und rasierte mich. Ich nahm auch etwas Kölnisch Wasser und rieb es mir auf das Haar und in den Nacken. Es war sonderbar, so lautlos in dem grauen Zimmer, mit den Gedanken, und draußen den dunklen Umrissen der Bäume. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß Pat die Augen offen hatte und mich betrachtete. Ich hielt inne. »Komm«, sagte sie.
Ich ging zu ihr und setzte mich auf das Bett. »Ist alles noch wahr?« sagte ich.
»Weshalb fragst du?«
»Ich weiß nicht. Weil es Morgen ist, vielleicht?«
Es wurde heller. »Du mußt mir jetzt meine Sachen geben«, sagte sie. Ich nahm die dünne Seidenwäsche vom Boden auf. Sie war leicht und so wenig. Ich hielt sie in der Hand. Schon das war ganz anders, dachte ich. Wer so etwas trug, mußte schon ganz anders sein. Nie würde ich ihn begreifen, nie.
Ich gab ihr die Sachen. Sie legte mir den Arm um den Nacken und küßte mich. Dann brachte ich sie nach Hause. Wir sprachen nicht mehr viel. Wir gingen nebeneinander her in der silbrigen Frühe. Die Milchwagen ratterten über das Pflaster, und die Zeitungen wurden ausgetragen. Ein alter Mann saß vor einem Hause und schlief. Sein Kinn zitterte, als sei es nicht mehr fest. Radfahrer mit Brötchenkörben fuhren vorüber. Das warme frische Brot roch über die Straße. Hoch über uns zog ein Flieger durch den blauen Himmel.
»Heute?« fragte ich Pat vor der Haustür.
Sie lächelte. »Um sieben?« fragte ich.
Sie sah gar nicht müde aus. Sie war frisch, als hätte sie lange geschlafen. Sie küßte mich zum Abschied. Ich blieb vor dem Hause stehen, bis ich sah, daß in ihrem Zimmer das Licht anging.
Dann ging ich zurück. Unterwegs fiel mir vieles ein, was ich ihr hätte sagen sollen, viele schöne Worte. Ich wanderte durch die Straßen und dachte daran, was ich alles hätte sagen und tun können, wenn ich nicht so gewesen wäre, wie ich war. Dann ging ich zu den Markthallen. Die Wagen mit Gemüse, Fleisch und Blumen waren schon da. Ich wußte, daß man hier für den gleichen Preis dreimal soviel Blumen bekam wie in den Läden. Ich kaufte für alles Geld, das ich noch bei mir hatte, Tulpen. Sie sahen herrlich aus, ganz frisch, mit Wassertropfen in den Kelchen. Ich bekam einen großen Arm voll. Die Verkäuferin versprach mir, sie um elf Uhr zu Pat zu schicken. Sie lachte mich an, als sie es versprach, und legte noch einen dicken Busch Veilchen dazu.
»Mindestens vierzehn Tage wird die Dame ihre Freude daran haben«, sagte sie. »Nur ab und zu eine Pyramiden ins Wasser tun.«
Ich nickte und gab ihr das Geld. Dann ging ich langsam nach Hause.

11

X

Der Ford stand fertig in der Werkstatt. Neue Arbeit war nicht hereingekommen. Wir mußten etwas unternehmen. Köster und ich gingen auf eine Auktion. Wir wollten ein Taxi kaufen, das dort versteigert wurde. Taxis waren immer ziemlich gut weiterzuverkaufen.
Das Versteigerungslokal war in einem Hinterhaus im Norden der Stadt. Außer dem Taxi wurde noch ein Haufen anderer Dinge verauktioniert. Ein Teil der Sachen stand auf dem Hof. Betten, wackelige Tische, ein vergoldeter Käfig mit einem Papagei, der »Grüß Gott, Liebling!« rief, eine Standuhr, Bücher, Schränke, ein alter Frack, Küchenstühle, Geschirr — das ganze Elend zerbröckelnden, untergehenden Daseins.
Es war noch zu früh, als wir ankamen; der Auktionator war noch nicht da.
Ich kramte zwischen den ausgestellten Sachen umher und sah mir ein paar von den Büchern an — zerlesene billige Exemplare griechischer und lateinischer Klassiker mit vielen handschriftlichen Notizen am Rande. Auf den verschossenen, zerblätterten Seiten standen nicht mehr die Verse von Horaz und die Lieder Anakreons — auf ihnen stand nur noch der Schrei der Not und der Hilflosigkeit eines verlorenen Lebens. Wer diese Bücher besessen hatte, dem waren sie Zuflucht gewesen, und er hatte sie behalten bis zuletzt, und wer sie hergegeben hatte, hierher, der war am Ende.
Köster blickte mir über die Schulter. »Traurig, so was, wie?« Ich nickte und zeigte auf die anderen Sachen. »Das auch, Otto. Zum Spaß werden Küchenstühle und Kleiderschränke nicht hierhergebracht.«
Wir gingen zu dem Wagen, der in der Ecke des Hofes stand. Die Lackierung war abgewetzt und verbraucht, aber der Wagen war sauber, auch unter den Kotflügeln. Ein untersetzter Mann mit herabhängenden, breiten Händen stand in der Nähe und schaute uns stumpf an.
»Hast du die Maschine untersucht?« fragte ich Köster.
»Gestern«, sagte er. »Ziemlich ausgeleiert, aber tadellos gepflegt.«
Ich nickte. »Sieht auch so aus. Der Wagen ist heute morgen noch gewaschen worden, Otto. Das hat der Auktionsfritze sicher nicht getan.«
Köster schüttelte den Kopf und sah zu dem untersetzten Mann hinüber. »Es wird der Besitzer sein. Er stand gestern auch hier und putzte den Wagen.«
»Verdammt«, sagte ich, »der Mann sieht aus wie ein überfahrener Hund.«
Ein junger Mann kam quer über den Hof auf den Wagen zu. Er trug einen Mantel mit einem Gürtel und war unangenehm forsch. »Das ist ja wohl der Schlitten«, sagte er halb zu uns, halb zu dem Mann, und klopfte mit seinem Spazierstock auf die Kühlerhaube. Ich sah, wie es in den Augen des Mannes zuckte. »Macht nichts, macht nichts«, wehrte der Gürtelmann großzügig ab, »der Lack ist sowieso keine fünf Groschen mehr wert. Ehrwürdige Klamotte. Müßte eigentlich ins Museum, was?« Er lachte mächtig über seinen Witz und sah uns beifallsfreudig an. Wir lachten nicht mit. Er wandte sich an den Besitzer.
»Was wollen Sie denn für den Großvater haben?«
Der Mann schluckte und schwieg. »Alteisenwert, was?« meckerte der Jüngling in strahlender Laune und drehte sich wieder zu uns herüber. »Die Herren haben auch Interesse?«
Mit gesenkter Stimme: »Könnten Kippe vereinbaren. Wagen für Appel und Ei einsteigern und Profit teilen. Wozu den Leuten da unnötig Geld in den Hals schmeißen! Übrigens Guido Thieß von der Augeka.«
Er wirbelte seinen Bambusstock und zwinkerte uns vertraulich überlegen zu. Für diesen fünfundzwanzigjährigen Wurm gibt's keine Geheimnisse, dachte ich ärgerlich, weil mir der schweigsame Mann neben dem Wagen leid tat, und sagte: »Sie müßten anders als Thieß heißen.«
»Nanu«, meinte er geschmeichelt. Er war scheinbar Komplimente für seine Tüchtigkeit gewöhnt.
»Jawohl«, fuhr ich fort, »Rotznase müßten Sie heißen. Guido Rotznase!«
Er prallte zurück. »Nu ja«, meinte er schließlich, »zwei gegen einen...«
»Wenn's das ist«, sagte ich, »ich geh' mit Ihnen auch allein, wohin Sie wollen.«
»Danke«, erwiderte Guido frostig, »danke wirklich!« und zog sich zurück.
Der untersetzte Mann mit dem verstörten Gesicht stand da, als ginge ihn alles nichts an, und starrte auf den Wagen.
»Wir sollten ihn nicht kaufen, Otto«, sagte ich.
»Dann kauft ihn dein Gürteltier Guido«, erwiderte Köster. »Wir können dem Mann nicht helfen.«
»Stimmt«, sagte ich. »Aber trotzdem — es hängt was dran.«
»Wo hängt heute nichts dran, Robby? Glaube mir: für den Mann drüben ist es sogar besser, daß wir hier sind. Er kriegt so vielleicht ein bißchen mehr für den Wagen. Aber ich verspreche dir: wenn das Gürteltier nicht bietet, tu ich's auch nicht.«
Der Auktionator kam. Er war eilig, er hatte anscheinend viel zu tun. Jeden Tag gab es ja Dutzende von Auktionen. Mit runden Gesten begann er den armseligen Kram zu versteigern. Er hatte den gußeisernen Humor und die Sachlichkeit eines Mannes, der täglich mit dem Elend zu tun hat, ohne selbst davon berührt zu werden.
Die Sachen gingen für Pfennige weg. Ein paar Händler kauften das meiste. Sie hoben nur nachlässig einen Finger, wenn der Auktionator einen Blick zu ihnen hinüberwarf, oder schüttelten den Kopf. Aber dem Blick des Auktionators folgten manchmal ein Paar andere Augen — aus einem verhärmten Frauengesicht, Augen, die zu den Fingern der Händler aufsahen wie zu einem Gebot Gottes —, voll Hoffnung und Angst. Auf das Taxi boten drei Leute — als erster Guido — dreihundert Mark. Ein Schandgebot. Der untersetzte Mann war herangekommen. Er bewegte lautlos die Lippen. Es sah aus, als wolle er mitbieten. Aber die Hand sank herab. Er trat zurück.
Das nächste Gebot war vierhundert Mark. Guido ging auf vierhundertfünfzig. Es entstand eine Pause. Der Auktionator bot herum — »keiner mehr — zum ersten — zum zweiten...«
Der Mann am Taxi stand mit aufgerissenen Augen und gesenktem Kopf da, als erwarte er einen Schlag ins Genick.
»Tausend«, sagte Köster. Ich sah ihn an. »Ist ja drei wert«, murmelte er. »Kann nicht sehen, wie der da abgeschlachtet wird.«
Guido machte uns verzweifelte Zeichen. Er hatte die Rotznase vergessen, als es ums Geschäft ging. »Elfhundert«, meckerte er und klapperte uns mit beiden Augenlidern zu.
Hätte er am Hintern noch eins gehabt, er hätte auch mit dem geklappert.
»Fünfzehnhundert«, sagte Köster.
Der Auktionator geriet in Schwung. Er tanzte mit seinem Hammer umher wie ein Kapellmeister. Das waren andere Zahlen als zwei Mark, zwei Mark fünfzig vorhin.
»Fünfzehnhundertzehn«, erklärte Guido schwitzend.
»Achtzehnhundert«, sagte Köster.
Guido deutete an seine Stirn und gab es auf. Der Auktionator hopste. Ich dachte plötzlich an Pat. »Achtzehnhundertfünfzig«, sagte ich, ohne es recht zu wollen.
Köster drehte erstaunt den Kopf. »Die fünfzig tu ich dazu«, sagte ich rasch. »Es ist für irgendwas — zur Vorsicht.«
Er nickte.
Der Auktionator schlug uns den Wagen zu. Köster bezahlte sofort.
»So was!« sagte Guido, der es sich doch nicht verkneifen konnte und herangekommen war, als wäre nichts gewesen. »Für tausend Mark hätten wir die Kiste haben können. Den Dritten hätten wir sofort 'rausgeblufft.«
»Grüß Gott, Liebling«, schrie eine blecherne Stimme hinter ihm.
Es war der Papagei, der in seinem goldenen Käfig jetzt drankam.
»Rotznase«, fügte ich hinzu. Guido verschwand achselzuckend.
Ich ging zu dem Mann, dem der Wagen gehörte. Eine blasse Frau stand jetzt bei ihm. »Ja...« sagte ich. »Weiß schon...«, erwiderte er.
»Hätten es lieber nicht gemacht«, sagte ich. »Aber Sie hätten nur weniger gekriegt.«
Er nickte und arbeitete an seinen Händen herum. »Der Wagen ist gut«, sagte er plötzlich rasch, sich überstürzend, »der Wagen ist gut, er ist das Geld wert, ganz bestimmt, Sie haben ihn nicht überzahlt, es lag nicht an dem Wagen, ganz gewiß nicht, es ist — es war...«
»Weiß schon«, sagte ich.
»Von dem Geld kriegen wir nichts«, sagte die Frau. »Geht alles wieder weg.« — »Wird schon wieder werden, Mutter«, sagte der Mann. »Wird schon wieder werden.«
Die Frau erwiderte nichts. »Beim Schalten kratzt er vom ersten auf den zweiten Gang«, sagte der Mann, »aber das ist kein Defekt. Er hat's schon gemacht, als er neu war.« Er stand da, als rede er von einem Kinde. »Drei Jahre haben wir ihn schon, und nie war was dran. Es ist nur — erst war ich krank und dann hat mich einer 'reingelegt — ein Freund...«
»Ein Lump«, sagte die Frau mit hartem Gesicht. »Laß man, Mutter«, sagte der Mann und sah sie an, »ich komme schon wieder hoch. Nicht, Mutter?«
Die Frau antwortete nicht. Der Mann war naß vor Schweiß. »Geben Sie mir Ihre Adresse«, sagte Köster, »vielleicht brauchen wir mal jemand zum Fahren.«
Der Mann schrieb eifrig mit seinen schweren, ehrlichen Händen. Ich sah Köster an; wir wußten beide, daß es ein Wunder sein müßte, wenn es was würde. Und Wunder gab's nicht mehr. Höchstens nach unten.
Der Mann redete und redete, wie im Fieber. Die Auktion war aus. Wir standen allein auf dem Hof. Er gab uns Ratschläge für den Winter mit dem Anlasser. Er faßte den Wagen immer wieder an. Dann wurde er still. »Nun komm, Albert«, sagte die Frau.
Wir gaben ihm die Hand, Sie gingen. Wir warteten, bis sie weg waren. Dann ließen wir den Wagen an.
Unter der Durchfahrt sahen wir eine kleine alte Frau. Sie trug den Papageienkäfig in den Armen und wehrte sich gegen ein paar Kinder. Köster hielt an. »Wo wollen Sie hin?« fragte er sie.
»Du liebe Zeit, ich habe kein Geld für Droschkefahren«, erwiderte sie.
»Brauchen Sie auch nicht«, sagte Otto. »Ich habe Geburtstag und fahre heute umsonst.«
Mißtrauisch hielt sie den Käfig fest. »Nachher kostet's doch was.«
Wir beruhigten sie, und sie stieg ein.
»Wozu haben Sie denn den Papagei gekauft, Mutter?« fragte ich, als sie ausstieg.
»Für abends«, sagte sie. »Glauben Sie, daß das Futter teuer ist?«
»Nein«, sagte ich, »aber wieso für abends?«
»Er kann doch sprechen«, erwiderte sie und sah mich mit ihren hellen alten Augen an. »Dann ist doch einer da, der redet.«
»Ach so...«, sagte ich.

Nachmittags kam der Bäckermeister, um seinen Ford abzuholen. Er sah grau und verbittert aus. Ich war allein auf dem Hof. »Gefällt Ihnen die Farbe?« fragte ich.
»Ja, schon«, sagte er und sah den Wagen unschlüssig an.
»Das Verdeck ist sehr schön geworden.«
»Gewiß...«
Er stand herum und schien sich nicht entschließen zu können, abzufahren. Ich erwartete, daß er noch irgendwas umsonst einzuhandeln versuchen würde, einen Wagenheber, einen Aschenbecher oder etwas Ähnliches.
Aber es kam anders. Er schnaufte eine Weile herum, sah mich dann aus seinen rotgeäderten Augen an und sagte: »Wenn man so denkt — da hat sie nun vor ein paar Wochen noch gesund und munter drin gesessen...«
Ich war etwas erstaunt, ihn so plötzlich weich zu sehen, und vermutete, daß ihm das flinke schwarze Luder, das er zuletzt bei sich gehabt hatte, bereits auf die Nerven ging. Ärger macht ja die Leute leichter sentimental als Liebe.
»War eine gute Frau«, fuhr er fort, »eine Seele von Frau. Nie verlangte sie was. Zehn Jahre lang hat sie denselben Mantel getragen. Blusen und so was schneiderte sie sich alles selbst. Und das Haus machte sie ganz allein — ohne Mädchen.«
Aha, dachte ich, das machte die Neue wahrscheinlich alles nicht. Der Bäcker begann sich auszusprechen. Er erzählte mir, wie sparsam die Frau gewesen sei. Es war merkwürdig, wie gerührt die Erinnerung an gespartes Geld diesen versoffenen Kegelbruder machte. Nicht einmal richtig fotografieren hätte sie sich lassen, es sei ihr zu teuer gewesen. So hätte er nur ein Bild von der Hochzeit und ein paar kleine Momentaufnahmen von ihr.
Das brachte mich auf einen Gedanken. »Sie sollten sich ein schönes Bild von Ihrer Frau malen lassen«, sagte ich. »Dann haben Sie für immer was. Fotografien verbleichen mit der Zeit. Es gibt hier einen Künstler, der das macht.«
Ich erklärte ihm Ferdinand Graus Tätigkeit. Er wurde sofort mißtrauisch und meinte, das sei wohl sehr teuer. Ich beruhigte ihn — wenn ich mitginge, bekäme er einen Sonderpreis. Er versuchte, sich zu drücken. Aber ich ließ ihn nicht los und erklärte, wenn er so an der Frau hinge, dürfe ihm das nicht zuviel sein. Schließlich war er bereit. Ich rief Ferdinand Grau an und sagte ihm Bescheid. Dann fuhr ich mit dem Bäckermeister los, um die Fotografien der Frau abzuholen.
Die schwarze Person stürzte uns aus dem Laden entgegen. Sie umkreiste den Ford. »Rot wäre schöner gewesen, Puppi!
Aber du mußtest natürlich deinen Kopf durchsetzen.«
»Nu laß mal«, sagte Puppi verdrossen.
Wir gingen in die gute Stube hinauf. Die Schwarze folgte uns. Ihre flinken Augen waren überall. Der Bäcker wurde nervös. Er wollte vor ihren Augen die Fotografien nicht suchen. »Laß uns mal allein«, sagte er schließlich grob.
Herausfordernd mit den Brüsten unter dem straff gezogenen Jumper wippend, drehte sie sich heraus. Der Bäcker holte aus einem grünen Plüschalbum ein paar Bilder hervor und zeigte sie mir. Die Frau als Braut, er daneben mit hochgewichstem Schnurrbart, da lachte sie noch — dann ein anderes, auf dem sie schmal, verarbeitet, mit ängstlichen Augen auf der Kante eines Stuhles saß. Nur zwei kleine Bilder — aber ein ganzes Leben. »Das geht«, sagte ich. »Danach kann er alles machen.«

Ferdinand Grau empfing uns in einem Gehrock. Er sah würdig und feierlich aus. Das gehörte zu seinem Geschäft. Er wußte, daß vielen Trauernden der Respekt vor ihrem Schmerz wichtiger war als der Schmerz selbst.
An den Wänden des Ateliers hingen einige stattliche Ölporträts in goldenen Rahmen; darunter die kleinen dazugehörigen Fotografien. Jeder Kunde konnte dadurch sofort sehen, was selbst aus einer verwischten Momentaufnahme zu machen war. Ferdinand führte den Bäckermeister herum und fragte ihn, welche Art ihm am besten gefiele. Der Bäcker fragte zurück, ob die Preise sich nach der Größe richteten. Ferdinand erklärte, es ginge nicht nach dem Quadratmeter, sondern nach der Ausführung. Darauf gefiel dem Bäcker das größte am besten.
»Sie haben einen guten Geschmack«, lobte Ferdinand, »das Bild ist ein Porträt der Prinzessin Borghese. Es kostet achthundert Mark. Mit Rahmen.«
Der Bäcker zuckte zusammen. »Und ohne Rahmen?«
»Siebenhundertzwanzig.« Der Bäcker bot vierhundert Mark.
Ferdinand schüttelte den Löwenschädel. »Für vierhundert Mark können Sie höchstens ein Kopfbild im Profil haben. Aber nicht ein Kniestück en face. Das ist doppelte Arbeit.« Der Bäcker meinte, ein Kopfbild im Profil genüge. Ferdinand machte ihn darauf aufmerksam, daß beide Fotos von vorn aufgenommen seien. Danach könne selbst Tizian kein Profilbild malen. Der Bäcker schwitzte; man sah ihm die Verzweiflung darüber an, damals beim Fotografieren nicht umsichtig genug gewesen zu sein. Er mußte zugeben, daß Ferdinand recht hatte — en face mußte er ein halbes Gesicht mehr malen als im Profil. Der höhere Preis war gerechtfertigt. Er schwankte mächtig. Ferdinand war bis dahin ziemlich zugeknöpft gewesen; jetzt begann er zu überreden. Sein mächtiger Baß rollte gedämpft durchs Atelier. Als Fachmann mußte ich sagen, daß er ein tadelloses Stück Arbeit leistete. Der Bäcker war auch bald reif — besonders, als Ferdinand ihm die Wirkung eines so pompösen Bildes auf übelwollende Nachbarn ausmalte.
»Gut«, sagte er, »aber zehn Prozent Rabatt bei Barzahlung.«
»Einverstanden«, erwiderte Ferdinand, »zehn Prozent Rabatt, und als Anzahlung für meine Auslagen, Farben und Leinwand, dreihundert Mark.«
Sie redeten noch eine Zeitlang hin und her, dann wurden sie einig und besprachen die Ausführung. Der Bäcker wollte eine Perlenkette und eine goldene Brosche mit Diamanten extra dazu gemalt haben. Sie waren auf den Fotos nicht zu sehen.
»Selbstverständlich«, erklärte Ferdinand, »der Schmuck Ihrer Gattin wird mitgemalt. Am besten ist, Sie bringen ihn mir einmal für eine Stunde her, damit er möglichst naturgetreu wird.«
Der Bäcker wurde rot. »Ich habe ihn nicht mehr da. Er ist — ich habe ihn bei Verwandten.« »Ach so. Na, dann geht es auch so. Sah die Brosche ähnlich aus wie die auf dem Bilde drüben?«
Der Bäcker nickte. »Nicht ganz so groß.«
»Schön. Dann werden wir sie so machen. Die Kette brauchen wir ohnehin nicht. Perlen sehen ja alle ähnlich aus.« Der Bäcker atmete auf. »Und wann ist das Bild fertig?« »In sechs Wochen.« »Gut.« Der Bäcker verabschiedete sich.
Ferdinand und ich saßen noch eine Weile allein im Atelier.
»Sechs Wochen brauchst du dazu?« fragte ich.
»Ach wo. Vier, fünf Tage; das kann ich dem aber doch nicht sagen, sonst rechnet er aus, was ich pro Stunde verdiene, und fühlt sich betrogen. Bei sechs Wochen ist er zufrieden. Ebenso wie bei der Prinzessin Borghese. Das ist die menschliche Natur, lieber Robby. Würde ich ihm sagen, es sei ein Nähmädchen, so wäre ihm sein Bild weniger wert. Es ist übrigens das sechstemal, daß verstorbene Frauen den gleichen Schmuck gehabt haben wie drüben auf dem Bild. So spielt der Zufall. Ein fabelhaft anregendes Reklamestück, das Porträt der guten Luise Wolff.«
Ich sah mich um. Von den Wänden starrten aus unbeweglichen Gesichtern Augen herab, die längst im Grabe moderten. Es waren Bilder, die von den Angehörigen nicht abgenommen oder nicht bezahlt worden waren. Alles Menschen, die einmal gehofft und geatmet hatten. »Macht dich das hier nicht allmählich melancholisch, Ferdinand?«
Er zuckte die Achseln. »Nein, höchstens zynisch. Melancholisch wird man, wenn man über das Leben nachdenkt — zynisch, wenn man sieht, wie die meisten damit fertig werden.«
»Na, bei manchen geht's doch auch tiefer...«
»Gewiß. Aber die lassen keine Bilder malen.«
Er stand auf. »Ist auch ganz gut so, Robby, daß sie immer noch ihren wichtigen Kleinkram haben, der sie hält und schützt. Alleinsein — richtig Alleinsein, ohne jede Illusion —, das kommt kurz vor Wahnsinn und Selbstmord.«
Der große kahle Raum schwamm im halben Dämmerlicht. Nebenan hörte man leise Schritte hin und her gehen. Es war die Haushälterin. Sie ließ sich nie sehen, wenn einer von uns da war. Sie haßte uns, weil sie glaubte, wir hetzten Grau gegen sie auf.
Ich ging. Unten kam der Schwall und Lärm der Straße mir wie ein warmes Bad entgegen.

12

XI

Ich war unterwegs zu Pat. Es war das erstemal, daß ich sie besuchte. Bisher war sie immer nur bei mir gewesen, oder ich hatte sie vor ihrem Haus abgeholt, und wir waren irgendwohin gegangen. Aber das war stets so gewesen, als ob sie nur zu Besuch da war. Ich wollte mehr von ihr wissen. Ich wollte wissen, wie sie lebte.
Mir fiel ein, daß ich ihr Blumen mitbringen könnte. Das war leicht; die städtischen Anlagen hinter dem Rummelplatz standen in voller Blüte. Ich sprang über das Gitter und begann einen weißen Fliederbusch zu plündern.
»Was machen Sie da?« erscholl plötzlich eine markige Stimme. Ich sah auf. Ein Mann mit einem Burgundergesicht und aufgezwirbeltem weißen Schnurrbart starrte mich entrüstet an. Kein Polizist und kein Parkwächter. Höheres pensioniertes Militär, das erkannte man sofort.
»Das ist doch nicht schwer festzustellen«, erwiderte ich höflich. »Ich breche hier Fliederzweige ab.«
Dem Mann verschlug es einen Moment die Sprache. »Wissen Sie nicht, daß das städtische Anlagen sind?« knurrte er dann empört.
Ich lachte. »Natürlich weiß ich das! Oder glauben Sie, ich hielte das hier für die Kanarischen Inseln?«
Der Mann wurde blau. Ich fürchtete, der Schlag würde ihn treffen. »Sofort 'raus da, Kerl!« schrie er mit erstklassiger Kasernenhofstimme. »Sie vergreifen sich an städtischem Gut! Ich lasse Sie abführen!«
Ich hatte inzwischen genug Flieder. »Dann fang mich mal, Großvater!« forderte ich den Alten auf, sprang nach der andern Seite übers Gitter und entschwand.

Vor dem Hause Pats musterte ich noch einmal meinen Anzug. Dann stieg ich die Treppe hinauf und sah mich um. Das Haus war neu und modern gebaut — ein starker Gegensatz zu meiner verwohnten, pompösen Baracke. Die Treppen waren mit einem roten Läufer belegt; das gab es bei Mutter Zalewski auch nicht. Vom Fahrstuhl gar nicht zu reden.
Pat wohnte im zweiten Stock. An der Tür war ein selbstbewußtes Messingschild angebracht: Egbert von Hake, Oberstleutnant. Ich starrte es lange an. Unwillkürlich rückte ich dann meinen Schlips zurecht, bevor ich klingelte.
Ein Mädchen mit weißem Häubchen und blütenweißer Tändelschürze öffnete — nicht in einem Atem zu nennen mit unserm schielenden Trampel Frida. Mir wurde plötzlich unbehaglich zumute. »Herr Lohkamp?« fragte sie.
Ich nickte.
Sie führte mich über einen kleinen Vorplatz und öffnete dann eine Zimmertür. Ich wäre nicht besonders erstaunt gewesen, wenn dort zunächst einmal Oberstleutnant Egbert von Hake in voller Uniform gestanden und mich einem Verhör unterzogen hätte — so seriös wirkten die Bilder von einer Anzahl Generälen, die, ordenbedeckt, grimmig von den Wänden des Vorzimmers mir Zivilisten nachsahen. Aber da kam Pat mir schon entgegen mit ihren schönen, langen Schritten, und das Zimmer war plötzlich nichts als eine Insel von Wärme und Heiterkeit. Ich schloß die Tür und nahm sie zuerst einmal vorsichtig in die Arme. Dann übergab ich ihr den gestohlenen Flieder. »Hier«, sagte ich. »Mit einem Gruß von der Stadtverwaltung!«
Sie stellte die Zweige in eine große, helle Tonvase, die auf dem Boden vor dem Fenster stand. Ich sah mich unterdessen in ihrem Zimmer um. Weiche gedämpfte Farben, wenige alte schöne Möbel, ein mattblauer Teppich, pastellfarbene Vorhänge, bequeme kleine Sessel, mit verblichenem Samt gepolstert. — »Mein Gott, wie hast du nur so ein Zimmer gefunden, Pat?« fragte ich. »Die Leute stellen doch sonst nur ihre ausrangierten Brocken und die unbrauchbaren Geburtstagsgeschenke in Zimmer, die sie vermieten.«
Sie schob die Vase mit den Blumen behutsam zur Seite an die Wand.
Ich sah ihren schmalen, gebogenen Nacken, die geraden Schultern und die etwas zu dünnen Arme. Sie sah aus wie ein Kind, während sie kniete, ein Kind, das man beschützen mußte. Aber sie hatte die Bewegungen eines geschmeidigen Tieres, und als sie sich dann aufrichtete und sich an mich lehnte, da war sie kein Kind mehr, da hatten ihre Augen und ihr Mund wieder etwas von der fragenden Erwartung und dem Geheimnis, das mich verwirrte und von dem ich geglaubt hatte, daß es das nicht mehr gäbe in dieser dreckigen Welt.
Ich legte die Hand um ihre Schulter. Es war schön, sie so zu fühlen. »Es sind alles meine eigenen Sachen, Robby. Die Wohnung hat früher meiner Mutter gehört. Als sie starb, habe ich sie abgegeben und zwei Zimmer für mich behalten.«
»Dann gehört sie also dir?« fragte ich erleichtert. »Und der Oberstleutnant Egbert von Hake wohnt nur bei dir zur Miete?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich konnte sie nicht behalten. Ich habe die übrigen Möbel verkauft und die Wohnung ganz abgegeben. Ich wohne jetzt hier zur Miete.
Aber was hast du mit dem alten Egbert?«
»Nichts. Ich habe nur eine natürliche Scheu vor Polizisten und Stabsoffizieren. Das stammt noch aus meiner Militärzeit.«
Sie lachte. »Mein Vater war auch Major.«
»Major ist gerade die Grenze«, erwiderte ich.
»Kennst du denn den alten Hake?« fragte sie.
Ich wurde plötzlich von einer bösen Ahnung erfaßt. »Ist es so ein Kleiner, Strammer, mit einem roten Gesicht, einem weißen Schnauzbart und einer mächtigen Stimme? Einer, der viel in den städtischen Anlagen spazierengeht?«
»Aha!« Sie blickte auf den Flieder und sah mich dann lachend an.
»Nein, es ist ein Großer, Blasser mit einer Hornbrille!«
»Dann kenne ich ihn nicht.«
»Willst du ihn kennenlernen? Er ist sehr nett.«
»Da sei Gott vor! Ich gehöre einstweilen mehr auf die Monteur- und die Zalewskiseite.«
Es klopfte. Das Mädchen von vorhin schob einen niedrigen, fahrbaren Tisch herein. Dünnes, weißes Porzellan, eine Silberplatte mit Kuchen, eine andere mit belegten, unwahrscheinlich kleinen Brötchen, Servietten, Zigaretten und was weiß ich sonst noch — wie geblendet starrte ich darauf nieder. »Erbarme dich, Pat!« sagte ich dann. »Das ist ja wie im Film! Ich habe schon auf der Treppe gemerkt, daß wir auf verschiedenen sozialen Stufen stehen. Bedenke, daß ich gewöhnt bin, aus fettigem Papier auf der Zalewskischen Fensterbank zu essen, den braven Spirituskocher treu neben mir. Erbarme dich über den Bewohner liebloser Pensionen, wenn er in seiner Verwirrung vielleicht eine Tasse umschmeißt!«
Sie lachte. »Das darfst du nicht. Deine Ehre als Motorenfachmann erlaubt das nicht. Du mußt geschickt sein.« Sie ergriff den Henkel einer Kanne. »Willst du Tee oder Kaffee?«
»Tee oder Kaffee? Gibt es denn beides?«
»Ja. Sieh hier!«
»Herrlich! Wie in den besten Lokalen! Jetzt fehlt nur noch Musik.« Sie beugte sich zur Seite und knipste ein kleines Kofferradio an, das ich gar nicht gesehen hatte. »Also, was willst du nun, Tee oder Kaffee?«
»Kaffee, einfach Kaffee, Pat. Ich bin vom Lande. Und du?«
»Ich trinke mit dir Kaffee.«
»Aber sonst trinkst du Tee?«
»Ja.«
»Da haben wir es.«
»Ich fange schon an, mich an Kaffee zu gewöhnen. Willst du Kuchen dazu? Oder Brötchen?«
»Beides, Pat. Man muß solche Gelegenheiten ausnutzen. Ich werde nachher auch noch Tee trinken. Ich muß alles versuchen, was es hier bei dir gibt.«
Sie lachte und packte meinen Teller voll. Ich wehrte ab. »Genug, genug! Bedenke, daß wir in der Nähe eines Oberstleutnants sind! Das Militär liebt Mäßigkeit bei den niederen Chargen.«
»Nur im Trinken, Robby. Der alte Egbert ißt selbst leidenschaftlich gern Kuchen mit Schlagsahne.«
»Im Komfort auch«, erwiderte ich. »Den haben sie uns seinerzeit gründlich abgewöhnt.« Ich schob den Tisch auf seinen Gummirädern hin und her. Er reizte dazu. Lautlos rollte er über den Teppich. Ich sah mich um. Alles paßte zueinander. »Ja, Pat«, sagte ich, »so haben unsere Vorfahren nun gelebt!«
Sie lachte. »Was erzählst du da für Geschichten!«
»Das sind keine Geschichten. Das sind Zeitereignisse.«
»Es ist doch nur ein Zufall, daß ich die paar Sachen habe, Robby.«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist kein Zufall. Und es sind auch nicht die Sachen. Es ist das, was dahintersteht. Die Sicherheit. Das verstehst du nicht. Das versteht nur jemand, der nicht mehr dazugehört.«
Sie sah mich an. »Du könntest es doch ebenso haben, wenn du wirklich wolltest.«
Ich nahm ihre Hand. »Ich will aber nicht, Pat, das ist es. Ich würde mir dann vorkommen wie ein Hochstapler. Unsereins lebt am besten immer auf Abbruch. Das ist man nun mal so gewöhnt. Es liegt in der Zeit.«
»Es ist auch sehr bequem.«
Ich lachte. »Vielleicht. Und nun gib mir etwas Tee. Ich möchte ihn mal probieren.«
»Nein«, sagte sie, »wir bleiben beim Kaffee. Aber iß noch etwas. Auch auf Abbruch.«
»Eine gute Idee. Aber rechnet Egbert, der leidenschaftliche Kuchenesser, nicht damit, daß noch etwas zurückkommt?«
»Vielleicht. Aber er soll auch mit der Rache der niederen Chargen rechnen. Das liegt ebenfalls in der Zeit. Iß ihm ruhig alles weg.«
Ihre Augen strahlten, und sie sah herrlich aus. »Du«, sagte ich, »weißt du, wo der Abbruch aber ohne Gnade aufhört?«
Sie antwortete nicht; aber sie sah mich an.
»Bei dir!« sagte ich. »Und jetzt ohne Reue an die Gewehre gegen Egbert!«
Ich hatte mittags nur eine Tasse Bouillon in der Chauffeurkneipe getrunken. Es war deshalb nicht besonders schwer, alles aufzuessen, was da war. Dazu trank ich, ermuntert von Pat, auch die ganze Kanne Kaffee leer.

Wir saßen am Fenster und rauchten. Der Abend stand rot über den Dächern. »Es ist schön bei dir, Pat«, sagte ich. »Ich könnte verstehen, daß man wochenlang keinen Schritt hinaustäte — bis man den ganzen Kram da draußen vergessen hätte.«
Sie lächelte. »Es gab eine Zeit, da konnte ich gar nicht erwarten, hier herauszukommen.«
»Wann denn?«
»Als ich krank war.«
»Das ist was anderes. Was hast du denn gehabt?«
»Nichts sehr Schlimmes. Ich mußte nur liegen. Ich war wohl zu schnell gewachsen und hatte zuwenig zu essen bekommen. Im Krieg und nach dem Krieg gab's ja nicht viel.«
Ich nickte. »Wie lange hast du denn gelegen?«
Sie zögerte einen Augenblick. »Ungefähr ein Jahr.«
»Das ist aber sehr lange.« Ich sah sie aufmerksam an.
»Es ist jetzt längst vorbei. Aber damals erschien es mir wie ein ganzes Leben. Du hast mir in der Bar einmal von deinem Freunde Valentin erzählt. Daß er nie vergessen konnte nach dem Kriege, welch ein Glück es sei, zu leben. Und daß ihm alles andere gleichgültig wurde darüber.«
»Das hast du gut behalten«, sagte ich.
»Weil ich es gut verstehe. Ich kann mich seit damals auch so leicht freuen. Ich glaube, ich bin sehr oberflächlich.«
»Oberflächlich sind nur Leute, die glauben, daß sie es nicht sind.«
»Ich bin es aber bestimmt. Ich habe nicht viel Verständnis für die großen Dinge des Lebens. Nur für die schönen. Dieser Flieder hier macht mich schon glücklich.«
»Das ist keine Oberflächlichkeit — das ist letzte Philosophie.«
»Bei mir nicht. Ich bin oberflächlich und leichtsinnig.«
»Ich auch.«
»Nicht so wie ich. Du hast vorhin etwas von Hochstapelei gesagt. Ich bin ein richtiger Hochstapler.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte ich.
»Ja. Ich müßte schon längst eine andere Wohnung und einen Beruf haben und Geld verdienen. Aber ich habe es immer wieder hinausgeschoben. Ich wollte einmal eine Zeitlang so leben, wie ich es mir dachte. Ganz gleich, ob es vernünftig war. Und das habe ich getan.«
Ich lachte. »Warum machst du denn so ein trotziges Gesicht dabei?«
»Weil jeder mir gesagt hat, es wäre grenzenlos leichtsinnig — ich solle mein bißchen Geld lieber sparen und mir Arbeit und Stellung suchen. Aber ich wollte einmal leicht und froh und nicht bedrückt sein und tun, was ich wollte. Es war nach dem Tode meiner Mutter und nachdem ich so lange gelegen hatte.«
»Hast du Geschwister?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Könnte ich mir auch nicht denken«, sagte ich.
»Findest du auch, daß ich leichtsinnig war?«
»Nein, mutig.«
»Ach, Mut — ich bin nicht sehr mutig. Ich habe manchmal Angst genug dabei gehabt. So wie jemand, der im Theater auf dem falschen Platz sitzt und sich doch nicht wegrührt.«
»Also warst du mutig«, sagte ich. »Mut hat man nur, wenn man auch Angst hat. Außerdem war es vernünftig. Du hättest dein Geld sonst nur verloren. So hast du wenigstens was davon gehabt. Was hast du denn gemacht?«
»Eigentlich nichts. Nur so für mich gelebt.«
»Alle Achtung! Das ist das Exklusivste, was es gibt.«
Sie lächelte. »Es ist jetzt bald vorbei damit. Ich werde nächstens anfangen zu arbeiten.«
»Was denn? War das etwa damals deine geschäftliche Besprechung mit Binding?«
Sie nickte. »Mit Binding und Doktor Max Matuscheit, Direktor der Elektro-Grammophonläden. Verkäuferin mit Musikkenntnissen.«
»Na«, sagte ich, »was anderes konnte dem Binding wohl nicht einfallen.«.
»Doch«, erwiderte sie, »aber das wollte ich nicht.«
»Das möchte ich ihm auch nicht raten. Wann soll das denn losgehen?«
»Am ersten August.«
»Na, bis dahin ist ja noch viel Zeit. Vielleicht finden wir da noch etwas anderes. Auf jeden Fall: unsere Kundschaft ist dir sicher.«
»Hast du denn ein Grammophon?«
»Nein, aber ich werde mir selbstverständlich sofort eins anschaffen. Vorläufig gefällt mir die Geschichte allerdings noch nicht.«
»Mir schon«, sagte sie. »Ich kann ja nichts Rechtes. Und so was ist alles viel einfacher für mich, seit du da bist. Aber ich hätte dir gar nichts davon erzählen sollen.«
»Doch. Du mußt mir immer alles erzählen.«
Sie sah mich einen Augenblick an. »Gut, Robby«, sagte sie. Dann stand sie auf und ging zu einem Schränkchen. »Weißt du, was ich hier habe? Rum für dich. Guten Rum, glaube ich.«
Sie stellte ein Glas auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an.
»Der Rum ist gut, das rieche ich schon von weitem«, sagte ich. »Aber eigentlich, Pat — solltest du nicht lieber ein bißchen sparen, jetzt? Um die Grammophonplatten noch etwas hinauszuschieben?«
»Nein«, erwiderte sie. — »Auch richtig«, sagte ich.
Der Rum war, das sah ich schon an der Farbe, Verschnitt. Der Händler hatte Pat bestimmt betrogen. Ich trank das Glas aus. »Höchste Klasse«, sagte ich, »gib mir noch einen.
Wo hast du ihn her?«
»Aus dem Geschäft an der Ecke.«
Aha, dachte ich, natürlich so ein verdammter Delikatessenladen. Ich nahm mir vor, gelegentlich mal 'reinzusehen und dem Mann Bescheid zu sagen.
»Jetzt muß ich wohl gehen, Pat, was?« fragte ich.
Sie sah mich an. »Noch nicht...«
Wir standen am Fenster. Unten flammten die Lichter auf. »Zeig mir einmal dein Schlafzimmer«, sagte ich.
Sie machte die Tür auf und knipste das Licht an. Ich blieb an der Tür stehen und sah hinein. Mir ging allerlei durch den Kopf. »Das ist also dein Bett, Pat...«, sagte ich schließlich.
Sie lächelte. »Wem soll es denn sonst gehören, Robby?«
»Wahrhaftig!« Ich blickte auf. »Und, da ist ja auch das Telefon. Nun weiß ich das auch. Jetzt werde ich gehen. Leb wohl, Pat.«
Sie legte ihre Hände um meine Schläfen. Es wäre wunderbar gewesen, jetzt dazubleiben, im hereinbrechenden Abend, dicht beieinander, unter der weichen, blauen Decke im Schlafzimmer — aber es war etwas da, was mich abhielt. Es war keine Hemmung, auch keine Angst und keine Vorsicht — es war einfach nur eine sehr große Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die das Begehren überschwemmte.
»Leb wohl, Pat«, sagte ich. »Es war schön bei dir. Viel schöner für mich, als du dir vielleicht denken kannst. Und das mit dem Rum — daß du daran gedacht hast...«
»Aber das war doch so einfach...«
»Für mich nicht. Bin es nicht so gewöhnt.«

Die Zalewskische Bude. Ich saß eine Weile herum. Es gefiel mir nicht, daß Pat Binding etwas verdanken sollte. Schließlich ging ich über den Korridor zu Erna Bönig.
»Ich komme seriös«, sagte ich. »Wie steht's mit dem weiblichen Arbeitsmarkt, Erna?«
»Nanu«, erwiderte sie, »was für eine Frage so kalt vor die nüchterne Brust! Im übrigen: oberfaul.«
»Nichts zu machen?« fragte ich.
»Worin denn?«
»Sekretärin, Assistentin...«
Sie winkte ab. »Hunderttausend ohne Stellung. Kann die Dame irgendwas Besonderes?«
»Sie sieht großartig aus«, sagte ich.
»Wieviel Silben?« fragte Erna.
»Was?«
»Wieviel Silben schreibt sie in der Minute? In wieviel Sprachen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich, »aber wissen Sie, so zur Repräsentation...«
»Mein lieber Junge«, erwiderte Erna, »ich höre schon — Dame aus guter Familie, früher bessere Tage gesehen, ist gezwungen, und so weiter. Hoffnungslos, sage ich Ihnen. Höchstens, daß jemand sich besonders dafür interessiert und sie deshalb irgendwo hineinschiebt. Sie wissen ja, warum. Aber das wollen Sie doch nicht?«
»Komische Frage«, sagte ich.
»Weniger komisch, als Sie ahnen«, erwiderte Erna etwas bitter. »Ich kenne andere Fälle.« Mir fiel die Sache mit ihrem Chef ein. »Aber ich will Ihnen einen Rat geben«, fuhr sie fort. »Sehen Sie zu, daß Sie für zwei verdienen. Das ist die einfachste Lösung. Heiraten.«
»Das wäre so was«, sagte ich und lachte. »So viel Zutrauen möchte ich mal zu mir haben.«
Erna sah mich sonderbar an. Sie erschien bei aller Lebendigkeit plötzlich älter und fast etwas welk. »Ich will Ihnen mal was erzählen«, sagte sie. »Ich lebe gut und habe allerhand, das ich gar nicht brauche. Aber glauben Sie mir — wenn einer käme und mir vorschlüge, zusammen zu leben, so richtig, ehrlich, ich ließe den ganzen Kram hier und zöge mit ihm in eine Dachkammer, wenn's sein müßte.« Ihr Gesicht bekam den früheren Ausdruck wieder. »Na, Schwamm drüber — jeder Mensch hat seine Ecke Sentimentalität.« Sie blinzelte mir durch den Rauch ihrer Zigarette zu. »Sogar Sie anscheinend?«
»Ach wo...«, sagte ich.
»Na, na...«, meinte Erna. »Wenn man's gar nicht erwartet, erwischt's einen am leichtesten...«
»Mich nicht«, erwiderte ich.
Bis acht Uhr hielt ich es in meiner Bude noch aus — dann hatte ich genug davon, allein herumzusitzen, und ging in die Bar, um irgend jemand zu treffen.
Valentin war da. »Setz dich«, sagte er. »Was willst du trinken?«
»Rum«, erwiderte ich. »Habe zu Rum seit heute ein besonderes Verhältnis.«
»Rum ist die Milch des Soldaten«, sagte Valentin. »Siehst übrigens gut aus, Robby.«
»So?«
»Ja, jünger.«
»Auch was«, sagte ich. »Prost, Valentin.«
»Prost, Robby.«
Wir stellten die Gläser auf den Tisch und sahen uns an. Dann mußten wir gleichzeitig lachen. »Alter Junge«, sagte Valentin.
»Verfluchter Salzknabe«, erwiderte ich. »Was trinken wir jetzt?«
»Dasselbe noch mal.«
»Schön.«
Fred schenkte ein. »Also prost, Valentin.«
»Prost, Robby.«
»Herrliches Wort — prost, was?«
»Das Wort der Wörter.«
Wir sagten es noch einigemal. Dann brach Valentin auf.

Ich blieb sitzen. Es war außer Fred niemand mehr da. Ich betrachtete die alten beleuchteten Landkarten, die Schiffe mit ihren vergilbten Segeln und dachte an Pat. Ich hätte sie gern angerufen, aber ich zwang mich, es nicht zu tun. Ich wollte auch nicht soviel an sie denken. Ich wollte sie nehmen als ein unerwartetes, beglückendes Geschenk, das gekommen war und wieder gehen würde — nicht mehr. Ich wollte nie dem Gedanken Raum geben, daß es mehr sein könnte. Ich wußte zu sehr, daß alle Liebe den Wunsch nach Ewigkeit hatte und daß darin ihre ewige Qual lag. Es gab nichts, was blieb. Nichts. »Gib mir noch ein Glas, Fred«, sagte ich.
Ein Mann und eine Frau kamen herein. Sie tranken einen Cobbler an der Bar. Die Frau sah müde aus, der Mann gierig. Sie gingen bald wieder.
Ich trank das Glas aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich nachmittags nicht zu Pat gegangen wäre. Ich wurde das Bild nicht mehr los — das im Dämmerlicht verschwindende Zimmer, die weichen blauen Schatten des Abends und das zusammengekauerte schöne Mädchen, das mit seiner dunklen, rauhen Stimme von seinem Leben und seinem Wunsch nach dem Leben sprach. Verdammt, ich wurde sentimental! Aber zerrann nicht das, was bisher ein atemloses, überraschendes Abenteuer gewesen war, schon in den Nebel der Zärtlichkeit, hatte es mich nicht schon tiefer ergriffen, als ich wußte und wollte, hatte ich es nicht heute gespürt, gerade heute, wie sehr ich mich schon verändert hatte? Warum war ich fortgegangen, warum war ich nicht bei ihr geblieben, wie ich es eigentlich gewollt hatte? Ach, verflucht, ich wollte nicht mehr daran denken, nicht an das eine und an das andere. Sollte kommen, was wollte, sollte ich meinetwegen verrückt werden vor Unglück, wenn ich sie verlor, sie war da, jetzt war sie da, und alles andere war egal und sollte zum Teufel gehen! Was lag schon daran, das bißchen Leben zu sichern! Eines Tages kam doch die große Flutwelle und riß alles weg.
»Wollen wir einen zusammen trinken, Fred?« fragte ich.
»Immer«, sagte er.
Wir tranken zwei Absinthe. Dann knobelten wir zwei weitere aus. Ich gewann. Es war mir nicht recht. Wir knobelten deshalb weiter. Aber ich verlor erst beim fünften. Da allerdings drei hintereinander. »Bin ich besoffen oder donnert es draußen?« fragte ich.
Fred lauschte. »Es donnert tatsächlich. Das erste Gewitter in diesem Jahr.«
Wir gingen unter die Tür und sahen zum Himmel auf. Es war nichts zu sehen. Es war nur warm, und ab und zu donnerte es.
»Darauf könnten wir eigentlich noch einen nehmen«, schlug ich vor. Fred war auch dafür.
»Ein verdammtes Lakritzenwasser«, sagte ich und stellte das leere Glas wieder auf die Theke. Fred meinte auch, wir könnten nun mal was Herzhaftes trinken. Er meinte, am besten Kirsch — ich sagte Rum. Um uns nicht zu streiten, tranken wir abwechselnd beides. Damit Fred nicht soviel Arbeit mit dem Eingießen hatte, nahmen wir ziemlich große Gläser. Wir waren jetzt in glänzender Stimmung. Ab und zu sahen wir draußen nach, ob es auch blitzte. Wir hätten es ganz gern blitzen sehen, aber wir hatten kein Glück. Es blitzte immer gerade dann, wenn wir drin waren. Fred sagte, daß er eine Braut hätte, die Tochter eines Automatenrestaurantbesitzers. Aber er wollte mit dem Heiraten noch warten, bis der Alte tot wäre, damit er ganz genau wüßte, daß sie das Restaurant mitbekäme. Ich fand ihn etwas vorsichtig, aber er bewies mir, daß der Alte ein unberechenbares Aas sei, das es fertigbrächte, im letzten Augenblick das Restaurant der Methodistengemeinde zu vermachen. Da gab ich nach. Fred war übrigens ziemlich optimistisch. Der Alte hatte sich erkältet, und Fred meinte, vielleicht sei es Grippe, und die wäre doch sehr gefährlich. Ich mußte ihm leider sagen, daß Grippe für Alkoholiker nichts bedeute, im Gegenteil, daß klapprige Säufer manchmal darunter geradezu aufblühten und Speck ansetzten. Fred meinte, es wäre auch egal, vielleicht käme er dann unter irgendein Auto. Ich gab zu, daß besonders auf nassem Asphalt die Möglichkeit bestünde. Fred ging darauf hin und sah nach, ob es schon regnete. Aber es war noch trocken. Es donnerte nur stärker. Ich gab ihm ein Glas Zitronensaft zu trinken und ging zum Telefon. Im letzten Augenblick besann ich mich, daß ich ja nicht telefonieren wollte. Ich winkte dem Apparat zu und wollte meinen Hut vor ihm ziehen. Aber dann merkte ich, daß ich ihn gar nicht aufhatte.
Als ich zurückkam, waren Köster und Lenz da. »Hauch mich mal an«, sagte Gottfried.
Ich hauchte. »Rum, Kirsch und Absinth«, sagte er.
»Absinth, du Ferkel.«
»Wenn du meinst, ich wäre besoffen, irrst du dich«, sagte ich. »Wo kommt ihr her?«
»Aus einer politischen Versammlung. Aber es war Otto zu blöd. Was trinkt Fred denn da?«
»Zitronensaft.«
»Trink auch mal ein Glas.«
»Morgen«, erwiderte ich. »Jetzt werde ich zunächst mal was essen.« Köster hatte mich die ganze Zeit besorgt angesehen. »Sieh mich nicht so an, Otto«, sagte ich, »ich habe mich aus lauter Lebenslust etwas beschwipst. Nicht aus Kummer.«
»Dann ist's gut«, sagte er. »Aber komm trotzdem mit essen.«

Um elf Uhr war ich wieder nüchtern wie ein Knochen. Köster schlug vor, nach Fred zu sehen. Wir gingen hin und fanden ihn wie tot hinter dem Bartisch.
»Bringt ihn nach nebenan«, sagte Lenz, »ich werde solange die Bedienung übernehmen.«
Köster und ich machten Fred wieder munter. Wir gaben ihm warme Milch zu trinken. Die Wirkung war prompt. Wir setzten ihn hinterher auf einen Stuhl und sagten ihm, er solle sich noch eine halbe Stunde ausruhen, Lenz würde vorn schon alles machen.
Gottfried machte es auch. Er kannte sämtliche Preise und die gängigen Cocktailrezepte. Er schwang den Mixbecher, als ob er nie etwas anderes getan hätte.
Nach einer Stunde war Fred wieder da. Er hatte einen ausgepichten Magen und erholte sich schnell. »Tut mir leid, Fred«, sagte ich, »wir hätten vorher etwas essen sollen.«
»Ich bin schon wieder in Ordnung«, erwiderte er. »Tut mal ganz gut.«
»Das auf jeden Fall.« Ich ging zum Telefon und rief Pat an. Es war mir völlig gleichgültig, was ich vorher alles zusammengedacht hatte. Sie meldete sich. »In einer Viertelstunde bin ich vor der Haustür«, rief ich und hängte rasch ab. Ich fürchtete, sie könnte müde sein. Ich wollte nichts davon hören, wollte sie sehen.
Sie kam. Als sie die Haustür aufschloß, küßte ich das Glas da, wo ihr Kopf war. Sie wollte etwas sagen, aber ich ließ sie gar nicht zu Worte kommen. Ich küßte sie, und wir liefen zusammen die Straße hinunter, bis wir ein Taxi fanden. Es donnerte und blitzte. »Rasch, sonst gibt's Regen«, rief ich.
Wir stiegen ein. Die ersten Tropfen klatschten auf das Dach der Droschke. Der Wagen rüttelte auf dem schlechten Pflaster. Es war alles wunderbar, denn bei jedem Rütteln spürte ich Pat. Alles war wunderbar, der Regen, die Stadt, das Trinken, es war alles weit und herrlich. Ich war in der überwachen, hellen Stimmung, in die man kommt, wenn man getrunken und es schon wieder überwunden hat. Die Hemmungen waren fort, die Nacht war voll tiefer Kraft und voll Glanz, nichts konnte mehr geschehen, nichts war mehr falsch.
Der Regen begann, als wir ausstiegen. Während ich zahlte, war das Pflaster noch dunkel gesprenkelt von Tropfen wie ein Panther — aber schon bevor wir die Tür erreichten, war es schwarz und silbern sprühend, so schoß das Wasser herab. Ich machte kein Licht. Die Blitze erleuchteten das Zimmer. Das Gewitter war mitten über der Stadt. Donner rollte in Donner. »Jetzt können wir hier wenigstens einmal schreien«, rief ich Pat zu, »ohne Sorge, daß uns jemand hört!« Das Fenster flammte. Sekundenschnell flog die schwarze Silhouette der Friedhofsbäume vor dem weißblauen Himmel auf und wurde krachend sofort wieder von der Nacht erschlagen — sekundenlang schwebte zwischen Dunkel und Dunkel die biegsame Gestalt Pats phosphoreszierend vor den Scheiben —, ich legte den Arm um ihre Schultern, sie drängte sich an mich, ich fühlte ihren Mund, ihren Atem, ich dachte nichts mehr.

13

XII

Unsere Werkstatt stand immer noch leer wie eine Scheune vor der Ernte. Wir hatten deshalb beschlossen, das Taxi, das wir auf der Auktion gekauft hatten, nicht weiterzuverkaufen, sondern es einstweilen selbst als Taxi zu fahren. Lenz und ich sollten es abwechselnd machen. Köster konnte mit Jupp die Werkstatt ganz gut allein besorgen, bis wieder Arbeit kam.
Lenz und ich würfelten, wer als erster fahren sollte. Ich gewann, steckte mir die Tasche voller Kleingeld, nahm meine Papiere und strich dann mit dem Taxi langsam durch die Straßen, um mir zunächst einmal einen guten Standplatz auszusuchen. Es war etwas merkwürdig, so das erstemal. Jeder Idiot konnte mich anhalten und mir einen Auftrag geben. Das war kein besonders großartiges Gefühl.
Ich suchte mir einen Halteplatz aus, an dem nur fünf Wagen standen. Er war gegenüber dem Hotel Waldecker Hof, mitten im Geschäftsviertel. Das ließ auf raschen Betrieb hoffen. Ich stellte die Zündung ab und stieg aus. Von einem der vorderen Wagen kam ein großer Kerl in einem Ledermantel auf mich zu. »Scher dich hier weg«, knurrte er.
Ich sah ihn ruhig an und rechnete mir aus, daß ich ihn am besten von unten mit einem Uppercut umlegen würde, wenn es sein müßte. Er konnte wegen seines Mantels nicht schnell genug die Arme hochkriegen.
»Nicht kapiert?« forschte der Ledermantel und spuckte mir seine Zigarette vor die Füße. »Sollst dich wegscheren! Sind genug hier! Brauchen keinen mehr!«
Er war ärgerlich über den Zuzug, das war klar; aber es war mein Recht, mich herzustellen. »Ich schmeiße ein paar Runden Einstand«, sagte ich.
Damit wäre die Sache für mich erledigt gewesen. Es war die übliche Art, wenn man neu herankam. Ein junger Chauffeur trat hinzu.
»Schön, Kollege. Laß ihn doch, Gustav...«
Aber Gustav gefiel etwas an mir nicht. Ich wußte, was es war. Er spürte, daß ich neu im Beruf war. »Ich zähle bis drei...«, erklärte er. Er war einen Kopf größer als ich, darauf vertraute er.
Ich merkte, daß mit Reden nicht mehr viel zu machen war.
Ich mußte abfahren oder schlagen. Es war zu deutlich.
»Eins...«, zählte Gustav und knöpfte seinen Mantel auf.
»Mach keinen Unsinn«, sagte ich, um es noch einmal zu versuchen. »Wollen lieber einen Schnaps in die Kehle zischen lassen.«
»Zwei...«, knurrte Gustav.
Ich sah, daß er mich regulär hinschlachten wollte. »Und eins ist...« Er schob seine Mütze zurück.
»Halt's Maul, Idiot!« schnauzte ich plötzlich scharf. Gustav klappte vor Überraschung den Mund auf und trat einen Schritt näher. Genau dahin, wohin ich ihn haben wollte. Ich schlug sofort zu. Es war ein Schlag wie mit einem Hammer, mit dem ganzen Körperschwung. Köster hatte ihn mir beigebracht. Ich konnte nicht besonders boxen; ich hielt es für unnötig — es kam meistens nur auf den ersten Schlag an. Dieser war gut. Gustav sackte weg. »Schadet ihm nichts«, sagte der junge Chauffeur. »Alter Radaubruder.« Wir packten ihn auf den Bock seiner Droschke. »Wird schon wieder zu sich kommen.«
Ich war etwas beunruhigt. In der Eile hatte ich den Daumen beim Schlagen falsch gehalten und ihn mir verstaucht. Wenn Gustav wieder aufwachte, konnte er mit mir machen, was er wollte. Ich sagte es dem jungen Chauffeur und fragte, ob ich nicht lieber abhauen sollte. »Unsinn«, sagte er, »die Sache ist erledigt. Komm jetzt in die Kneipe und schmeiß deinen Einstand. Du bist kein gelernter Chauffeur, was?«
»Nein...«
»Ich auch nicht. Ich bin Schauspieler.«
»Und?«
»Man lebt«, erwiderte er lachend. »Theater ist auch so genug.«
Wir waren zu fünf, zwei ältere und drei junge. Nach einer Weile erschien auch Gustav im Lokal. Er glotzte stier zu unserm Tisch herüber und kam 'ran. Ich faßte mit der linken Hand mein Schlüsselbund in der Tasche und nahm mir vor, mich auf jeden Fall zu wehren, bis ich mich nicht mehr rühren konnte.
Doch es kam nicht dazu. Gustav schob mit dem Fuß einen Stuhl heran und ließ sich mißmutig darauffallen. Der Wirt stellte ein Glas vor ihn hin. Die Runde kam. Gustav schluckte weg. Eine zweite Runde wurde geschmettert. Gustav sah mich schief an. Er hob das Glas.
»Prost«, sagte er zu mir, aber mit einem Gesicht wie Dreck.
»Prost«, erwiderte ich und kippte.
Gustav zog eine Schachtel Zigaretten heraus. Er hielt sie mir hin, ohne mich anzusehen. Ich nahm eine und gab ihm dafür Feuer. Dann bestellte ich eine Lage doppelten Kümmel. Wir tranken sie. Gustav sah mich wieder von der Seite an. »Kaffer«, sagte er, aber im richtigen Ton.
»Mondkalb«, erwiderte ich ebenso.
Er wendete sich mir voll zu. »Der Schlag war gut...«
»Zufall...« Ich zeigte ihm meinen Daumen. »Pech«, erwiderte er grinsend. »Ich heiße übrigens Gustav.«
»Ich Robert.«
»Schön. Also in Ordnung, Robert was? Dachte, du wärst so 'n Bubi von Mamas Schürze.«
»In Ordnung, Gustav.« Von dieser Zeit an waren wir Freunde.

Die Wagen rückten langsam vor. Der Schauspieler, der Tommy genannt wurde, bekam eine glänzende Fuhre zum Bahnhof. Gustav eine zum nächsten Restaurant für dreißig Pfennig. Er platzte fast vor Wut darüber, denn er mußte sich für zehn Pfennig Verdienst nun wieder hinten anstellen. Ich erwischte etwas ganz Seltenes — eine alte Engländerin, die sich die Stadt ansehen wollte. Ich war fast eine Stunde mit ihr unterwegs. Auf der Rückkehr schnappte ich noch ein paar kleinere Sachen. Mittags, als wir alle wieder in der Kneipe saßen und unsere Butterbrote aßen, kam ich mir schon vor wie ein gedienter Chauffeur. Die Sache hatte etwas von der Brüderschaft alter Soldaten an sich. Leute aus allen möglichen Berufen kamen da zusammen. Höchstens die Hälfte war immer dabeigewesen, die andern waren auf irgendeine Weise hineingerutscht.
Ziemlich aufgekratzt fuhr ich nachmittags in den Hof unserer Werkstatt ein. Lenz und Köster erwarteten mich schon.
»Brüder, was habt ihr verdient?« fragte ich.
»Siebzig Liter Benzin«, meldete Jupp.
»Sonst nichts?«
Lenz schaute mit wildem Gesicht zum Himmel auf. »Regnen müßte es! Und dann ein kleiner Zusammenstoß auf dem Rutschasphalt direkt vor der Tür! Keine Verletzten! Nur eine nette, runde Reparatur.«
»Schaut her!« Ich zeigte fünfunddreißig Mark auf der flachen Hand.
»Großartig«, sagte Köster. »Davon sind zwanzig Mark verdient. Die werden wir heute auf den Kopf hauen. Müssen die Jungfernfahrt doch feiern!«
»Wir wollen eine Waldmeisterbowle trinken«, erklärte Lenz.
»Bowle?« fragte ich. »Wozu denn Bowle?«
»Weil Pat mitkommt.«
»Pat?«
»Sperr den Schnabel nicht soweit auf«, sagte der letzte Romantiker, »wir haben alles längst abgemacht. Um sieben holen wir sie ab. Sie weiß Bescheid. Wenn du nicht daran denkst, müssen wir uns eben selbst helfen. Schließlich hast du sie doch durch uns kennengelernt.«
»Otto«, sagte ich, »hast du je etwas Unverfroreneres gesehen als diesen Rekruten?«
Köster lachte. »Was hast du denn an der Hand, Robby? Du hältst sie ja so schief.«
»Verstaucht, glaube ich.« Ich erzählte die Geschichte mit Gustav.
Lenz sah sie sich an. »Natürlich! Als Christ und Student der Medizin im Ruhestand werde ich sie dir massieren, trotz deiner Rüpeleien. Komm mit, du Meisterboxer.«
Wir gingen in die Werkstatt, und Gottfried machte sich mit etwas Öl über meine Hand her. »Hast du Pat gesagt, daß wir unser eintägiges Jubiläum als Taxichauffeure feiern?« fragte ich ihn.
Er pfiff durch die Zähne. »Genierst du dich deswegen, Bursche?«
»Halt den Schnabel!« erwiderte ich. Besonders weil er recht hatte. »Hast du es gesagt?«
»Die Liebe«, erklärte Gottfried ungerührt, »ist etwas Herrliches. Aber sie verdirbt den Charakter.«
»Dafür macht Alleinsein taktlos, du trüber Solist.«
»Takt ist eine stillschweigende Vereinbarung, über gemeinsame Fehler hinwegzusehen, anstatt sich zu läutern. Also eine elende Kompromißhandlung. Dazu gibt sich ein deutscher Veteran nicht her, Baby.«
»Was würdest du denn an meiner Stelle machen«, fragte ich, »wenn jemand dich zu einer Taxifahrt anriefe und du sähest dann, daß es Pat wäre?«
Er schmunzelte. »Ich würde auf keinen Fall Fahrgeld von ihr verlangen, mein Sohn.«
Ich gab ihm einen Stoß, daß er von seinem dreibeinigen Bock fiel. »Du Heuschrecke! Weißt du, was ich tun werde? Ich werde sie heute abend einfach mit dem Taxi abholen.«
»Recht so!« Gottfried hob segnend die Hand. »Nur die Freiheit nicht verlieren! Sie ist kostbarer als die Liebe. Das weiß man aber immer erst hinterher. Das Taxi kriegst du trotzdem nicht. Das brauchen wir für Ferdinand Grau und Valentin. Es wird ein seriöser, aber großer Abend.«

Wir saßen im Garten eines kleinen Wirtshauses vor der Stadt. Der feuchte Mond hing wie eine rote Fackel tief über den Wäldern. Die bleichen Blütenkandelaber der Kastanien schimmerten, der Flieder roch betäubend, und vor uns auf dem Tisch das große Glasgefäß mit dem nach Waldmeister duftenden Wein sah im Ungewissen Licht der frühen Nacht aus wie ein heller Opal, in dem sich bläulich und perlmuttern der letzte Schein des Abends sammelte. Wir hatten es schon zum viertenmal füllen lassen.
Ferdinand Grau führte den Vorsitz. Pat saß neben ihm. Sie trug eine blaßrosa Orchidee, die er ihr mitgebracht hatte.
Ferdinand fischte eine Mücke aus seinem Wein und streifte sie vorsichtig auf den Tisch. »Seht euch das an«, sagte er. »Diese Flügel! Dagegen ist jeder Brokat ein Scheuerlappen! Und so was lebt einen Tag, dann ist es vorbei.« Er schaute uns der Reihe nach an. »Wißt ihr, was das unheimlichste auf der Welt ist, Brüder?«
»Ein leeres Glas«, erwiderte Lenz.
Ferdinand wischte ihn mit einer Handbewegung weg. »Das entehrendste auf der Welt, Gottfried, ist für einen Mann, ein Witzbold zu sein.« Dann wandte er sich uns wieder zu. »Das unheimlichste, Brüder, ist die Zeit. Die Zeit. Der Augenblick, durch den wir leben und den wir doch nie besitzen.«
Er zog seine Uhr aus der Tasche und hielt sie Lenz vor die Augen. »Das hier, du Papierromantiker! Die Höllenmaschine, die tickt und tickt, dem Nichts unaufhaltsam entgegentickt! Du kannst eine Lawine aufhalten, einen Bergrutsch — aber das da nicht.«
»Will ich auch gar nicht«, erklärte Lenz. »Ich will friedlich altern. Und außerdem liebe ich die Abwechslung.«
»Der Mensch erträgt es nicht«, sagte Grau, ohne ihn zu beachten. »Der Mensch kann es auch nicht ertragen. Deshalb hat er sich einen Traum zurechtgemacht. Den alten, rührenden, hoffnungslosen Menschheitstraum Ewigkeit.«
Gottfried lachte. »Die schlimmste Krankheit der Welt, Ferdinand, ist Denken! Sie ist unheilbar.«
»Wenn es die einzige wäre, wärest du unsterblich«, erwiderte Grau. »Du Zusammenballung von Kohlehydraten, Kalk, Phosphor und ein bißchen Eisen, für eine flüchtige Zeit auf Erden Gottfried Lenz genannt.«
Gottfried schmunzelte wohlgefällig. Ferdinand schüttelte den Löwenschädel. »Brüder, das Leben ist eine Krankheit, und der Tod beginnt schon mit der Geburt. Jeder Atemzug und jeder Herzschlag ist schon ein bißchen Sterben — ein kleiner Ruck dem Ende zu.«
»Jeder Schluck auch«, erwiderte Lenz. »Prost, Ferdinand! Manchmal ist das Sterben verdammt leicht.«
Grau hob sein Glas. Über sein großes Gesicht zog ein Lächeln wie ein lautloses Gewitter. »Prost, Gottfried, du munterer Floh auf dem rieselnden Geröll der Zeit. Was mag sich die geisterhafte Kraft, die uns bewegt, gedacht haben, als sie dich schuf?«
»Das soll sie mit sich selbst abmachen. Im übrigen solltest gerade du nicht so abfällig über solche Dinge reden, Ferdinand. Wenn die Menschen ewig wären, würdest du arbeitslos, alter guter Parasit des Todes.«
Graus Schultern begannen zu beben. Er lachte. Dann wandte er sich an Pat. »Was sagen Sie zu uns Schwätzern, kleine Blüte auf den tanzenden Wassern?«

Später ging ich mit Pat allein durch den Garten. Der Mond war höher gestiegen, und die Wiesen schwammen in grauem Silber. Die Schatten der Bäume lagen lang und schwarz darüber wie dunkle Wegweiser ins Ungewisse. Wir gingen bis zum See hinunter und kehrten dann um. Unterwegs trafen wir Gottfried Lenz, der sich einen Gartenstuhl mitgenommen und ihn tief in ein Gebüsch von Fliedersträuchern geschoben hatte. Da saß er nun, und nur sein blonder Schöpf und seine Zigarette leuchteten heraus. Neben sich auf der Erde hatte er ein Glas und den Rest der Maibowle stehen.
»Das ist ein Platz!« sagte Pat. »Mitten im Flieder.«
»Es läßt sich aushalten.« Gottfried stand auf. »Versuchen Sie es mal.« Pat setzte sich auf den Stuhl. Ihr Gesicht schimmerte zwischen den Blüten. »Ich bin verrückt mit Flieder«, sagte der letzte Romantiker. »Heimweh bedeutet für mich Flieder. Im Frühjahr 1924 bin ich einmal Hals über Kopf aus Rio de Janeiro abgereist, nur weil mir einfiel, daß hier der Flieder blühen müsse. Als ich dann ankam, war es natürlich schon viel zu spät.« Er lachte. »So geht es immer.«
»Rio de Janeiro?« Pat zog einen Zweig mit Blüten zu sich herunter. »Waren Sie zusammen da?«
Gottfried stutzte. Mir lief es plötzlich kalt über den Rücken. »Seht mal den Mond!« sagte ich rasch. Gleichzeitig trat ich Lenz beschwörend auf den Fuß.
Im Aufflammen seiner Zigarette sah ich ein schwaches Lächeln und ein Augenblinzeln. Ich war gerettet. »Nein, wir waren nicht zusammen da«, erklärte Gottfried. »Ich war damals allein. Aber wie wäre es mit noch einem letzten Schluck von diesem Waldmeistertrank?«
»Nicht mehr.« Pat schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht soviel Wein trinken.«
Wir hörten Ferdinand nach uns rufen und gingen hinüber.
Er stand massig unter der Tür. »Kommt herein, Kinder«, sagte er. »Nachts haben Menschen wie wir nichts in der Natur zu suchen. Nachts will sie allein sein. Ein Bauer oder ein Fischer, das ist was anderes; aber wir nicht, wir Bewohner von Städten mit unsern abgesäbelten Instinkten.« Er legte Gottfried die Hand auf die Schulter. »Die Nacht ist der Protest der Natur gegen den Aussatz der Zivilisation, Gottfried! Ein anständiger Mensch hält das nicht lange aus. Er merkt, daß er ausgestoßen ist aus dem schweigenden Ring der Bäume, der Tiere, der Sterne und des unbewußten Lebens.« Er lächelte das sonderbare Lächeln, von dem man nie wußte, ob es nicht traurig war. »Kommt herein, Kinder! Wir wollen uns die Hände an Erinnerungen wärmen. Ach, die herrliche Zeit, als wir noch Schachtelhalme und Molche waren, so vor fünfzig-, sechzigtausend Jahren, Gott, wie sind wir seitdem heruntergekommen...«
Er nahm Pat an der Hand. »Wenn wir nicht das bißchen Sinn für Schönheit noch hätten — dann wäre alles verloren.« Mit einer zarten Bewegung seiner riesigen Pranken legte er ihre Hand auf seinen Arm. »Silberne Sternschnuppe über dem sausenden Abgrund — wollen Sie mit einem uralten Manne ein Glas trinken?«
Pat nickte. »Ja«, sagte sie. »Alles, was Sie wollen.«
Beide gingen hinein. So nebeneinander sahen sie aus, als wäre Pat Ferdinands Tochter. Die schlanke, kühne und junge Tochter eines müden Riesen, der aus der Vorzeit übriggeblieben war.

Um elf Uhr fuhren wir zurück. Valentin und Ferdinand hatten das Taxi, das Valentin steuerte. Wir andern fuhren mit Karl. Die Nacht war warm, und Köster machte noch einen Umweg durch ein paar Dörfer, die verschlafen an der Straße lagen mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundegebell. Lenz saß vorne neben Otto und sang, Pat und ich hockten hinten im Wagen.
Köster fuhr wunderbar. Er nahm die Kurven wie ein Vogel. Es wirkte spielerisch, so sicher war es. Er fuhr nicht hart, wie die meisten Rennfahrer. Man hätte schlafen können, wenn er Serpentinen nahm, so ruhig fuhr er den Wagen. Man merkte nie die Geschwindigkeit.
Wir hörten am veränderten Ton der Reifen, wenn das Pflaster wechselte. Auf Teerstraßen pfiffen sie, auf Steinpflaster donnerten sie dumpf. Die Scheinwerfer jagten wie fahle Hetzhunde langgestreckt vor uns her und zerrten aus dem Dunkel eine zitternde Birkenallee heran, eine Pappelreihe, vorüberstürzende Telegrafenstangen, geduckte Häuser und die stumme Parade der Waldränder. Ungeheuer zog über uns, begleitet von tausend Sternen, der helle Rauch der Milchstraße mit.
Das Tempo nahm zu. Ich deckte unsere Mäntel über Pat. Sie lächelte mir zu. »Liebst du mich eigentlich?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Du mich?«
»Nein. Ein Glück, was?«
»Ein großes Glück.«
»Dann kann uns ja nichts passieren, wie?«
»Gar nichts —«, erwiderte sie und faßte unter den Mänteln nach meiner Hand.
Die Straße führte in einem Bogen an den Bahndamm herunter. Die Schienen schimmerten. Weit vor uns schwankte ein rotes Licht. Karl brüllte auf und schoß los. Es war ein Schnellzug mit Schlafwagen und einem hellerleuchteten Speisewagen. Wir holten auf und waren bald auf gleicher Höhe. Aus den Fenstern winkten Leute. Wir winkten nicht zurück. Wir fuhren vorbei. Ich sah mich um. Die Lokomotive sprühte Rauch und Funken. Sie stampfte schwarz in der blauen Nacht. Wir hatten sie überholt — aber wir fuhren in die Stadt, zu Taxis, Reparaturwerkstätten und möblierten Zimmern. Sie jedoch stampfte an den Flanken der Wälder und Felder und Flüsse vorüber in die Ferne und das Abenteuer der Weite.
Straßen und Häuser schwankten heran. Karl wurde leiser, aber sein Röhren war immer noch das eines wilden Tieres.
Köster hielt in der Nähe des Friedhofs. Er fuhr weder zu Pat noch zu mir, hielt einfach irgendwo in der Nähe, er dachte wahrscheinlich, wir wollten allein sein. Wir stiegen aus. Die beiden sausten sofort weiter, ohne sich umzusehen. Ich blickte ihnen nach. Einen Augenblick war das sonderbar. Sie fuhren ab, meine Kameraden fuhren ab, und ich blieb zurück, blieb zurück.
Ich schüttelte es ab. »Komm«, sagte ich zu Pat, die mich ansah, als hätte sie etwas gespürt.
»Fahr mit«, sagte sie.
»Nein«, erwiderte ich.
»Du möchtest doch mitfahren...«
»Ach wo —«, sagte ich und wußte, daß es stimmte. »Komm...«
Wir gingen am Friedhof entlang, noch etwas schwankend vom Wind und vom Fahren. »Robby«, sagte Pat, »ich möchte lieber nach Hause.«
»Warum?«
»Ich will nicht, daß du meinetwegen etwas aufgibst.«
»Was fällt dir ein«, fragte ich, »was gebe ich denn auf?«
»Deine Kameraden...«
»Die gebe ich doch gar nicht auf — die treffe ich ja morgen früh schon wieder.«
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte sie. »Du warst früher viel mehr mit ihnen zusammen.«
»Weil du nicht da warst«, erwiderte ich und schloß die Tür auf.
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist etwas ganz anderes.«
»Natürlich ist es anders. Gott sei Dank.«
Ich nahm sie hoch und trug sie den Korridor entlang in mein Zimmer. »Du brauchst Kameraden«, sagte sie dicht an meinem Gesicht.
»Dich brauche ich auch«, erwiderte ich.
»Aber nicht so nötig...«
»Das werden wir ja noch sehen...«
Ich stieß die Tür auf und ließ sie zu Boden gleiten. Sie hielt mich fest. »Ich bin nur ein sehr schlechter Kamerad, Robby.«
»Das will ich hoffen«, sagte ich. »Ich will auch keine Frau als Kameraden. Ich will eine Geliebte.«
»Bin ich auch nicht«, murmelte sie.
»Was bist du denn?«
»Nichts Halbes und nichts Ganzes. Ein Fragment...«
»Das ist das Beste«, sagte ich. »Das regt die Phantasie an. Solche Frauen liebt man ewig. Fertige Frauen kriegt man leicht über. Wertvolle auch. Fragmente nie.«

Es war vier Uhr nachts. Ich hatte Pat nach Hause gebracht und ging zurück. Der Himmel war schon etwas hell geworden. Es roch nach Morgen.
Ich ging den Friedhof entlang, am Café International vorbei, nach Hause. Da öffnete sich die Tür einer Chauffeurkneipe neben dem Gewerkschaftshaus, und ein Mädchen kam heraus. Eine kleine Kappe, ein schäbiges rotes Mäntelchen, hohe Lackstiefel — ich war schon fast vorbei, da erkannte ich sie — »Lisa...«
»Sieht man dich auch mal wieder?« sagte sie.
»Wo kommst du denn her?« fragte ich.
Sie machte eine Bewegung. »Habe da gewartet. Dachte, du kämst vorbei. Ist ja so die Zeit, wo du nach Hause kommst.« »Ja, richtig...« »Kommst du mit?« fragte sie. Ich zögerte. »Es geht nicht...« »Du brauchst kein Geld«, sagte sie rasch. »Nicht deshalb«, antwortete ich unbedacht, »ich habe Geld.« »Ach so —«, sagte sie bitter und trat einen Schritt zurück. Ich griff nach ihrer Hand. »Nein, Lisa...« Schmal und blaß stand sie auf der leeren, grauen Straße. So hatte ich sie getroffen, vor Jahren, als ich stumpf und allein dahinlebte, ohne Gedanken und ohne Hoffnung. Sie war erst mißtrauisch gewesen, wie alle diese Mädchen, aber dann, als wir ein paarmal miteinander gesprochen hatten, zutraulich und anhänglich. Es war ein sonderbares Verhältnis gewesen — manchmal sah ich sie wochenlang nicht, und dann stand sie plötzlich irgendwo und wartete. Wir hatten beide nichts und niemand um diese Zeit — da war das bißchen Wärme und Beieinandersein, das wir uns geben konnten, für jeden wohl mehr gewesen als sonst. Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen — seit ich Pat kannte, nicht mehr.
»Wo warst du denn so lange, Lisa?«
Sie zuckte die Achseln. »Ist ja egal. Wollte dich nur mal wiedersehen. Na, dann kann ich ja losziehen.«
»Wie geht's dir denn?«
»Laß man —«, sagte sie. »Streng dich nicht an.«
Ihr Mund zitterte. Sie sah verhungert aus. »Ich komme doch noch ein bißchen mit dir«, sagte ich.
Ihr armes, gleichgültiges Hurengesicht belebte sich und wurde kindlich. Ich kaufte unterwegs in einer der Chauffeurkneipen, die die ganze Nacht offen waren, ein paar Kleinigkeiten, damit sie etwas zu essen hatte. Sie wollte anfangs nicht; erst als ich sagte, ich hätte selbst Hunger, gab sie nach. Aber sie achtete darauf, daß ich nicht betrogen wurde und schlechte Stücke erhielt.
Sie wollte auch kein halbes Pfund Schinken; sie meinte, ein viertel wäre genug, wenn wir noch Frankfurter Würstchen nähmen. Aber ich blieb bei dem halben und zwei Büchsen Würstchen.
Sie wohnte in einer Dachkammer, die sie sich etwas eingerichtet hatte. Eine Petroleumlampe stand auf dem Tisch und neben dem Bett, auf einer Flasche, eine Kerze. An den Wänden hingen Bilder, die aus Zeitschriften ausgeschnitten und mit Reißnägeln befestigt waren. Auf der Kommode lagen ein paar Detektivromane; daneben ein Päckchen schweinischer Fotografien. Manche Besucher, besonders verheiratete, wollten so was sehen. Lisa fegte sie in die Schublade und holte ein zerschlissenes, aber sauberes Tischtuch heraus.
Ich packte die Sachen aus. Lisa zog sich inzwischen um. Zuerst zog sie das Kleid aus, obschon ich wußte, daß ihr die Füße am meisten weh taten. Sie mußte ja so viel laufen. Sie stand da, in ihren hohen Lackstiefeln bis zum Knie und in schwarzer Wäsche.
»Wie findest du meine Beine?« fragte sie.
»Klasse, wie immer.«
Sie war zufrieden und setzte sich erleichtert auf das Bett, um die Schuhe loszuschnüren. »Hundertzwanzig Mark kosten die«, sagte sie und hielt sie mir hin. »Bis man das mal verdient hat, sind sie schon wieder in Bruch.«
Sie nahm einen Kimono aus dem Schrank und ein Paar verblichene Brokathalbschuhe aus besseren Tagen. Dabei lächelte sie fast schuldbewußt. Sie wollte gefallen. Es würgte mich plötzlich etwas, so hier oben in der kleinen Bude, als wäre mir jemand gestorben.
Wir saßen, und ich sprach behutsam mit ihr. Aber sie merkte trotzdem, daß sich etwas verändert hatte. Ihre Augen wurden ängstlich. Es war nie mehr zwischen uns gewesen als das, was der Zufall gebracht hatte. Aber vielleicht verpflichtete und band das mehr als vieles andere. »Du gehst?« fragte sie, als ich aufstand — als hätte sie es schon lange gefürchtet.
»Ich habe noch eine Verabredung...«
Sie sah mich an. »So spät?«
»Geschäftlich. Wichtig für mich, Lisa. Muß versuchen, jemand noch zu treffen. Sitzt um diese Zeit gewöhnlich im Astoria.«
Keine Frauen sind verständiger für so was als Mädchen wie Lisa. Aber keiner Frau kann man auch so wenig vorlügen wie ihnen. Lisas Gesicht wurde leer. »Du hast eine andere Frau...«
»Aber Lisa — wir haben uns doch so wenig gesehen — jetzt fast ein Jahr nicht — du kannst dir doch denken...«
»Nein, nein, das meine ich nicht. Du hast eine Frau, die du liebst! Du hast dich verändert. Ich spüre es.«
»Ach, Lisa...«
»Doch, doch. Sag's!«
»Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht...«
Sie stand eine Weile. Dann nickte sie. »Jaja — natürlich — ich bin ja auch dumm — wir haben ja auch gar nichts miteinander...« Sie strich sich über die Stirn. »Ich weiß nicht, wie ich dazu komme...« Ihre schmale Gestalt stand dürftig und zerbrechlich vor mir. Die Brokatschuhe — der Kimono — die langen, leeren Abende, die Erinnerung — »Auf Wiedersehen, Lisa...«
»Du gehst — du bleibst nicht noch etwas? Du gehst — schon?«
Ich wußte, was sie meinte. Aber ich konnte es nicht. Es war merkwürdig, aber ich konnte es nicht, ich spürte das sehr stark. Früher war das nie so gewesen. Ich hatte keine übertriebenen Vorstellungen von Treue. Aber es ging einfach nicht mehr. Ich fühlte plötzlich, wie weit ich von all dem schon weg war.
Sie stand im Türrahmen. »Du gehst...«Sie lief zurück. »Hier, ich weiß, du hast mir Geld hingelegt — unter die Zeitung — ich will es nicht haben — Da — da — ja, geh nur...«
»Ich muß, Lisa.«
»Du kommst nicht wieder...«
»Doch, Lisa...«
»Nein, nein, du kommst nicht wieder — ich weiß es! Du sollst auch nicht wiederkommen! Geh nur, so geh doch...« Sie weinte. Ich ging die Treppe hinunter und sah mich nicht um.

Ich ging noch lange durch die Straßen. Es war eine sonderbare Nacht. Ich war sehr wach und konnte nicht schlafen. Ich ging am International vorbei, ich dachte an Lisa und an die Jahre von früher, an vieles, was ich schon lange vergessen hatte, aber es war weit weg und schien nicht mehr zu mir zu gehören. Dann wanderte ich durch die Straße, wo Pat wohnte. Der Wind wurde stärker, alle Fenster in ihrem Hause waren dunkel, der Morgen schlich auf grauen Füßen die Türen entlang, und ich ging endlich nach Hause. Mein Gott, dachte ich, ich glaube, ich bin glücklich.

14

XIII

»Die Dame, die Sie immer verstecken«, sagte Frau Zalewski, »brauchen Sie nicht zu verstecken. Sie kann ruhig offen zu Ihnen kommen. Sie gefällt mir...«
»Sie haben sie ja noch gar nicht gesehen«, erwiderte ich.
»Beruhigen Sie sich nur, ich habe sie gesehen«, erklärte Frau Zalewski mit Nachdruck. »Ich habe sie gesehen und sie gefällt mir — sehr gut sogar —, aber das ist keine Frau für Sie!«
»So?«
»Nein. Ich hab' mich schon gewundert, wie Sie die in Ihren Kneipen aufgestöbert haben. Aber natürlich, die verbummeltsten...«
»Wir kommen vom Thema«, unterbrach ich sie.
»Das«, sagte sie und stemmte die Arme auf die Hüften, »ist eine Frau für einen Mann in guten, sicheren Verhältnissen. Für einen reichen Mann, mit einem Wort!«
Rums, dachte ich, da hast du ein Ding weg! Genau das, was dir gefehlt hat. »Das können Sie von jeder Frau behaupten«, erklärte ich gereizt.
Sie schüttelte die grauen Löckchen. »Warten Sie ab! Die Zukunft wird mir recht geben.«
»Ach, Zukunft!« Ich warf meine Manschettenknöpfe ärgerlich auf den Tisch. »Wer rechnet heute noch mit Zukunft! Wozu soll man sich darüber jetzt schon Gedanken machen!«
Frau Zalewski wiegte bekümmert das majestätische Haupt. »Merkwürdige Menschen seid ihr jungen Leute alle miteinander. Die Vergangenheit haßt ihr, die Gegenwart verachtet ihr, und die Zukunft ist euch gleichgültig. Wie soll das nur ein gutes Ende nehmen!«
»Was nennen Sie eigentlich ein gutes Ende?« fragte ich. »Ein Ende kann doch nur gut sein, wenn alles vorher schlecht war. Da ist ein schlechtes Ende viel besser.«
»Das sind jüdische Verdrehungen«, erwiderte Frau Zalewski mit Würde und wandte sich entschlossen zur Tür. Aber als sie die Klinke schon in der Hand hatte, blieb sie wie angenagelt noch einmal stehen.
»Smoking?« hauchte sie erstaunt, »Sie?«
Mit großen Augen betrachtete sie den Anzug Otto Kösters, der an der Schranktür hing. Ich hatte ihn mir geliehen, weil ich abends mit Pat ins Theater wollte. »Jawohl, ich!« sagte ich giftig. »Ihre Kombinationsgabe ist unübertrefflich, gnädige Frau...«
Sie sah mich an. Ein ganzes Gewitter von Gedanken ging über ihr dickes Gesicht. Es endete in einem breiten, mitwisserischen Schmunzeln. »Aha!« sagte sie. Und dann noch einmal: »Aha!« Und, schon draußen, über die Schulter hinweg, genießerisch und pfiffig, ganz verklärt, von der ewigen Freude der Frau bei solchen Entdeckungen: »So steht's also!«
»Ja, so steht's, verdammte Hebamme«, knurrte ich hinter ihr her, als ich sicher war, daß sie mich nicht mehr hörte. Dann schmiß ich wütend meine neuen Lackschuhe mitsamt dem Karton auf den Boden. Reicher Mann — als ob ich das nicht wüßte!

Ich holte Pat ab. Sie stand in ihrem Zimmer, fertig angezogen, und wartete schon. Es verschlug mir fast den Atem, als ich sie erblickte. Sie trug zum erstenmal, seit ich sie kannte, ein Abendkleid.
Es war ein Kleid aus silbernem Brokat, das von den geraden Schultern schlank und weich herunterfiel. Es schien eng zu sein und war doch so weit, daß es die schönen langen Schritte Pats nicht hinderte. Vorne war es hochgeschlossen, aber der Rücken war tief in einem spitzen Winkel ausgeschnitten. In der matten blauen Dämmerung wirkte Pat darin wie eine silberne Fackel, jäh und überraschend verändert, festlich und sehr entfernt. Wie ein Schatten tauchte hinter ihr der Geist Frau Zalewskis mit hocherhobenem Finger auf.
»Gut, daß ich dich in dem Kleide nicht kennengelernt habe«, sagte ich. »Nie hätte ich mich an dich herangetraut.«
»Das glaube ich nicht so ohne weiteres, Robby.« Sie lächelte. »Gefällt es dir?«
»Es ist geradezu unheimlich! Du bist eine ganz neue Frau darin.«
»Das ist doch nicht unheimlich. Dazu sind Kleider doch da.«
»Mag sein. Mich schmettert es etwas nieder. Du müßtest dazu einen andern Mann haben. Einen Mann mit viel Geld.«
Sie lachte. »Männer mit viel Geld sind meistens scheußlich, Robby.«
»Aber Geld nicht, was?«
»Nein«, sagte sie, »Geld nicht.«
»Das dachte ich mir.«
»Findest du das denn nicht?«
»Doch«, sagte ich. »Geld macht zwar nicht glücklich — aber es beruhigt außerordentlich.«
»Es macht unabhängig, Liebling, das ist noch mehr. Aber wenn du willst, kann ich auch ein anderes Kleid anziehen.«
»Ausgeschlossen. Es ist prachtvoll. Von heute ab setze ich die Schneider über die Philosophen! Die Leute bringen Schönheit ins Leben. Das ist hundertmal mehr wert als klaftertiefe Gedanken! Paß auf, ich werde mich noch in dich verlieben!«
Sie lachte. Vorsichtig sah ich an mir herunter. Köster war etwas größer als ich, und ich hatte bei der Hose oben mit Sicherheitsnadeln arbeiten müssen, damit sie einigermaßen saß. Gottlob, sie saß.

Wir fuhren in einem Taxi zum Theater. Ich war unterwegs ziemlich schweigsam, ohne recht zu wissen, warum. Als wir ausstiegen und ich bezahlte, sah ich wie unter einem Zwang den Chauffeur an. Er hatte überwachte, rotgeränderte Augen, war unrasiert und sah sehr müde aus. Gleichgültig nahm er das Geld. »Gute Kasse heute gehabt?« fragte ich leise.
Er blickte auf. »Es geht«, sagte er abweisend. Er hielt mich für irgendeinen Neugierigen.
Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, ich müßte mich zu ihm auf den Bock setzen und losfahren — dann drehte ich mich um. Da stand Pat, schmal und biegsam, über dem silbernen Kleid eine kurze silberne Jacke mit weiten Ärmeln, schön und erwartungsvoll. »Komm rasch, Robby, es fängt gleich an!«
Vor dem Eingang stauten sich die Leute. Es war eine große Premiere, das Theater war mit Scheinwerfern bestrahlt, Auto auf Auto glitt heran, Frauen in Abendkleidern stiegen aus, glitzernd von Schmuck, Männer in Fräcken, mit rosig ausgepolsterten Gesichtern, lachend, fröhlich, überlegen, unbedenklich — und knarrend und ächzend rumpelte dazwischen die Droschke mit dem müden Chauffeur davon.
»So komm doch, Robby!« rief Pat und sah mich strahlend und aufgeregt an. »Hast du etwas vergessen?«
Ich warf einen feindseligen Blick auf die Leute ringsum. »Nein —«, sagte ich, »ich habe nichts vergessen.«
Dann ging ich zur Kasse und tauschte die Billetts um. Ich nahm zwei Logenplätze, obschon sie ein Vermögen kosteten. Ich wollte nicht, daß Pat mitten unter diesen sicheren Leuten saß, denen alles selbstverständlich war. Ich wollte nicht, daß sie zu ihnen gehörte. Ich wollte mit ihr allein sein.

Es war lange her, daß ich in einem Theater gewesen war. Ich wäre auch nicht hingegangen, wenn Pat es nicht gewollt hätte. Theater, Konzerte, Bücher — alle diese bürgerlichen Gewohnheiten hatte ich fast verloren. Es war nicht die Zeit danach. Die Politik machte genug Theater — die Schießereien jeden Abend gaben ein anderes Konzert —, und das riesenhafte Buch der Not war eindringlicher als alle Bibliotheken.
Die Ränge und das Parkett waren ganz besetzt. Es wurde sofort dunkel, als wir unsere Plätze gefunden hatten. Nur der Widerschein der Rampenlichter wehte durch den Raum. Voll begann die Musik und hob alles auf, daß es schwebte.
Ich schob meinen Stuhl in die Ecke der Loge zurück. So brauchte ich weder die Bühne noch die bleichen Köpfe der Zuschauer zu sehen. Ich hörte nur die Musik und sah Pats Gesicht.
Die Musik verzauberte den Raum. Sie war wie Südwind, wie eine warme Nacht, wie ein gebauschtes Segel unter Sternen, ganz und gar unwirklich, diese Musik zu »Hoffmanns Erzählungen«. Sie machte alles weit und farbig, der dunkle Strom des Lebens schien in ihr zu rauschen, es gab keine Schwere mehr, keine Grenzen, es gab nur noch Glanz und Melodie und Liebe, und man konnte einfach nicht begreifen, daß draußen Not und Qual und Verzweiflung herrschten, zur gleichen Zeit, wo es diese Musik gab.
Pats Gesicht war geheimnisvoll vom Licht der Bühne beschienen. Sie war ganz hingegeben, und ich liebte sie, weil sie sich nicht an mich lehnte und nicht nach meiner Hand griff, ja, mich nicht einmal ansah, sondern gar nicht an mich zu denken und mich ganz vergessen zu haben schien. Ich haßte es, wenn man die Dinge vermischte, ich haßte dieses kuhhafte Zueinanderstreben, wenn die Schönheit und die Gewalt eines großen Werkes über einen hereinbrach, ich haßte die schwimmenden Blicke der Liebespaare, dieses stumpfselige Sichanschmiegen, dieses unanständige Schafsglück, das nie über sich hinaus ergriffen werden konnte, ich haßte dieses ganze Gerede vom Einswerden in der Liebe, denn ich fand, man konnte gar nicht genug zwei sein und sich gar nicht oft genug voneinander entfernen, um sich wieder zu begegnen. Nur wer immer wieder allein war, kannte das Glück des Beieinanderseins. Alles andere zerstörte das Geheimnis der Spannung. Und was riß stärker in die magischen Bezirke der Einsamkeit als der Aufruhr des Gefühls, die Hingabe an eine Erschütterung, die Gewalt der Elemente, der Sturm, die Nacht, die Musik? Und die Liebe.

Das Licht flammte auf. Ich schloß einen Augenblick die Augen. Woran hatte ich da nur gedacht? Pat wandte sich um. Ich sah, daß die Leute zu den Türen drängten. Es war große Pause.
»Willst du nicht hinausgehen?« fragte ich.
Pat schüttelte den Kopf.
»Gott sei Dank! Ich hasse es, sich da draußen gegenseitig zu beglotzen.«
Ich machte mich auf, um ihr ein Glas Orangensaft zu holen. Das Büfett war stark belagert. Musik macht viele Leute merkwürdig hungrig. Die warmen Würstchen verschwanden, als wäre der Hungertyphus ausgebrochen.
Als ich mit meinem Glas in der Loge ankam, stand jemand hinter Pats Stuhl. Sie hatte den Kopf zurückgewendet und sprach lebhaft mit ihm. »Das ist Herr Breuer, Robert«, sagte sie. Herr Ochse, dachte ich, und sah ihn mißvergnügt an. Robert hatte sie gesagt, nicht Robby. Ich stellte das Glas auf die Brüstung und wartete darauf, daß der Mann ging. Er hatte einen fabelhaft geschnittenen Smoking an. Aber er schwätzte von der Regie und der Besetzung und blieb. Pat wandte sich mir zu. »Herr Breuer hat gefragt, ob wir nachher nicht in die Kaskade gehen wollen.«
»Wenn du gern möchtest«, sagte ich.
Herr Breuer erklärte, man könne vielleicht etwas tanzen. Er war sehr höflich und gefiel mir eigentlich ganz gut. Er hatte nur diese unangenehme Eleganz und Leichtigkeit, von der ich glaubte, daß sie auf Pat wirken müsse, und die ich selbst nicht besaß. Plötzlich — ich traute meinen Ohren nicht — hörte ich, daß er Pat mit du ansprach. Obschon es hundert belanglose Gründe dafür gab, hätte ich den Mann am liebsten in den Orchesterraum geworfen.
Es klingelte. Die Musiker stimmten die Instrumente. Die Geigen huschten Flageolettläufe. »Also abgemacht, wir treffen uns am Ausgang«, sagte Breuer und ging endlich.
»Was ist das für ein Strolch?« fragte ich. »Das ist kein Strolch, das ist ein netter Mensch. Ein alter Bekannter.«
»Gegen alte Bekannte habe ich was«, sagte ich.
»Liebling«, erwiderte Pat, »hör lieber zu.«
Kaskade, dachte ich und überschlug mein Geld, verfluchte Neppbude! — Ich ging in einer finsteren Neugier mit. Dieser Breuer hatte mir zu Frau Zalewskis Unkenrufen noch gefehlt. Er wartete schon auf uns am Eingang.
Ich rief ein Taxi an. »Lassen Sie doch«, sagte Breuer, »mein Wagen hat Platz genug.«
»Gut«, sagte ich. Es wäre lächerlich gewesen, etwas anderes zu machen. Aber es ärgerte mich trotzdem.
Pat kannte Breuers Wagen. Es war ein großer Packard. Er stand schräg gegenüber auf dem Parkplatz. Sie ging geradewegs darauf zu.
»Er ist ja anders lackiert«, sagte sie und blieb vor ihm stehen.
»Ja, grau«, erwiderte Breuer. »Gefällt er dir so besser?«
»Viel besser.«
Breuer wandte sich an mich. »Und Ihnen? Mögen Sie die Farbe?«
»Ich weiß ja nicht, wie er früher war«, sagte ich.
»Schwarz.«
»Schwarz sieht sehr gut aus.«
»Gewiß. Aber Abwechslung muß auch mal sein! Na, zum Herbst gibt's einen neuen.«
Wir fuhren zur Kaskade. Das war ein sehr elegantes Tanzlokal mit einer ausgezeichneten Kapelle. »Scheint ganz besetzt zu sein«, sagte ich erfreut, als wir am Eingang standen.
»Schade«, sagte Pat.
»Ach, das machen wir schon«, erklärte Breuer und verhandelte mit dem Geschäftsführer. Er schien hier gut bekannt zu sein, denn tatsächlich bekamen wir einen Tisch herangebracht, ein paar Stühle dazu, und ein paar Minuten später saßen wir an der besten Stelle des ganzen Raumes, von der man die Tanzfläche voll übersehen konnte. Die Kapelle spielte einen Tango. Pat lehnte sich über die Brüstung.
»Ach, ich habe schon lange nicht getanzt.«
Breuer stand auf. »Wollen wir?«
Sie sah mich strahlend an. »Ich werde inzwischen was bestellen«, sagte ich.
»Gut.«
Der Tango dauerte lange. Pat sah beim Tanzen ab und zu herüber und lächelte mir zu. Ich nickte zurück, fühlte mich aber nicht besonders. Sie sah wunderbar aus und tanzte großartig. Leider tanzte Breuer ebenfalls gut, und beide sahen ausgezeichnet zusammen aus. Sie tanzten, als ob sie schon oft miteinander getanzt hätten. Ich bestellte mir einen großen Rum. Die beiden kamen zurück. Breuer begrüßte ein paar Leute, und ich war einen Augenblick mit Pat allein.
»Wie lange kennst du den Knaben schon?« fragte ich.
»Schon lange. Warum?«
»Ach, nur so. Warst du oft mit ihm hier?«
Sie sah mich an. »Ich weiß es nicht mehr, Robby.«
»Das weiß man doch«, sagte ich hartnäckig, obschon ich wußte, was sie damit meinte.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. Ich liebte sie sehr in diesem Augenblick. Sie wollte mir zeigen, daß alles vergessen sei, was gewesen war. Aber in mir bohrte etwas, das ich selbst lächerlich fand und das ich trotzdem nicht los wurde. Ich stellte mein Glas auf den Tisch.
»Kannst es ruhig sagen. Ist ja nichts dabei.«
Sie sah mich wieder an. »Glaubst du, daß wir sonst hier wären?« fragte sie.
»Nein«, sagte ich beschämt.
Die Kapelle begann wieder zu spielen. Breuer kam heran.
»Ein Blues«, sagte er zu mir. »Wunderbar. Wollen Sie ihn nicht tanzen?«
»Nein!« erwiderte ich. — »Schade.«
»Du solltest es einmal versuchen, Robby«, sagte Pat.
»Lieber nicht.«
»Aber warum denn nicht?« fragte Breuer.
»Ich mache mir nichts draus«, erwiderte ich unfreundlich. »Habe es auch nie gelernt. Keine Zeit dafür gehabt. Aber tanzen Sie doch ruhig, ich unterhalte mich hier schon.«
Pat zögerte. »Aber Pat —«, sagte ich, »es macht dir doch so viel Spaß.«
»Das schon — aber unterhältst du dich auch wirklich?«
»Und wie!« Ich zeigte auf mein Glas. »Das ist auch eine Art von Tanzen.«
Sie gingen. Ich winkte dem Kellner und trank mein Glas aus. Dann saß ich am Tisch herum und zählte die Salzmandeln. Neben mir saß der Schatten Frau Zalewskis.
Breuer brachte ein paar Leute mit an den Tisch. Zwei hübsche Frauen und einen jüngeren Mann, der einen ganz kahlen, kleinen Kopf hatte. Nachher kam noch ein vierter dazu. Alle leicht wie Kork, geschmeidig und sicher. Pat kannte sie alle vier.
Ich fühlte mich schwer wie ein Klotz. Bisher war ich mit Pat immer allein gewesen. Zum erstenmal sah ich jetzt Leute, die sie von früher her kannte. Ich konnte nichts mit ihnen anfangen. Sie bewegten sich leicht und ungezwungen, sie kamen aus einem Leben, in dem alles glattging, in dem man nichts sah, was man nicht sehen wollte, sie kamen aus einer anderen Welt. Wäre ich allein dagewesen, oder mit Lenz oder Köster, ich hätte mich gar nicht darum gekümmert und es wäre mir egal gewesen. Aber Pat war dabei, Pat kannte sie, und dadurch wurde alles schief, es legte mich lahm und zwang mich zu vergleichen.
Breuer schlug vor, in ein anderes Lokal zu gehen. »Robby«, sagte Pat im Hinausgehen, »wollen wir nicht lieber nach Hause gehen?«
»Nein«, sagte ich, »wozu?«
»Es ist doch langweilig für dich.«
»Nicht die Spur. Warum sollte es langweilig sein? Im Gegenteil! Und dir macht es doch Spaß.«
Sie sah mich an, sagte aber nichts.
Ich fing an zu trinken. Nicht, wie vorher, sondern richtig. Der Mann mit dem kahlen Kopf wurde aufmerksam. Er fragte, was ich denn tränke. »Rum«, sagte ich. »Grog?« fragte er. »Nein, Rum«, sagte ich. Er probierte es auch und verschluckte sich. »Donnerwetter«, sagte er anerkennend, »das muß man gewohnt sein.« Auch die beiden Frauen wurden jetzt aufmerksam. Pat und Breuer tanzten. Pat sah oft herüber. Ich sah nicht mehr hin. Ich wußte, daß es unrecht war, aber es war plötzlich über mich gekommen. Es ärgerte mich auch, daß die andern auf mein Trinken aufmerksam wurden. Ich hatte keine Lust, ihnen damit zu imponieren wie ein Gymnasiast. Ich stand auf und ging an die Bar. Pat erschien mir ganz fremd. Sollte sie zum Teufel gehen mit ihren Leuten! Sie gehörte dazu. Nein, sie gehörte nicht dazu. Doch!
Der Kahlkopf kam mir nach. Wir tranken mit dem Mixer einen Wodka. Mixer sind immer ein Trost. Man versteht sich in der ganzen Welt mit ihnen, ohne reden zu müssen. Auch dieser war gut. Nur der Kahlkopf war schwach. Er wollte sich aussprechen. Eine gewisse Fifi lag ihm auf der Seele. Aber das gab sich bald. Er erzählte mir, Breuer sei in Pat seit Jahren verliebt. »So?« sagte ich. Er kicherte. Ich brachte ihn mit einer Prärie Oyster zum Schweigen. Aber mir blieb im Schädel, was er gesagt hatte. Ich ärgerte mich, daß es mir etwas machte. Und ich ärgerte mich, daß ich nicht mit der Faust auf den Tisch schlug. Aber irgendwo spürte ich eine kalte Lust zum Zerstören in mir, die sich nicht gegen andere wendete. Nur gegen mich.
Der Kahlkopf lallte bald und verschwand. Ich blieb sitzen. Plötzlich spürte ich eine harte, feste Brust an meinem Arm. Es war eine der Frauen, die Breuer herangebracht hatte. Sie setzte sich dicht neben mich. Ihre schrägen, graugrünen Augen streiften mich langsam. Es war ein Blick, nach dem eigentlich nichts mehr zu sagen war — nur etwas zu tun. »Wunderbar, so trinken zu können«, sagte sie nach einer Weile. Ich schwieg. Sie streckte eine Hand nach meinem Glase aus. Die Hand war wie eine Eidechse, glitzernd von Schmuck, trocken und sehnig. Sie bewegte sich sehr langsam, als kröche sie. Ich wußte, was los war. Mit dir werde ich rasch fertig, dachte ich. Du unterschätzt mich, weil du siehst, daß ich ärgerlich bin. Aber du irrst dich. Mit Frauen werde ich schon fertig — es ist die Liebe, mit der ich nicht fertig werde. Es ist das Unerfüllbare, das mich traurig macht.
Die Frau begann zu sprechen. Sie hatte eine brüchige, etwas gläserne Stimme. Ich merkte, wie Pat herübersah. Ich kümmerte mich nicht darum. Aber ich kümmerte mich auch nicht um die Frau neben mir. Ich hatte das Gefühl, durch einen glatten, bodenlosen Schacht zu gleiten. Es hatte nichts mit Breuer und den Leuten zu tun. Es hatte nicht einmal etwas mit Pat zu tun. Es war das finstere Geheimnis, daß die Wirklichkeit die Wünsche weckt, aber sie nie befriedigen kann; daß die Liebe in einem Menschen beginnt, aber nie in ihm endet; und daß alles dasein kann: ein Mensch, die Liebe, das Glück, das Leben — und daß es auf eine furchtbare Weise immer zuwenig ist und immer weniger wird, je mehr es scheint. Ich blickte verstohlen zu Pat hinüber. Da ging sie in ihrem silbernen Kleid, jung und schön, eine helle Flamme Leben, ich liebte sie, und wenn ich zu ihr sagte: Komm, so kam sie, nichts stand zwischen uns, wir konnten uns so nahe sein, wie es Menschen nur können — aber dennoch war alles manchmal auf eine rätselhafte Weise verschattet und qualvoll, ich konnte sie nicht lösen aus dem Ring der Dinge, nicht herausreißen aus dem Kreise des Daseins, der über uns und in uns war und uns seine Gesetze aufzwang, den Atem und das Vergehen, den fragwürdigen Glanz der immerfort ins Nichts abstürzenden Gegenwart, die schimmernde Illusion des Gefühls, das im Besitzen schon wieder Verlieren war. Nie war es aufzuhalten, nie! Nie war sie zu lösen, die klirrende Kette der Zeit, nie wurde aus Rastlosigkeit Rast, aus Suchen Stille, aus Fallen Halt. Nicht einmal vom Zufall konnte ich sie lösen, von dem, was vorher war, ehe ich sie kannte, von tausend Gedanken, Erinnerungen, von dem, was sie geformt hatte, bevor ich da war, nicht einmal von diesen Leuten hier konnte ich sie lösen — Neben mir sprach die Frau mit ihrer brüchigen Stimme. Sie suchte einen Gefährten für eine Nacht, ein Stück fremdes Leben, um sich aufzupeitschen, um zu vergessen, sich und die allzu schmerzhafte Klarheit, daß nie etwas bleibt, kein Ich und kein Du und am wenigsten ein Wir. Suchte sie im Grunde nicht dasselbe wie ich? Einen Gefährten, um die Einsamkeit des Lebens zu vergessen, einen Kameraden, um die Sinnlosigkeit des Daseins zu bestechen?
»Kommen Sie«, sagte ich, »wir wollen zurückgehen. Es ist hoffnungslos — das was Sie wollen — und auch das, was ich will.«
Sie sah mich einen Augenblick an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte.
Wir gingen noch in ein paar andere Lokale. Breuer war erhitzt, redselig und hoffnungsvoll. Pat war stiller geworden. Sie fragte mich nicht, sie machte mir keine Vorwürfe, sie versuchte nichts aufzuklären, sie war einfach da, manchmal tanzte sie, dann schien es, als glitte sie durch einen Schwarm von Marionetten und Karikaturen wie ein stilles, schönes, schmales Schiff, und manchmal lächelte sie mir zu.
Die Dösigkeit der Nachtlokale wischte mit graugelben Händen über die Wände und die Gesichter. Die Musik schien unter einem gläsernen Katafalk zu spielen. Der Kahlkopf trank Kaffee. Die Frau mit den Eidechsenhänden sah starr vor sich hin. Breuer kaufte von einem übermüdeten Blumenmädchen Rosen und verteilte sie an Pat und die beiden Frauen. Auf den halboffenen Knospen standen kleine, klare Wasserperlen. »Wir wollen einmal miteinander tanzen«, sagte Pat zu mir.
»Nein«, sagte ich und dachte an die Hände, die sie heute schon berührt hatten, »nein«, und fühlte mich ziemlich lächerlich und elend.
»Doch«, sagte sie, und ihre Augen wurden dunkel.
»Nein«, erwiderte ich, »nein, Pat.«
Dann gingen wir endlich. »Ich fahre Sie nach Hause«, sagte Breuer zu mir.
»Gut.«
Er hatte eine Decke im Wagen, die er Pat über die Knie legte. Sie sah auf einmal sehr blaß und müde aus. Die Frau von der Bar schob mir beim Abschied einen Zettel in die Hand. Ich tat, als sei nichts gewesen, und stieg ein. Unterwegs sah ich aus dem Fenster. Pat saß in der Ecke und regte sich nicht. Ich hörte sie nicht einmal atmen. Breuer fuhr zuerst zu ihr. Er wußte ihre Wohnung, ohne zu fragen. Sie stieg aus. Breuer küßte ihr die Hand. »Gute Nacht«, sagte ich und sah sie nicht an.
»Wo kann ich Sie absetzen?« fragte Breuer mich.
»An der nächsten Ecke«, sagte ich.
»Ich fahre Sie gern nach Hause«, erwiderte er etwas zu rasch und zu höflich.
Er wollte verhindern, daß ich zurückging. Ich überlegte, ob ich ihm eine herunterhauen sollte. Aber er war mir zu gleichgültig. »Schön, dann fahren Sie mich zur Bar Freddy«, sagte ich.
»Kommen Sie da denn um die Zeit noch 'rein?« fragte er.
»Nett, daß Sie so besorgt sind«, sagte ich, »aber seien Sie versichert, ich komme überall noch 'rein.«
Als ich es gesagt hatte, tat er mir leid. Er war sich sicher sehr großartig und gerissen vorgekommen den ganzen Abend. Man sollte so was nicht zerstören.
Ich verabschiedete mich freundlicher von ihm als von Pat.

In der Bar war es noch ziemlich voll. Lenz und Ferdinand Grau pokerten mit dem Konfektionär Bollwies und ein paar anderen. »Setz dich 'ran«, sagte Gottfried, »heute ist Pokerwetter.«
»Nein«, erwiderte ich.
»Sieh dir das an«, sagte er und zeigte auf einen Packen Geld. »Ohne Bluff. Die flushs liegen in der Luft.«
»Schön«, sagte ich, »gib her.«
Ich bluffte mit zwei Königen vier Mann zum Fenster 'raus.
»So was!« sagte ich. »Scheint auch Bluffwetter zu sein.«
»Das immer«, erwiderte Ferdinand und schob mir eine Zigarette 'rüber.
Ich hatte nicht lange bleiben wollen. Doch jetzt spürte ich etwas Boden unter den Füßen. Es ging mir nicht besonders; aber hier war die alte, ehrliche Heimat. »Stell mir eine halbe Flasche Rum her«, rief ich Fred zu.
»Tu mal Portwein 'rein«, sagte Lenz.
»Nein«, erwiderte ich. »Hab' keine Zeit für Experimente.
Will mich besaufen.«
»Dann nimm süße Liköre. Krach gehabt?«
»Unsinn.«
»Red nicht, Baby. Quatsch deinem alten Vater Lenz nichts vor, der in den Schluchten des Herzens zu Hause ist. Sag ja und sauf.«
»Mit einer Frau kann man keinen Krach haben. Man kann sich höchstens über sie ärgern.«
»Das sind zu feine Unterschiede für drei Uhr nachts. Ich habe übrigens mit jeder Krach gehabt. Wenn man keinen Krach mehr hat, ist's bald aus.«
»Schön«, sagte ich, »wer gibt?«
»Du«, sagte Ferdinand Grau. »Schätze, du hast Weltschmerz, Robby. Laß dich's nicht anfechten. Das Leben ist bunt, aber unvollkommen. Übrigens, für Weltschmerz bluffst du fabelhaft. Zwei Könige sind schon 'ne Frechheit.«
»Ich hab' mal 'ne Partie gesehen, da standen siebentausend Francs gegen zwei Könige«, sagte Fred vom Bartisch her.
»Schweizer oder französische?« fragte Lenz.
»Schweizer.«
»Dein Glück«, erwiderte Gottfried. »Mit französischen hättest du das Spiel nicht unterbrechen dürfen.«
Wir spielten eine Stunde weiter. Ich gewann ziemlich viel. Bollwies verlor dauernd. Ich trank, aber ich kriegte nur Kopfschmerzen. Die braunen, wehenden Tücher blieben aus. Es wurde alles nur schärfer. Mein Magen brannte.
»So, jetzt hör auf und iß was«, sagte Lenz. »Fred, gib ihm ein Sandwich und ein paar Sardinen. Steck das Geld ein, Robby.«
»Eine Runde noch.«
»Gut. Letzte Runde. Doppelt?«
»Doppelt«, sagten die andern.
Ich kaufte ziemlich sinnlos auf Kreuz zehn und König drei Karten. Es waren Bube, Dame und As. Ich gewann damit gegen Bollwies, der einen Achter-Vierling in der Hand hatte und bis zum Mond hoch reizte. Fluchend zahlte er mir einen Haufen Geld aus. »Siehst du«, sagte Lenz, »Flushwetter.«
Wir setzten uns an die Bar. Bollwies fragte nach Karl. Er konnte nicht vergessen, daß Köster seinen Sportwagen geschlagen hatte. Er wollte Karl immer noch kaufen. »Frag Otto«, sagte Lenz. »Aber ich glaube, er verkauft dir lieber eine Hand.«
»Na, na«, sagte Bollwies.
»Das verstehst du nicht«, erwiderte Lenz, »du kommerzieller Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts.« Ferdinand Grau lachte.
Fred auch. Schließlich lachten wir alle. Wenn man über das zwanzigste Jahrhundert nicht lachte, mußte man sich erschießen. Aber man konnte nicht lange darüber lachen. Es war ja eigentlich zum Heulen.
»Kannst du tanzen, Gottfried?« fragte ich.
»Natürlich. Ich war doch mal Tanzlehrer. Hast du das schon vergessen?«
»Vergessen — laß ihn doch vergessen«, sagte Ferdinand Grau. »Vergessen ist das Geheimnis ewiger Jugend. Man altert nur durch das Gedächtnis. Es wird viel zuwenig vergessen.«
»Nein«, sagte Lenz. »Es wird nur immer das Falsche vergessen.«
»Kannst du mir's beibringen?« fragte ich.
»Tanzen? An einem Abend, Baby. Ist das dein ganzer Kummer?«
»Hab' keinen Kummer«, sagte ich. »Kopfschmerzen.«
»Die Krankheit unserer Zeit, Robby«, sagte Ferdinand.
»Am besten wäre es, ohne Kopf geboren zu werden.«
Ich ging noch ins Café International. Alois wollte gerade die Läden 'runtermachen. »Noch wer da?« fragte ich.
»Rosa.«
»Komm, wir nehmen alle drei noch einen.«
»Gemacht.«
Rosa saß neben der Theke und strickte kleine Wollstrümpfe für ihre Tochter. Sie zeigte mir die Muster. Sie hatte auch schon ein Jäckchen fertig. »Wie war's Geschäft?« fragte ich.
»Schlecht. Kein Mensch hat mehr Geld.«
»Soll ich dir was leihen? Hier — hab' beim Pokern gewonnen.«
»Spielgeld bringt Handgeld«, sagte Rosa, spuckte darauf und steckte es ein.
Alois brachte drei Gläser. Nachher, als Fritzi kam, noch eins.
»Feierabend«, sagte er dann. »Bin todmüde.«
Er drehte das Licht aus. Wir gingen. Rosa verabschiedete sich an der Tür. Fritzi hängte sich bei Alois ein. Sie ging frisch und leicht neben ihm her. Er schlurfte mit seinen Plattfüßen über das Pflaster. Ich blieb stehen und sah ihnen nach. Ich sah, wie Fritzi sich zu dem schmutzigen, krummen Kellner niederbeugte und ihn küßte. Er wehrte sie gleichgültig ab. Und plötzlich, ich wußte nicht, wie es kam, während ich mich umdrehte und über die leere Straße und die Häuser mit den dunklen Fenstern und den kalten Nachthimmel hinwegblickte, schlug wie mit Fäusten eine so irrsinnige Sehnsucht nach Pat auf mich ein, daß ich glaubte zu taumeln. Ich verstand nichts mehr — mich nicht und mein Verhalten nicht und den ganzen Abend nicht, nichts mehr.
Ich lehnte mich an eine Hauswand und starrte vor mich hin. Ich begriff nicht, weshalb ich das alles getan hatte. Ich war da in etwas hineingeraten, das mich durcheinanderriß, das mich unvernünftig und ungerecht machte, das mich hin und her warf und mir zerschlug, was ich mühsam geordnet hatte. Ziemlich hilflos stand ich da und wußte nicht, was ich tun sollte. Nach Hause wollte ich nicht — dann wurde es ganz schlimm. Schließlich erinnerte ich mich, daß Alfons noch offen haben mußte. Ich ging hin. Ich wollte da bleiben bis zum Morgen.
Alfons sagte nicht viel, als ich kam. Er sah mich kurz an und las seine Zeitung weiter. Ich setzte mich an einen Tisch und döste. Es war niemand sonst da. Ich dachte an Pat. Immer wieder an Pat. Ich dachte daran, wie ich mich benommen hatte. Jede Einzelheit fiel mir auf einmal ein. Alles drehte sich gegen mich. Ich allein war schuld. Ich war verrückt gewesen. Ich starrte auf den Tisch. Das Blut toste in meinem Schädel. Ich war erbittert und wütend auf mich und ganz ratlos. Ich war es, ich allein, der alles kaputtmachte.
Es klirrte und knackte plötzlich. Ich hatte mit aller Kraft mein Glas zerschlagen. »Auch 'ne Unterhaltung«, sagte Alfons und stand auf.
Er zog mir die Splitter aus der Hand. »Tut mir leid«, sagte ich. »Habe es im Moment nicht überlegt.«
Er holte Watte und Heftpflaster. »Geh ins Puff«, sagte er, »das ist besser.«
»Schön«, erwiderte ich. »Ist schon vorbei. War nur so ein Wutanfall.«
»Wut muß man wegamüsieren, nicht wegärgern«, erklärte Alfons.
»Stimmt«, sagte ich, »aber können muß man's, auch.«
»Alles Training. Ihr wollt bloß alle mit dem Kopp durch die Wand. Gibt sich aber mit den Jahren.«
Er legte das »Miserere« aus dem »Troubadour« auf das Grammophon. Es wurde schnell hell.

Ich ging nach Hause. Alfons hatte mir noch ein großes Glas Fernet-Branca zu trinken gegeben. Ich merkte, daß jetzt weiche Beile hinter meiner Stirn klopften. Die Straße war nicht mehr glatt. In meinen Schultern saß Blei. Ich hatte genug.
Langsam ging ich die Treppe hinauf und suchte in der Tasche nach meinem Schlüssel. Da hörte ich im Halbdunkel jemand atmen. Etwas Bleiches, Undeutliches hockte auf der oberen Treppenstufe. Ich machte zwei Schritte. »Pat —«, sagte ich verständnislos — »Pat — was machst du denn hier?«
Sie bewegte sich. »Ich glaube, ich habe etwas geschlafen...«
»Ja aber, wie kommst du denn hierher?«
»Ich habe doch deinen Hausschlüssel...«
»Das meine ich nicht. Ich meine...« Die Trunkenheit wich, ich sah die abgetretenen Stufen der Treppe, die abgeblätterte Wand und das silberne Kleid, die schmalen, leuchtenden Schuhe — »ich meine, daß du überhaupt hier bist...«
»Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit...«
Sie stand auf und dehnte sich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß sie in der späten Nacht hier auf der Treppe gesessen hatte. Dann schnupperte sie. »Lenz würde jetzt sagen — Kognak, Rum, Kirsch, Absinth...«
»Sogar Fernet-Branca«, bekannte ich und faßte erst jetzt alles richtig.
»Gottverdammt, du bist ein großartiges Mädchen, Pat, und ich bin ein scheußlicher Idiot!«
Ich nahm sie mit einem Ruck hoch, schloß die Tür auf und trug sie durch den Korridor. Sie lag an meiner Brust, ein silberner Reiher, ein müder Vogel, ich wandte den Kopf zur Seite, damit sie meinen Schnapsatem nicht spürte, und ich fühlte, daß sie zitterte, obwohl sie lächelte.
Ich setzte sie in einen Sessel, machte Licht und holte eine Decke.
»Hätte ich doch nur eine Ahnung gehabt, Pat — statt herumzulungern und herumzusitzen, hätte ich — ach, ich elender Schafskopf — angerufen habe ich von Alfons aus bei dir, und gepfiffen vor deinem Hause — und ich dachte, du wolltest nicht, weil du dich nicht meldetest...«
»Weshalb bist du denn nicht zurückgekommen, als du mich nach Hause gebracht hast?«
»Ja, das möchte ich auch wissen...«
»Es ist besser, wenn du mir nächstens den Wohnungsschlüssel auch noch gibst«, sagte sie, »dann brauche ich nicht draußen zu warten.«
Sie lächelte, aber ihre Lippen zitterten, und ich wußte plötzlich, was das für sie war — dies Zurückkommen, dies Warten und dieser tapfere, burschikose Ton jetzt...
»Pat«, sagte ich rasch, völlig verwirrt, »Pat, du frierst sicher, du mußt was trinken, ich habe bei dem Orlow draußen Licht gesehen, ich gehe rasch mal hin, diese Russen haben immer Tee, ich bin sofort zurück —«, ich spürte, wie es heiß in mir hochstieg — »ich vergesse dir das im Leben nicht«, sagte ich von der Tür her und ging rasch den Korridor hinunter.
Orlow war noch auf. Er saß vor seinem Muttergottesbild in der Ecke des Zimmers, vor dem ein Lämpchen brannte, seine Augen waren rot, und auf dem Tisch dampfte ein kleiner Samowar.
»Bitte, entschuldigen Sie«, sagte ich, »ein unvorhergesehener Zufall — können Sie mir etwas heißen Tee geben?«
Russen sind an Zufälle gewöhnt. Er gab mir zwei Gläser, Zucker und füllte einen Teller mit kleinen Kuchen. »Ich bin Ihnen sehr gern behilflich«, sagte er, »darf ich Ihnen auch — ich war oft in ähnlicher — ein paar Kaffeebohnen — zum Kauen...«
»Danke«, sagte ich, »wirklich, ich danke Ihnen. Ich nehme sie gern...«
»Wenn Sie noch etwas brauchen«, sagte er und war in diesem Augenblick von einer wunderschönen Haltung, »ich bleibe noch eine Zeitlang auf; es wird mir eine Freude sein...«
Ich zermalmte die Kaffeebohnen auf dem Korridor im Munde. Sie nahmen den Schnapsgeruch weg. Pat saß neben der Lampe und puderte sich. Ich blieb einen Augenblick an der Tür stehen. Es rührte mich sehr, daß sie so dasaß und aufmerksam in ihren kleinen Spiegel sah und mit der Puderquaste über die Schläfen wischte.
»Trink ein bißchen Tee«, sagte ich, »er ist ganz heiß.«
Sie nahm die Tasse. Ich sah zu, wie sie trank. »Weiß der Teufel, was heute abend los war, Pat.«
»Ich weiß es schon«, erwiderte sie.
»So? Ich nicht.«
»Ist auch nicht nötig, Robby. Du weißt sowieso schon ein bißchen zuviel, um richtig glücklich zu sein.«
»Mag sein«, sagte ich. »Aber es geht doch nicht, daß ich immer kindischer werde, seit ich dich kenne.«
»Doch! Besser, als wenn du immer vernünftiger würdest.«
»Auch eine Begründung«, sagte ich. »Du hast eine gute Art, einem aus der Klemme zu helfen. Aber ich glaube, es kam da so allerhand zusammen.«
Sie stellte die Tasse auf den Tisch. Ich lehnte am Bett. Ich hatte ein Gefühl, als wenn ich von einer langen, schwierigen Reise nach Hause gekommen wäre.

Die Vögel begannen zu zwitschern. Draußen klappte eine Tür. Das war Frau Bender, die Säuglingsschwester. Ich sah auf die Uhr. In einer halben Stunde war Frida in der Küche, dann konnten wir nicht mehr ungesehen hinaus. Pat schlief noch. Sie atmete tief und regelmäßig. Es war eine Schande, sie zu wecken. Aber es mußte sein. »Pat...«
Sie murmelte etwas im Schlaf. »Pat —«, ich verfluchte alle möblierten Zimmer der Welt — »Pat, es wird Zeit. Wir müssen dich anziehen.«
Sie schlug die Augen auf und lächelte, noch ganz warm vom Schlaf, wie ein Kind. Ich war immer wieder überrascht über diese Heiterkeit beim Erwachen und liebte das sehr an ihr. Ich war nie heiter, wenn ich erwachte. »Pat — Frau Zalewski bürstet bereits ihr Gebiß.«
»Ich bleibe heute bei dir...«
»Hier?«
»Ja...«
Ich richtete mich auf. »Glänzende Idee — aber deine Sachen — das sind doch Schuhe und Kleider für abends...« »Dann bleibe ich eben bis abends...« »Und zu Hause?« »Da telefonieren wir, daß ich irgendwo über Nacht geblieben bin.« »Das werden wir schon machen. Hast du Hunger?« »Noch nicht.« »Auf alle Fälle werde ich mal rasch ein paar frische Brötchen klauen. Die hängen draußen an der Korridortür. Jetzt ist's grade noch Zeit dafür.«
Als ich zurückkam, stand Pat am Fenster. Sie trug nur ihre silbernen Schuhe. Das weiche Licht des frühen Tages fiel wie ein Schleier über ihre Schultern. »Das von gestern haben wir vergessen, was, Pat?« sagte ich.
Sie nickte, ohne sich umzudrehen. »Wir werden einfach nicht mehr mit anderen Leuten zusammen sein. Richtige Liebe verträgt keine Leute. Dann kriegen wir auch keinen Krach und keine Eifersuchtsanfälle. Dieser Breuer und die ganze andere Gesellschaft soll zum Teufel gehen, was?« »Ja«, sagte sie, »und die Markowitz auch.« »Markowitz? Wer ist denn das?« »Die, mit der du an der Bar gesessen hast in der Kaskade.« »Aha«, sagte ich, plötzlich ziemlich vergnügt, »aha, die.« Ich kramte meine Taschen aus. »Sieh dir das an. Etwas hat die Geschichte wenigstens genützt. Ich habe einen Haufen Geld im Poker gewonnen. Dafür gehen wir heute abend noch einmal aus, was? Aber richtig, ohne andere Leute. Die sind für uns vergessen, wie?« — Sie nickte.
Die Sonne ging hinter den Dächern des Gewerkschaftshauses auf. Die Fenster begannen zu blitzen. Pats Haar war voll Licht, und ihre Schultern waren golden. »Was sagtest du eigentlich, was macht dieser Breuer? Als Beruf, meine ich?«
»Architekt.«
»Architekt«, sagte ich etwas betroffen, denn ich hätte lieber gehört, er wäre gar nichts, »na, Architekt, was ist das schon, was, Pat?«
»Ja, Liebling.«
»Nichts Besonderes, wie?«
»Gar nichts«, sagte Pat überzeugt und drehte sich um und lachte, »gar nichts ist das, überhaupt nichts. Ein Dreck ist es!«
»Und diese Bude, die ist nicht zu jämmerlich, was, Pat? Andere Leute haben natürlich bess...«
»Sie ist wunderbar, diese Bude«, unterbrach mich Pat, »es ist eine ganz herrliche Bude, ich weiß wirklich keine schönere, Liebling!«
»Und ich, Pat, ich hab' ja meine Fehler und bin nur ein Taxifahrer, aber...«
»Du bist ein ganz Geliebter, ein Brötchenklauer und Rumsäufer, ein Liebling bist du!«
Mit einem Schwung warf sie sich mir an den Hals. »Ach, du Dummer, wie schön ist es zu leben!«
»Nur mit dir, Pat. Wahrhaftig!«
Der Morgen stieg wunderbar und strahlend herauf. Über den Grabsteinen unten lag ein feiner Nebel und zog hin und her. Die Wipfel der Bäume waren schon voll im Licht. Aus den Schornsteinen der Häuser stieg wirbelnd der Rauch. Die ersten Zeitungen wurden ausgerufen. Wir legten uns zu einem Morgenschlaf nieder, einem Schlafwachen, einem Schlafträumen an der Grenze, einer im Arm des andern, einem wunderlichen Verschweben, Atem in Atem. Dann, um neun Uhr, telefonierte ich zunächst als Geheimrat Burkhard mit Oberstleutnant Egbert von Hake persönlich und darauf an Lenz, damit er meine Morgenfuhre mit der Droschke übernahm.
Er unterbrach mich gleich. »Laß nur, Kindchen, dein Gottfried ist nicht umsonst ein Kenner der Variationen des menschlichen Herzens. Hab' schon damit gerechnet. Viel Spaß, Goldbaby.«
»Halt den Schnabel«, sagte ich glücklich und erklärte in der Küche, ich sei krank, ich würde bis Mittag zu Bett bleiben. Dreimal mußte ich noch den besorgten Angriff Frau Zalewskis abschlagen, die mir Kamillentee, Aspirin und Umschläge offerierte. Dann konnte ich Pat ins Badezimmer schmuggeln, und wir hatten Ruhe.

15

XIV

Eine Woche später erschien unvermutet der Bäcker mit seinem Ford auf unserm Hof. »Geh mal 'raus, Robby«, sagte Lenz mit einem giftigen Blick durchs Fenster, »der Topfkuchen-Casanova will sicher was reklamieren.«
Der Bäcker sah ziemlich verdrossen aus. »Ist was an dem Wagen?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Er läuft großartig. Ist ja jetzt auch wieder so gut wie neu.«
»Das ist er«, bestätigte ich und sah ihn mit mehr Interesse an.
»Es ist —«, sagte er — »also — ich möchte einen anderen Wagen haben. Größer...« Er blickte sich um. »Hatten Sie nicht damals einen Cadillac?«
Ich begriff im Augenblick, was los war. Die schwarze Person, mit der er zusammen lebte, hatte ihn mürbe gemacht. »Ja, der Cadillac«, sagte ich schwärmerisch, »da hätten Sie damals zufassen sollen! Das war ein Prachtstück! Für siebentausend Mark ist er weggegangen. Halb verschenkt!«
»Na, verschenkt...«
»Verschenkt!« wiederholte ich nachdrücklich und überlegte, was zu machen wäre. »Ich kann mal nachfragen«, sagte ich dann, »vielleicht braucht der Mann, der ihn damals gekauft hat, Geld. So was geht ja schnell heutzutage. Einen Moment.«
Ich ging in die Werkstatt und erzählte rasch, was geschehen war. Gottfried sprang auf. »Kinder, wo kriegen wir nur im Galopp einen alten Cadillac her?«
»Laß das meine Sorge sein«, sagte ich, »paß du lieber auf, daß der Bäcker inzwischen nicht wegläuft.«
»Gemacht!« Gottfried verschwand.
Ich rief Blumenthal an. Viel Hoffnung hatte ich nicht, aber man konnte es ja mal versuchen. Er war im Büro. »Wollen Sie Ihren Cadillac verkaufen?« fragte ich geradezu.
Blumenthal lachte.
»Ich habe jemand dafür«, fuhr ich fort, »mit Barzahlung auf den Tisch.«
»Barzahlung —«, erwiderte Blumenthal nach einer Weile Nachdenken, »das ist in diesen Zeiten ein Wort von reinster Poesie...«
»Das meine ich auch«, sagte ich und wurde plötzlich munter. »Also wie ist es, können wir mal darüber reden?«
»Reden kann man immer«, meinte Blumenthal.
»Schön. Wann kann ich Sie treffen?«
»Heute mittag nach dem Essen habe ich Zeit. Sagen wir um zwei hier im Büro.«
»Gut.«
Ich hängte auf. »Otto«, sagte ich ziemlich aufgeregt zu Köster, »ich hätte es nie erwartet, aber ich glaube, unser Cadillac kehrt zurück!«
Köster ließ seine Papiere liegen. »Tatsächlich? Will er verkaufen?« Ich nickte und blickte durchs Fenster, wo Lenz lebhaft auf den Bäcker einsprach. »Er macht das falsch«, sagte ich beunruhigt, »er redet zuviel. Der Bäcker ist ein Turm von Mißtrauen; man muß ihn durch Schweigen überreden. Ich will Gottfried mal rasch wieder ablösen.«
Köster lachte. »Hals- und Beinbruch, Robby.«
Ich blinzelte ihm zu und ging hinaus. Aber ich traute meinen Ohren nicht — Gottfried dachte nicht daran, vorzeitige Hymnen auf den Cadillac zu singen —, er erklärte dem Bäcker lediglich mit großem Eifer, wie die Indianer in Südamerika ihr Maisbrot backen. Ich warf ihm einen anerkennenden Blick zu und wandte mich dann an den Bäcker. »Leider will der Mann nicht verkaufen...«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Lenz prompt, als hätten wir es verabredet.
Ich zuckte die Achseln. »Schade — aber ich kann es verstehen...« Der Bäcker stand unschlüssig da. Ich sah Lenz an.
»Kannst du es nicht doch noch mal versuchen?« fragte er sofort.
»Das auf jeden Fall«, erwiderte ich. »Ich habe ohnehin wenigstens abmachen können, daß wir uns heute mittag treffen. Wo kann ich Sie nachher erreichen?« fragte ich den Bäcker.
»Ich bin um vier in der Gegend hier. Da komme ich dann noch mal vorbei...«
»Gut — dann weiß ich auch bestimmt Bescheid. Ich hoffe, daß die Sache doch noch klappt.«
Der Bäcker nickte. Dann bestieg er seinen Ford und dampfte ab.
»Du bist wohl ganz von Gott verlassen«, brach Lenz los, als er um die Ecke war. »Erst soll ich den Knaben mit Gewalt festhalten, und dann läßt du ihn ohne weiteres laufen!«
»Logik und Psychologie, mein guter Gottfried!« erwiderte ich und klopfte ihm auf die Schulter. »Das verstehst du noch nicht so...«
Er schüttelte meine Hand ab. »Psychologie«, erklärte er wegwerfend. »Die beste Psychologie ist ein guter Zufall! Und der war da! Der Mann kommt niemals wieder...«
»Um vier Uhr kommt er wieder...«
Gottfried sah mich mitleidig an. »Wetten?« fragte er.
»Gern«, erwiderte ich, »aber du fällst 'rein. Den Mann kenne ich besser als du! Der muß mehrmals aufs Feuer. Außerdem kann ich ihm doch nicht etwas verkaufen, was wir selbst noch nicht haben...«
»Ach, du lieber Gott, wenn's das nur ist«, sagte Gottfried kopfschüttelnd, »dann wird aus dir im Leben nichts, Baby! Das sind doch gerade erst die wahren Geschäfte! Komm, ich will dir einen Gratiskurs über modernes Wirtschaftsleben geben...«

Mittags ging ich zu Blumenthal. Unterwegs hatte ich das Gefühl eines jüngeren Ziegenbocks, der einen alten Wolf besuchen muß. Die Sonne brannte auf den Asphalt, und ich spürte bei jedem Schritt weniger Lust, von Blumenthal auf dem Rost gebraten zu werden. Es war am besten, kurzen Prozeß zu machen. »Herr Blumenthal«, sagte ich deshalb rasch, als ich eintrat, ehe er beginnen konnte, »einen anständigen Vorschlag unter der Tür! Fünftausendfünfhundert Mark haben Sie für den Cadillac bezahlt — ich biete Ihnen sechs wieder —, unter der Bedingung, daß ich ihn wirklich loswerde. Das entscheidet sich heute abend...«
Blumenthal thronte hinter seinem Schreibtisch und aß gerade einen Apfel. Er hörte auf zu essen und sah mich einen Augenblick an.
»Gut«, schnaubte er dann und aß weiter.
Ich wartete, bis er das Kerngehäuse in den Papierkorb warf.
»Sie sind also einverstanden?« fragte ich dann.
»Moment!« Er holte einen neuen Apfel aus der Schreibtischschublade.
»Wollen Sie auch einen?«
»Danke, nicht gerade jetzt...«
Er biß krachend hinein. »Viel Äpfel essen, Herr Lohkamp! Äpfel verlängern das Leben! Jeden Tag ein paar Äpfel — und Sie brauchen nie einen Arzt!«
»Auch nicht, wenn ich mir den Arm breche?«
Er grinste, warf das zweite Kerngehäuse weg und stand auf. »Sie brechen sich dann eben keinen Arm!«
»Das ist praktisch«, sagte ich und wartete ab, was jetzt kommen würde. Dieses Apfelgespräch war mir zu verdächtig.
Blumenthal holte eine Zigarrenkiste aus einem kleinen Schrank und bot sie mir an. Es waren die Coronas, die ich schon kannte. »Verlängern die auch das Leben?« fragte ich.
»Nein, die verkürzen es. Das gleicht sich dann aus mit den Äpfeln.«
Er blies eine Wolke Rauch aus und sah mich mit schiefem Kopf wie ein nachdenklicher Vogel von unten herauf an. »Ausgleichen, Herr Lohkamp, immer ausgleichen — das ist das ganze Geheimnis im Leben...«
»Wenn man's kann...«
Er blinzelte. »Ja, können, das ist das Geheimnis. Wir wissen zuviel und können zuwenig. Weil wir zuviel wissen.«
Er lachte. »Entschuldigen Sie — nach Tisch werde ich immer etwas philosophisch...«
»Das ist auch die beste Zeit«, sagte ich. »Also mit dem Cadillac sind wir dann auch ausgeglichen, nicht wahr?«
Er hob die Hand. »Sekunde...«
Ich senkte ergeben den Kopf. Blumenthal sah es und lachte. »Nicht, wie Sie meinen! Ich wollte Ihnen nur ein Kompliment machen. Überrumpelung von der Tür aus, mit offenen Karten!
Das war gut berechnet auf den alten Blumenthal. Wissen Sie, was ich erwartet habe?« — »Daß ich mit viertausendfünfhundert anfangen würde zu bieten...«
»Genau das! Aber es wäre Ihnen schlecht bekommen. Sie wollen doch mit sieben verkaufen, nicht wahr?«
Ich zuckte vorsichtigerweise die Achseln. »Warum gerade sieben?«
»Weil das damals Ihre erste Forderung bei mir war...«
»Sie haben ein glänzendes Gedächtnis«, sagte ich.
»Für Zahlen. Nur für Zahlen. Leider. Also um zum Schluß zu kommen: Sie können den Wagen für den Preis haben.«
Er hielt mir die Hand hin und ich schlug ein. »Gott sei Dank«, sagte ich aufatmend, »das erste Geschäft seit langer Zeit. Der Cadillac scheint uns Glück zu bringen.«
»Mir auch«, sagte Blumenthal. »Ich habe ja auch fünfhundert Mark dran verdient.«
»Das schon. Aber weshalb haben Sie ihn eigentlich so bald wieder verkauft? Gefällt er Ihnen nicht?«
»Einfacher Aberglaube«, erklärte Blumenthal. »Ich mache jedes Geschäft, bei dem ich verdiene...«
»Fabelhafter Aberglaube«, erwiderte ich.
Er wiegte den glänzenden Schädel. »Sie glauben es nicht — aber es stimmt. Damit mir nichts schiefgeht — bei anderen Sachen. Heute ein Geschäft auslassen, ist eine Herausforderung des Schicksals. Und das kann sich keiner mehr leisten.«
Um halb fünf Uhr nachmittags stellte Gottfried Lenz mit ausdrucksvollem Gesicht eine leere Ginflasche vor mich auf den Tisch. »Die möchte ich gerne von dir gefüllt haben, Baby! Kostenlos! Du erinnerst dich an unsere Wette?«
»Ich erinnere mich«, sagte ich, »aber du kommst zu früh.«
Gottfried hielt mir wortlos seine Uhr vor die Nase.
»Halb fünf«, sagte ich, »Sternwartezeit sogar wahrscheinlich. Verspäten kann sich jeder mal. Ich biete dir übrigens die Wette doppelt, zwei zu eins an...«
»Angenommen«, erklärte Gottfried feierlich. »Macht vier Flaschen Gratis-Gin für mich. So was nennt man Heldenmut auf verlorenem Posten. Ehrenvoll, Baby, aber falsch...«
»Abwarten...«
Ich war längst nicht so sicher, wie ich tat. Im Gegenteil, ich nahm schon ziemlich bestimmt an, daß der Bäcker nicht mehr kommen würde. Ich hätte ihn vormittags festhalten müssen. Er war zu unzuverlässig.
Als die Sirene von der Bettfedernfabrik gegenüber fünf Uhr tutete, stellte Gottfried schweigend drei weitere leere Ginflaschen vor mich auf den Tisch. Dann lehnte er sich ans Fenster und starrte mich an.
»Ich bin durstig«, sagte er nach einer Weile mit Betonung.
In diesem Augenblick hörte ich das unverkennbare Rasseln eines Fordmotors auf der Straße, und gleich darauf bog der Wagen des Bäckers in unsere Einfahrt ein. »Wenn du durstig bist, lieber Gottfried«, erwiderte ich mit großer Würde, »so lauf schnell, die beiden Flaschen Rum einkaufen, die ich mit meiner Wette gewonnen habe. Du darfst einen Gratisschluck daraus nehmen. Siehst du draußen den Bäckermeister? Psychologie, mein Junge! Und nun räume die leeren Ginflaschen hier weg! Nachher kannst du dann mit dem Taxi losfahren. Für das feinere Geschäft bist du noch zu jung. Servus, mein Sohn!«
Ich ging hinaus und erzählte dem Bäcker, daß der Wagen wahrscheinlich zu haben sein werde. Der Kunde verlange allerdings noch siebentausendfünfhundert Mark, aber wenn er Bargeld sehe, werde er schon auf siebentausend heruntergehen.
Der Bäcker hörte so zerstreut zu, daß ich stutzte. »Um sechs Uhr werde ich den Mann noch mal anrufen«, sagte ich schließlich.
»Um sechs?« Der Bäcker wachte aus seiner Abwesenheit auf. »Um sechs muß ich...« Er wandte sich mir plötzlich zu. »Wollen Sie mitgehen?«
»Wohin?« fragte ich erstaunt.
»Zu Ihrem Freund, dem Maler. Das Bild ist fertig.«
»Ach so, zu Ferdinand Grau...«
Er nickte. »Kommen Sie doch mit. Wir können dann nachher auch über den Wagen sprechen.«
Es schien ihm etwas daran zu liegen, nicht allein zu gehen. Mir dagegen lag ebensoviel daran, ihn nicht mehr allein zu lassen. »Gut«, sagte ich deshalb, »es ist ja ziemlich weit — wir fahren am besten gleich los.«

Ferdinand Grau sah schlecht aus. Sein Gesicht war graugrün, verschattet und verquollen. Er begrüßte uns an der Tür zum Atelier. Der Bäcker sah ihn kaum an. Er war merkwürdig unsicher und aufgeregt. »Wo ist es?« fragte er sofort.
Ferdinand zeigte mit der Hand zum Fenster. Das Bild lehnte dort auf einer Staffelei. Der Bäcker ging rasch hinein und blieb dann ohne Bewegung dicht vor dem Bilde stehen. Nach einer Weile nahm er den Hut ab. Er war so eilig gewesen, daß er das vorher ganz vergessen hatte.
Ferdinand und ich blieben an der Tür stehen. »Wie geht es, Ferdinand?« fragte ich.
Er machte eine vage Handbewegung.
»Ist was los?« — »Was soll los sein?«
»Du siehst schlecht aus...«
»Weiter nichts?«
»Nein«, sagte ich, »weiter nichts...«
Er legte mir seine große Hand auf die Schulter und lächelte mit einem Gesicht wie ein alter Bernhardiner.
Wir warteten noch eine Zeitlang. Dann gingen wir zu dem Bäcker hinüber. Ich war überrascht, als ich das Bild sah. Der Kopf war sehr gut geworden. Ferdinand hatte nach dem Foto von der Hochzeit und der zweiten, sehr verhärmten Aufnahme eine noch junge Frau gemalt, die mit ernsten, etwas ratlosen Augen vor sich hin schaute.
»Ja«, sagte der Bäcker, ohne sich umzudrehen, »das ist sie.« Er sagte das mehr für sich, und es schien mir, als wüßte er nicht einmal, daß er es sagte.
»Haben Sie genug Licht?« fragte Ferdinand.
Der Bäcker antwortete nicht.
Ferdinand ging heran, um die Staffelei etwas herumzurücken. Dann trat er zurück und nickte mir zu, mit in das kleine Zimmer neben dem Atelier zu kommen. »Das hätte ich nie gedacht«, sagte er verwundert, »die Rabattmaschine hat's erwischt! Er heult...«
»Einmal erwischt es jeden«, erwiderte ich. »Für den da ist es nur zu spät...«
»Zu spät«, sagte Ferdinand, »immer zu spät. Das ist nun mal so im Leben, Robby.«
Er ging langsam hin und her. »Wir wollen ihn ruhig eine Zeitlang da drüben für sich lassen. Könnten inzwischen eine Partie Schach spielen.«
»Du hast ein goldenes Gemüt«, sagte ich.
Er blieb stehen. »Wieso? Nützt dem nicht und schadet ihm nicht. Wenn man immer an so was denken wollte, dürfte kein Mensch auf der Welt jemals mehr lachen, Robby...«
»Da hast du wieder recht«, sagte ich, »also machen wir rasch eine Partie.«
Wir stellten die Figuren auf und begannen. Ferdinand gewann ziemlich mühelos. Er setzte mich mit Turm und Läufer matt, ohne die Dame zu gebrauchen. »Allerhand«, sagte ich, »du siehst aus, als ob du drei Tage nicht geschlafen hättest. Dabei spielst du wie ein Seeräuber.«
»Ich spiele immer gut, wenn ich melancholisch bin«, erwiderte Ferdinand.
»Weshalb bist du denn melancholisch?«
»Ach, nur so. Weil es dunkel wird. Ein ordentlicher Mensch ist immer melancholisch, wenn es Abend wird.
Nicht aus irgendeinem Grunde. Einfach nur so ganz allgemein...«
»Aber nur, wenn er allein ist«, sagte ich.
»Natürlich. Die Stunde der Schatten. Die Stunde der Einsamkeit. Die Stunde, wo der Kognak am besten schmeckt.«
Er holte eine Flasche und zwei Gläser. »Müssen wir nicht zu dem Bäcker 'rein?« fragte ich.
»Gleich.« Er schenkte ein. »Prost, Robby! Weil wir alle mal krepieren müssen!«
»Prost, Ferdinand! Weil wir einstweilen noch da sind!«
»Na«, sagte er, »manchmal hätte nicht viel gefehlt. Wollen auch darauf noch einen nehmen!«
»Gut.«
Wir gingen zurück ins Atelier. Es war dunkler geworden. Der Bäcker stand immer noch mit eingezogenen Schultern vor dem Bilde. Er sah jämmerlich verloren aus in dem großen, kahlen Raum, und es kam mir vor, als wäre er kleiner geworden.
»Soll ich Ihnen das Bild einpacken?« fragte Ferdinand.
Er schreckte auf. »Nein...«
»Dann werde ich es Ihnen morgen schicken.«
»Kann es nicht noch hierbleiben?« fragte der Bäcker zögernd.
»Warum denn?« erwiderte Ferdinand erstaunt und kam näher. »Gefällt es Ihnen nicht?«
»Doch — aber ich möchte es gern noch hierlassen...«
»Das verstehe ich nicht...«
Der Bäcker sah mich hilfesuchend an. Ich begriff — er hatte Angst, das Bild zu Hause bei dem schwarzen Luder aufzuhängen. Vielleicht war es auch Scheu vor der Toten, sie dahinzubringen. »Aber Ferdinand«, sagte ich, »das Bild kann doch ruhig noch hier hängenbleiben, wenn es bezahlt ist...«
»Das natürlich...«
Der Bäcker zog erleichtert sein Scheckbuch aus der Tasche. Die beiden gingen zum Tisch. »Vierhundert Mark Rest?« fragte der Bäcker.
»Vierhundertzwanzig«, sagte Ferdinand, »einschließlich Rabatt. Wollen Sie eine Quittung?«
»Ja«, erwiderte der Bäcker, »wegen der Ordnung.«
Schweigend schrieben beide den Scheck und die Quittung aus. Ich blieb am Fenster stehen und sah mich um. Im halben Licht der Dämmerung schimmerten rings an den Wänden die Gesichter der nicht abgeholten und nicht bezahlten Porträts in ihren goldenen Rahmen. Sie sahen aus wie eine gespenstische Versammlung aus dem Jenseits, und es schien, als wären alle die starren Augen auf das Bild am Fenster gerichtet, das jetzt zu ihnen kommen sollte und über das der Abend noch einen letzten Glanz von Leben breitete. Es war eine sonderbare Stimmung — die beiden gebückten, schreibenden Gestalten am Tisch, die Schatten und die vielen stillen Bilder.
Der Bäcker kam zum Fenster zurück. Seine rotgeäderten Augen wirkten wie gläserne Kugeln, sein Mund war halb offen, die Unterlippe hing herab, und man sah die fleckigen Zähne — es war lächerlich und traurig, wie er so dastand. In der Etage über dem Atelier fing jemand an, Klavier zu spielen, irgendeine Fingerübung, immer dieselbe Tonfolge. Es klang dünn und quälend. Ferdinand Grau war am Tisch stehengeblieben. Er zündete sich eine Zigarre an. Das Licht des Streichholzes beleuchtete sein Gesicht. Der halbdunkle Raum erschien ungeheuer groß und sehr blau durch den kleinen rötlichen Schein.
»Kann man an dem Bild noch etwas ändern?« fragte der Bäcker.
»Was denn?«
Ferdinand kam heran. Der Bäcker zeigte auf den Schmuck. »Kann man das da wieder wegmachen?«
Es war die mächtige goldene Brosche, die er damals, bei der Bestellung, extra verlangt hatte. »Gewiß«, sagte Ferdinand, »sie stört sogar das Gesicht. Das Bild gewinnt, wenn sie wegkommt.«
»Das meine ich auch.« Er druckste eine Weile herum. »Was kostet es denn?«
Ferdinand und ich warfen uns einen Blick zu. »Es kostet gar nichts«, sagte Ferdinand gutmütig, »im Gegenteil, eigentlich bekämen Sie noch etwas heraus. Es ist ja dann weniger drauf.«
Der Bäcker hob überrascht den Kopf. Es sah einen Augenblick so aus, als wollte er darauf eingehen. Aber dann sagte er mit einem Entschluß: »Ach nein, das lassen Sie nur — Sie haben es doch malen müssen...« »Das ist auch wieder wahr...« Wir gingen. Auf der Treppe, als ich den gebeugten Rücken vor mir sah, war ich etwas gerührt über den Bäcker und die Tatsache, daß ihm bei dem Schwindel mit der Brosche das Gewissen geschlagen hatte. Es paßte mir nicht recht, ihm in dieser Stimmung mit dem Cadillac zu Leibe gehen zu müssen. Doch dann dachte ich daran, daß ein Teil seiner gewiß ehrlichen Trauer um die tote Frau sicher nur daher kam, weil die schwarze Person zu Hause ein solches Luder war, und ich wurde wieder ganz frisch.

»Wir können ja bei mir zu Hause die Sache besprechen«, sagte der Bäcker draußen.
Ich nickte. Es paßte mir sehr gut so. Der Bäcker glaubte zwar, er wäre in seinen vier Wänden stärker — ich aber rechnete mit der Schwarzen als Unterstützung.
Sie erwartete uns bereits an der Tür. »Gratuliere herzlichst«, sagte ich, bevor der Bäcker den Mund auftun konnte.
»Wozu?« fragte sie rasch, mit flinken Augen.
»Zu Ihrem Cadillac —«, erwiderte ich unverfroren.
»Schatzi!« Mit einem Satz hing sie dem Bäcker am Hals.
»Aber das ist ja noch gar nicht...« Er versuchte sich loszumachen und Erklärungen abzugeben. Sie aber hielt ihn fest und drehte sich zappelnd mit ihm im Kreise, damit er nicht zu Worte kam. Abwechselnd sah ich über seiner Schulter ihre schlaue, blinzelnde Fratze und über ihrer Schulter seinen vorwurfsvollen, vergeblich protestierenden Mehlwurmkopf.
Endlich gelang es ihm, sich frei zu machen. »Wir sind ja noch gar nicht soweit«, prustete er.
»Doch«, sagte ich mit großer Herzlichkeit, »wir sind so weit! Ich nehme es auf meine Kappe, die letzten fünfhundert Mark herunterzuhandeln. Sie zahlen keinen Pfennig mehr als siebentausend Mark für den Cadillac! Einverstanden?«
»Natürlich!« sagte die Schwarze rasch. »Das ist doch wirklich billig, Schatzi...«
»Halt!« Der Bäcker hob die Hand.
»Aber was hast du denn jetzt wieder?« fuhr sie auf ihn los, »erst heißt es, du kriegst den Wagen, und jetzt stehst du wieder da und willst nicht!«
»Er will ja«, warf ich ein, »wir haben ja schon alles besprochen...«
»Na, was... Schatzi... wozu denn...« Sie lehnte sich dicht an ihn. Er versuchte, sich wieder loszumachen, aber sie preßte ihre vollen Brüste gegen seinen Arm. Er machte ein ärgerliches Gesicht, aber sein Widerstand wurde schwächer.
»Der Ford...«, sagte er.
»Wird selbstverständlich in Zahlung genommen...«
»Viertausend Mark...«
»Hat er mal gekostet, wie?« fragte ich freundlich.
»Mit viertausend Mark muß er in Zahlung genommen werden«, erklärte der Bäcker fest. Er hatte jetzt den Punkt gefunden zum Gegenangriff nach der Überrumpelung. »Der Wagen ist ja so gut wie neu...«
»Neu«, sagte ich, »nach der Riesenreparatur...«
»Heute vormittag haben Sie es selbst zugegeben...«
»Heute vormittag war das auch was anderes. Neu und neu ist ein Unterschied, je nachdem, ob man kauft oder verkauft. Für viertausend Mark müßte Ihr Ford schon Stoßstangen aus Gold haben.«
»Viertausend Mark, oder es wird nichts«, sagte der Bäcker halsstarrig. Er war jetzt wieder ganz der alte und schien alle Sentimentalitäten von vorher wiedergutmachen zu wollen.
»Dann auf Wiedersehen!« erwiderte ich und wandte mich an die Schwarze. »Tut mir leid, gnädige Frau — aber Verlustgeschäfte kann ich nicht machen. An dem Cadillac verdienen wir ohnehin nichts — da können wir nicht noch einen alten Ford zu einem Riesenpreis in Zahlung nehmen.
Leben Sie wohl...«
Sie hielt mich zurück. Ihre Augen funkelten, und sie fiel jetzt über den Bäcker her, daß ihm Hören und Sehen verging. »Du hast ja selbst hundertmal gesagt, daß der Ford nichts mehr wert ist«, zischte sie zum Schluß mit Tränen in den Augen.
»Zweitausend Mark«, sagte ich, »zweitausend Mark, obschon auch das noch Selbstmord ist.«
Der Bäcker schwieg.
»Na los, sag doch was! Warum stehst du denn da herum und tust den Mund nicht auf?« fauchte die Schwarze.
»Meine Herrschaften«, sagte ich, »ich werde jetzt mal den Cadillac holen. Vielleicht besprechen Sie die Sache inzwischen noch untereinander.«
Ich hatte das Gefühl, daß ich gar nichts Besseres tun konnte, als zu verschwinden. Die Schwarze würde meine Sache schon weiterführen.

Eine Stunde später war ich mit dem Cadillac wieder da. Ich sah sofort, daß der Streit auf die einfachste Weise entschieden worden war. Der Bäcker machte einen zerknitterten Eindruck und hatte eine Bertfeder am Anzug hängen — die Schwarze dagegen funkelte, wippte mit den Brüsten und lächelte satt und verräterisch. Sie hatte sich umgezogen und trug ein dünnes, seidenes, eng anliegendes Kleid. In einem unbeobachteten Moment kniff sie mir ein Auge und nickte, alles sei in Ordnung. Wir machten eine Probefahrt. Die Schwarze kuschelte sich behaglich in den breiten Sitz und schwatzte fortwährend. Ich hätte sie am liebsten aus dem Fenster geworfen, aber ich brauchte sie noch. Der Bäcker hockte ziemlich melancholisch neben mir.
Er trauerte im voraus um sein Geld — und das ist ja mit die echteste Trauer, die es gibt.
Wir kamen vor dem Hause des Bäckers an und gingen wieder in die Wohnung. Der Bäcker verließ das Zimmer, um das Geld zu holen. Er wirkte jetzt wie ein alter Mann, und ich sah, daß sein Haar gefärbt war. Die Schwarze strich über ihr Kleid.
»Das haben wir fein gemacht, was?«
»Ja«, sagte ich widerwillig.
»Hundert Mark müssen dabei für mich abfallen...«
»Ach so —«, sagte ich.
»Der alte, geizige Bock«, flüsterte sie vertraulich und kam näher, »hat Geld wie Heu! Aber bis er mal was 'rausrückt! Nicht mal ein Testament will er machen. Fällt nachher dann natürlich alles an die Kinder, und unsereins steht da! Ist doch kein Vergnügen, mit dem Kracher...«
Sie kam noch näher und wippte mit den Brüsten. »Also dann komme ich morgen wegen der hundert Mark mal 'rüber. Wann sind Sie denn da? Oder wollen Sie hier vorbeikommen?« Sie kicherte. »Morgen nachmittag bin ich allein hier...«
»Ich schicke es Ihnen dann her...«, sagte ich.
Sie kicherte weiter. »Bringen Sie es doch selbst. Oder haben Sie Angst?« Sie hielt mich wahrscheinlich für schüchtern und wollte mir handgreiflich zeigen, was los war. »Angst nicht«, sagte ich, »aber keine Zeit. Gerade morgen muß ich zum Arzt. Eine alte Syphilis, wissen Sie! So was verbittert einem das Leben...«
Sie trat so rasch einen Schritt zurück, daß sie fast über einen Plüschsessel fiel. In diesem Augenblick kam der Bäcker wieder herein. Mißtrauisch schielte er die Schwarze an. Dann zählte er mir das Geld in bar auf den Tisch. Er zählte langsam und zögernd. Sein Schatten schwankte dabei auf der Rosentapete des Zimmers hin und her und zählte mit. Während ich die Quittung ausschrieb, fiel mir ein, daß es heute schon einmal so gewesen war — nur war Ferdinand Grau an meiner Stelle gewesen. Obschon gar nichts dabei war, erschien es mir sonderbar.
Ich war froh, als ich draußen war. Die Luft war weich und sommerlich. Der Cadillac blinkte am Straßenrand. »Na, Alter, danke schön«, sagte ich und klopfte ihm auf die Kühlerhaube. »Komm bald wieder zu neuen Taten!«

16

XV

Der Morgen stand hell und funkelnd über den Wiesen. Pat und ich saßen am Rande einer Waldlichtung und frühstückten. Ich hatte mir zwei Wochen Urlaub genommen und war mit Pat unterwegs. Wir wollten ans Meer.
Vor uns auf der Straße stand ein kleiner, alter Citroen. Wir hatten ihn in Zahlung genommen gegen den Ford des Bäckermeisters, und Köster hatte ihn mir mitgegeben für die Zeit des Urlaubs. Er sah aus wie ein geduldiger Packesel, so beladen war er mit Koffern.
»Hoffentlich bricht er unterwegs nicht zusammen«, sagte ich.
»Er bricht nicht zusammen«, erwiderte Pat.
»Woher weißt du das?«
»Das weiß man. Weil es unser Urlaub ist, Robby.«
»Mag sein«, sagte ich. »Aber ich kenne außerdem seine Hinterachse. Die sieht traurig aus. Besonders bei der Belastung.«
»Er ist ein Bruder von Karl. Er wird durchhalten.«
»Ein mächtig rachitischer Bruder.«
»Laß das Lästern, Robby. Er ist augenblicklich der schönste Wagen, den ich kenne.«
Wir lagen eine Zeitlang nebeneinander in der Wiese. Der Wind kam warm und weich vom Walde her. Es roch nach Harz und Kräutern.
»Sag mal, Robby«, fragte Pat nach einer Weile, »was sind das eigentlich für Blumen, drüben am Bach?«
»Anemonen«, erwiderte ich, ohne hinzusehen.
»Aber Liebling! Das sind keine Anemonen, Anemonen sind viel kleiner; außerdem blühen sie nur im Frühjahr.«
»Richtig«, sagte ich. »Es ist Wiesenschaumkraut.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wiesenschaumkraut kenne ich.
Das sieht ganz anders aus.« — »Dann ist es Schierling.«
»Aber Robby! Schierling ist weiß, nicht rot.«
»Dann weiß ich es nicht. Bis jetzt bin ich mit diesen drei Blumennamen immer ausgekommen, wenn ich gefragt wurde. Einen hat man mir stets geglaubt.«
Sie lachte. »Schade. Hätte ich das geahnt, wäre ich schon mit den Anemonen zufrieden gewesen.«
»Schierling«, sagte ich, »mit Schierling hatte ich immer die meisten Erfolge.«
Sie richtete sich auf. »Das ist ja heiter! Bist du oft so gefragt worden?«
»Nicht zu oft. Und bei ganz anderen Gelegenheiten.«
Sie stützte die Hände auf den Boden. »Eigentlich ist es doch eine Schande, daß man auf der Erde herumläuft und fast gar nichts von ihr weiß. Nicht einmal ein paar Namen.«
»Gräm dich nicht«, sagte ich, »es ist eine viel größere Schande, daß man überhaupt nicht weiß, weshalb man auf der Erde herumläuft. Da machen ein paar Namen mehr oder weniger auch nichts aus.«
»Das sagst du! Aber ich glaube, du sagst es nur aus Faulheit.«
Ich drehte mich um. »Natürlich. Aber über die Faulheit ist noch lange nicht genug nachgedacht worden. Sie ist der Ursprung allen Glückes und das Ende aller Philosophie. Komm, leg dich wieder hierher. Der Mensch liegt viel zuwenig. Er steht und sitzt dauernd herum. Das ist ungesund für das animalische Wohlbehagen. Nur wenn man liegt, ist man völlig mit sich ausgesöhnt.«
Ein Auto summte heran und fuhr vorüber. »Kleiner Mercedes«, sagte ich, ohne mich aufzurichten. »Der Vierzylinder.«
»Da kommt noch einer«, erwiderte Pat.
»Ja, ich höre es schon. Ein Renault. Hat er einen Kühler wie eine Schweineschnauze?«
»Ja.«
»Dann ist es ein Renault. Aber hör mal, jetzt kommt was Richtiges! Ein Lancia! Der jagt bestimmt die andern beiden wie ein Wolf zwei Schaflämmer! Hör nur den Motor! Wie eine Orgel!«
Der Wagen fegte vorüber. »Davon weißt du wohl mehr als drei Namen, was?« fragte Pat.
»Natürlich. Sie stimmen sogar.«
Sie lachte. »Ist das nun eigentlich traurig oder nicht?«
»Gar nicht traurig. Nur natürlich. Ein gutes Auto ist mir manchmal lieber als zwanzig Wiesen mit Blumen.«
»Verstockter Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts! Sentimental bist du wohl gar nicht...«
»Doch, du hörst es ja, mit Autos.«
Sie sah mich an. »Ich auch«, sagte sie.

Aus den Tannen rief ein Kuckuck. Pat fing an, mitzuzählen. »Wozu machst du das?« fragte ich.
»Weißt du das nicht? Sooft er ruft, so viele Jahre lebt man noch.«
»Ach so, ja. Aber da gibt es noch etwas anderes. Wenn ein Kuckuck ruft, muß man sein Geld schütteln. Dann vermehrt es sich.«
Ich holte mein Kleingeld aus der Tasche und schüttelte es kräftig zwischen den hohlen Händen.
»Das bist du«, sagte Pat und lachte. »Ich will Leben und du willst Geld.«
»Um zu leben«, erwiderte ich. »Ein echter Idealist strebt nach Geld. Geld ist gemünzte Freiheit. Und Freiheit ist Leben.«
»Vierzehn«, zählte Pat. »Du hast schon mal anders darüber gesprochen.«
»Das war in meiner dunklen Zeit. Man sollte über Geld nicht verächtlich reden. Geld macht viele Frauen sogar verliebt. Die Liebe dagegen macht viele Männer geldgierig. Geld fördert also die Ideale — Liebe dagegen den Materialismus.«
»Du hast heute einen guten Tag«, erwiderte Pat. »Fünfunddreißig.«
»Der Mann«, erklärte ich weiter, »wird nur geldgierig durch die Wünsche der Frauen. Wenn es keine Frauen gäbe, würde es auch kein Geld geben, und die Männer wären ein heroisches Geschlecht. Im Schützengraben gab es keine Frauen — da spielte es auch keine große Rolle, was jemand irgendwo an Besitz hatte —, es kam nur darauf an, was er als Mann war. Das soll nicht für den Schützengraben sprechen — es soll nur die Liebe richtig beleuchten. Sie weckt die schlechten Instinkte des Mannes — den Drang nach Besitz, nach Geltung, nach Verdienen, nach Ruhe. Nicht umsonst sehen Diktatoren es gern, wenn ihre Mitarbeiter verheiratet sind — sie sind so weniger gefährlich. Und nicht umsonst haben die katholischen Priester keine Frauen — sie wären sonst nie so kühne Missionare geworden.«
»Du hast heute sogar einen fabelhaften Tag«, sagte Pat anerkennend. »Zweiundfünfzig.«
Ich steckte mein Geld wieder in die Tasche und zündete mir eine Zigarette an. »Willst du noch nicht bald mit dem Zählen aufhören?« fragte ich. »Du kommst schon weit über siebzig Jahre.«
»Hundert, Robby! Hundert ist eine gute Zahl. So weit möchte ich kommen.«
»Alle Achtung, das ist Mut! Aber was willst du nur damit anfangen?«
Sie streifte mich mit einem raschen Blick. »Das werde ich schon sehen. Ich habe ja andere Ansichten darüber als du.«
»Das sicher. Übrigens sollen nur die ersten siebzig die schwierigsten sein. Nachher soll's einfacher werden.«
»Hundert!« verkündete Pat, und wir brachen auf.

Das Meer kam uns entgegen wie ein ungeheures silbernes Segel. Schon lange vorher spürten wir seinen salzigen Hauch — der Horizont wurde immer weiter und heller, und plötzlich lag es vor uns, unruhig, mächtig und ohne Ende.
Die Straße führte in einem Bogen bis dicht heran. Dann kam ein Wald und hinter ihm ein Dorf. Wir erkundigten uns nach dem Hause, wo wir wohnen sollten. Es lag ein Stück außerhalb des Dorfes. Köster hatte uns die Adresse gegeben. Er war nach dem Kriege ein Jahr lang dort gewesen.
Es war eine kleine, alleinstehende Villa. Ich fuhr den Citroen in elegantem Bogen vor und gab Signal. Ein breites Gesicht erschien hinter einem der Fenster, glotzte bleich einen Augenblick und verschwand. »Hoffentlich ist das nicht Fräulein Müller«, sagte ich.
»Ganz egal, wie sie aussieht«, erwiderte Pat.
Die Tür öffnete sich. Gottlob, es war nicht Fräulein Müller. Es war das Dienstmädchen. Fräulein Müller, die Besitzerin des Hauses, erschien eine Minute später. Eine altjüngferliche, zierliche Dame mit grauen Haaren. Sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid und ein goldenes Kreuz als Brosche.
»Zieh zur Vorsicht die Strümpfe wieder 'rauf, Pat«, flüsterte ich nach einem Blick auf die Brosche und stieg aus.
»Ich glaube, Herr Köster hat uns schon angemeldet«, sagte ich.
»Ja, er hat mir telegrafiert, daß Sie kommen.« Sie musterte mich eingehend. »Wie geht es Herrn Köster denn?«
»Ach, ganz gut — soweit man das heute sagen kann.«
Sie nickte und musterte mich weiter. »Kennen Sie ihn schon lange?« Das wird ja ein Examen, dachte ich und gab Auskunft, wie lange ich Otto schon kannte. Sie schien zufrieden zu sein. Pat kam heran. Sie hatte die Strümpfe heraufgezogen. Fräulein Müllers Blick wurde milder. Pat schien mehr Gnade vor ihr zu finden als ich. »Haben Sie noch Zimmer für uns?« fragte ich.
»Wenn Herr Köster telegrafiert, bekommen Sie immer ein Zimmer«, erklärte Fräulein Müller und sah mich etwas abfällig an. »Sie bekommen sogar mein schönstes«, sagte sie zu Pat.
Pat lächelte. Fräulein Müller lächelte auch. »Ich werde es Ihnen zeigen«, sagte sie.
Beide gingen nebeneinander einen schmalen Weg entlang, der durch einen kleinen Garten führte. Ich trottete hinterher und schien ziemlich überflüssig zu sein, denn Fräulein Müller wandte sich nur an Pat.
Das Zimmer, das sie uns zeigte, lag im unteren Stock. Es hatte einen eigenen Eingang vom Garten her. Das gefiel mir sehr. Es war ziemlich groß, hell und freundlich. An einer Seite, in einer Art von Nische, standen zwei Betten.
»Nun?« fragte Fräulein Müller.
»Sehr schön«, sagte Pat. »Prachtvoll sogar«, fügte ich hinzu, um mich einzuschmeicheln. »Und wo ist das andere?«
Fräulein Müller drehte sich langsam zu mir herum. »Das andere? Was für ein anderes? Wollen Sie denn ein anderes? Gefällt Ihnen dieses nicht?«
»Es ist einfach herrlich«, erwiderte ich, »aber...«
»Aber?« sagte Fräulein Müller etwas spitz — »leider habe ich kein besseres als dieses.«
Ich wollte ihr gerade erklären, daß wir zwei Einzelzimmer brauchten, da fügte sie schon hinzu: »Ihre Frau findet es doch sehr schön.«
Ihre Frau — ich hatte das Gefühl, als wäre ich einen Schritt zurückgetreten. Aber ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt. Vorsichtig warf ich einen Blick auf Pat, die am Fenster lehnte und ein Lachen unterdrückte, als sie mich so dastehen sah. »Meine Frau, gewiß...«, sagte ich und starrte auf das goldene Kreuz an Fräulein Müllers Hals. Es war nichts zu machen, ich durfte sie nicht aufklären. Sie wäre mit einem Schrei in Ohnmacht gefallen. »Wir sind nur gewohnt, in zwei Zimmern zu schlafen«, sagte ich. »Jeder in einem, meine ich.«
Mißbilligend schüttelte Fräulein Müller den Kopf, »Zwei Schlafzimmer, wenn man verheiratet ist — das sind so neue Moden...«
»Gar nicht«, sagte ich, bevor sie mißtrauisch werden konnte. »Meine Frau hat nur einen sehr leisen Schlaf. Und ich schnarche leider ziemlich laut.«
»Ach so, Sie schnarchen!« erwiderte Fräulein Müller, als hätte sie sich das längst denken können.
Ich fürchtete, sie würde mir jetzt ein Zimmer oben im zweiten Stock geben wollen, aber die Ehe schien ihr heilig zu sein. Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer nebenan, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand.
»Großartig«, sagte ich, »das genügt vollkommen. Aber störe ich auch niemanden sonst?« Ich wollte wissen, ob wir hier unten für uns allein waren.
»Sie stören niemand«, erklärte Fräulein Müller, und die Würde fiel plötzlich von ihr ab. »Außer Ihnen wohnt niemand hier. Die anderen Zimmer sind alle leer.« Sie stand einen Augenblick, dann raffte sie sich zusammen. »Wollen Sie hier im Zimmer essen oder im Speisezimmer?«
»Hier«, sagte ich.
Sie nickte und ging.
»Na, Frau Lohkamp«, sagte ich zu Pat. »Da sitzen wir drin. Aber ich habe mich nicht getraut, der alte Teufel hatte so was Kirchliches an sich. Ich schien ihm auch nicht zu gefallen. Komisch, dabei habe ich sonst bei alten Damen immer Glück.«
»Das war keine alte Dame, Robby. Das war ein sehr nettes, altes Fräulein.«
»Nett?« Ich hob die Achseln. »Aber immerhin, Haltung hatte sie. Kein Mensch im Hause und dieses hoheitsvolle Benehmen!«
»So hoheitsvoll war sie gar nicht...«
»Gegen dich nicht.«
Pat lachte. »Mir hat sie gut gefallen. Aber jetzt wollen wir die Koffer holen und die Badesachen auspacken.«

Ich hatte eine Stunde geschwommen und lag am Strande in der Sonne. Pat war noch im Wasser. Ihre weiße Badekappe tauchte ab und zu zwischen dem blauen Schwall der Wellen auf. Ein paar Möwen kreischten. Am Horizont zog langsam ein Dampfer mit wehender Rauchfahne vorüber.
Die Sonne brannte. Sie zerschmolz jeden Widerstand zu schläfrig gedankenloser Hingabe. Ich schloß die Augen und streckte mich lang aus. Der heiße Sand knisterte. Das Geräusch der schwachen Brandung rauschte mir in den Ohren. Es erinnerte mich an etwas, an einen heißen Tag, wo ich ebenso gelegen hatte — Es war im Sommer 1917 gewesen. Unsere Kompanie lag damals in Flandern, und wir hatten unverhofft ein paar Tage Urlaub nach Ostende bekommen, Meyer, Holthoff, Breyer, Lütgens, ich und noch einige andere. Die meisten von uns waren noch nie am Meere gewesen, und diese wenigen Tage, diese fast unbegreifliche Pause zwischen Tod und Tod, wurden zu einer wilden Hingabe an Sonne, Sand und Meer. Wir blieben den ganzen Tag am Strande, wir dehnten unsere nackten Körper in der Sonne — denn Nacktsein, nicht Bepacktsein mit den Waffen und der Uniform, das hieß schon soviel wie Frieden —, wir tobten am Strande herum und stürmten immer wieder in das Meer hinein, wir spürten unsere Glieder, unseren Atem, unsere Bewegungen mit der ganzen Stärke, die die Dinge des Lebens in dieser Zeit hatten, wir vergaßen alles in diesen Stunden und wollten auch alles vergessen. Aber abends, in der Dämmerung, wenn die Sonne fort war und die grauen Schatten vom Horizont her über das erblassende Meer liefen, dann mischte sich langsam in das Brausen der Brandung ein anderer Ton, er wurde stärker und übertönte es schließlich wie eine dumpfe Drohung: der Kanonendonner der Front. Dann kam es vor, daß plötzlich ein fahles Schweigen die Gespräche unterbrach, daß die Köpfe sich lauschend hoben und daß aus den fröhlichen Gesichtern müde gespielter Knaben jäh wieder das harte Antlitz der Soldaten hervorsprang, ergreifend überweht für einen Augenblick noch von einem Erstaunen, einer Schwermut, in der alles war, was nie ausgesprochen wurde: Mut und Bitterkeit und Lebensgier, der Wille zur Pflicht, die Verzweiflung, die Hoffnung und die rätselhafte Trauer der früh Gezeichneten. Ein paar Tage später begann die große Offensive, und schon am dritten Juli hatte die Kompanie nur noch zweiunddreißig Mann, und Meyer, Holthoff und Lütgens waren tot. — »Robby!« rief Pat.
Ich öffnete die Augen. Einen Moment mußte ich mich besinnen, wo ich war. Immer, wenn Erinnerungen aus dem Kriege kamen, war man gleich weit weg. Bei andern nicht.
Ich richtete mich auf. Pat kam aus dem Wasser. Sie ging gerade vor der Bahn der Sonne auf dem Meer, breiter Glanz floß über ihre Schultern, und sie war so umflutet von Licht, daß sie fast dunkel davor wirkte. Mit jedem Schritt den Strand hinauf wuchs sie höher in den starken Schein, bis die Sonne des späten Nachmittags hinter ihrem Kopfe stand wie eine Gloriole.
Ich sprang auf, so unwirklich, so wie aus einer anderen Welt erschien mir gerade jetzt dieses Bild — der weite blaue Himmel, die weißen Schaumreihen des Meeres und die schöne, schmale Gestalt davor —, als wäre ich allein auf der Welt und aus dem Wasser schritte die erste Frau herauf. Einen Augenblick lang empfand ich die ungeheure, stille Gewalt der Schönheit und spürte, daß sie stärker war als alle blutige Vergangenheit, daß sie stärker sein mußte, daß die Welt sonst zusammenbrechen würde, daß sie sonst ersticken müßte in ihrer furchtbaren Verwirrung. Und mehr als das noch empfand ich, daß ich da war, einfach da war, und daß Pat da war, daß ich lebte, daß ich herausgekommen war aus dem Grauen, daß ich Augen hatte und Hände und Gedanken und die heißen Wellen des Blutes und daß alles das ein unbegreifliches Wunder war.
»Robby!« rief Pat noch einmal und winkte.
Ich griff ihren Bademantel vom Boden auf und ging ihr rasch entgegen. »Du bist viel zu lange im Wasser gewesen«, sagte ich.
»Ich bin ganz warm«, erwiderte sie atemlos.
Ich küßte sie auf die feuchte Schulter. »Anfangs mußt du etwas vernünftiger sein.«
Sie schüttelte den Kopf und sah mich strahlend an. »Ich bin lange genug vernünftig gewesen.«
»So?«
»Natürlich. Viel zu lange! Ich will endlich einmal unvernünftig sein!« Sie lachte und legte ihre Wange an mein Gesicht. »Wir wollen unvernünftig sein, Robby! An nichts denken, an überhaupt nichts denken, nur an uns und die Sonne und die Ferien und das Meer!«
»Gut«, sagte ich und nahm das Frottiertuch. »Zunächst will ich dich mal trockenreiben. Woher bist du eigentlich schon so braun?«
Sie zog den Bademantel an. »Das stammt noch aus meinem vernünftigen Jahr. Da mußte ich jeden Tag auf dem Balkon eine Stunde in der Sonne liegen. Und abends um acht Uhr schlafen gehen. Heute abend gehe ich um acht Uhr noch einmal baden.«
»Das werden wir sehen«, sagte ich. »In Vorsätzen ist der Mensch immer groß. Im Ausführen nicht. Darin liegt sein Scharm.«

Mit dem Baden abends wurde es nichts. Wir machten noch einen Gang zum Dorf und eine Fahrt mit dem Citroen durch die Dämmerung — dann wurde Pat plötzlich sehr müde und verlangte nach Hause. Ich hatte das schon oft bei ihr gesehen — dieses rasche Abfallen von strahlender Lebendigkeit zu jäher Müdigkeit. Sie hatte nicht viel Kraft und gar keine Reserven — dabei wirkte sie gar nicht so. Sie verbrauchte immer alles, was sie an Lebenskraft in sich hatte, und schien dann unerschöpflich zu sein in ihrer geschmeidigen Jugend — aber auf einmal kam dann der Augenblick, wo ihr Gesicht blaß wurde und ihre Augen sich tief verschatteten —, dann war es zu Ende. Sie wurde nicht langsam müde, sie wurde es von einer Sekunde zur andern.
»Fahren wir nach Hause, Robby«, sagte sie, und ihre dunkle Stimme war noch tiefer als sonst.
»Nach Hause? Zu Fräulein Elfriede Müller mit dem goldenen Kreuz auf der Brust? Wer weiß, was sich der Teufel inzwischen wieder ausgedacht hat.«
»Nach Hause, Robby«, sagte Pat und lehnte sich müde an meine Schulter. »Es ist unser Zuhause.«
Ich nahm eine Hand vom Steuerrad und legte sie um ihre Schultern. So fuhren wir langsam durch die blaue, neblige Dämmerung, und als wir schließlich die erleuchteten Fenster des kleinen Hauses erblickten, das sich in die flache Talmulde einschmiegte wie ein dunkles Tier, war wirklich etwas wie Nachhausekommen dabei.
Fräulein Müller erwartete uns bereits. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt statt des schwarzen Wollkleides ein schwarzes Seidenkleid von gleichem, puritanischem Schnitt. Dazu statt des Kreuzes ein Emblem von Herz, Anker und Kreuz gleichzeitig — das kirchliche Symbol für Glaube, Hoffnung und Liebe.
Sie war bedeutend freundlicher als nachmittags und fragte, ob es recht sei, daß sie als Abendessen Eier, kaltes Fleisch und geräucherten Fisch vorbereitet habe.
»Na ja«, sagte ich.
»Gefällt es Ihnen nicht? Es sind ganz frisch geräucherte Flundern.« Sie schaute mich etwas ängstlich an.
»Gewiß«, sagte ich kühl.
»Frisch geräucherte Flundern müssen herrlich schmecken«, erklärte Pat und blickte vorwurfsvoll zu mir herüber. »Ein richtiges Nachtessen, wie man es sich nur wünschen kann am ersten Tag an der See, Fräulein Müller. Wenn es noch ordentlich heißen Tee dazu gäbe...«
»Doch, doch! Ganz heißen Tee! Gern! Ich lasse alles gleich bringen.« Fräulein Müller raschelte erleichtert eilig in ihrem Seidenkleid davon.
»Magst du wirklich keinen Fisch?« fragte Pat.
»Und wie! Flundern! Davon habe ich schon seit Tagen geträumt.«
»Und dann tust du so erhaben? Das ist aber stark!«
»Ich mußte ihr doch den Empfang von heute nachmittag heimzahlen.« »Ach du lieber Gott!« Pat lachte. »Daß du auch ja nichts ausläßt! Ich hatte das schon längst vergessen.« »Ich nicht«, sagte ich. »Ich vergesse nicht so leicht.« »Das solltest du aber.« Das Dienstmädchen kam mit dem Tablett. Die Flundern hatten eine Haut wie Goldtopas und rochen wunderbar nach See und Rauch. Es waren auch noch frische Garnelen dabei. »Ich fange an zu vergessen«, sagte ich schwärmerisch. »Außerdem merke ich, daß ich einen Riesenhunger habe.«
»Ich auch. Aber gib mir erst rasch etwas heißen Tee. Es ist merkwürdig, aber mich friert. Dabei ist es doch ganz warm draußen.«
Ich sah sie an. Sie war blaß, obschon sie lächelte. »Kein Wort jetzt über zu langes Baden«, sagte ich und fragte das Dienstmädchen: »Haben Sie etwas Rum?«
»Was?«
»Rum. Ein Getränk in Flaschen.«
»Rum?«
»Ja.«
»Nee.«
Sie glotzte ausdruckslos mit ihrem Vollmondsgesicht aus Kuchenteig. »Nee«, sagte sie noch einmal. »Gut«, erwiderte ich. »Macht auch nichts. Leben Sie wohl. Gott mit Ihnen.« Sie verschwand. »Welch ein Glück, Pat, daß wir weitsichtige Freunde haben«, sagte ich. »Lenz hat mir da heute morgen noch rasch beim Wegfahren ein ziemlich schweres Paket in den Wagen gestopft. Wollen mal nachsehen, was drin ist.«
Ich holte das Paket aus dem Wagen. Es war eine kleine Kiste mit zwei Flaschen Rum, einer Flasche Kognak und einer Flasche Portwein. Ich hob sie hoch. »St.-James-Rum sogar! Auf die Jungens kann man sich verlassen!«
Ich korkte die Flasche auf und goß Pat einen guten Schuß in den Tee. Dabei sah ich, daß ihre Hand etwas zitterte. »Friert dich wirklich so?« fragte ich.
»Nur einen Augenblick. Jetzt ist es schon besser. Der Rum ist gut. Aber ich geh' bald zu Bett.«
»Tu das gleich, Pat«, sagte ich, »wir schieben den Tisch dann heran und essen so.«
Sie ließ sich überreden. Ich holte ihr noch eine Decke von meinem Bett und rückte den Tisch zurecht. »Willst du vielleicht einen ordentlichen Grog haben, Pat? Das ist noch besser. Ich kann rasch einen machen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich schon wieder wohl.«
Ich blickte sie an. Sie sah wirklich schon besser aus. Ihre Augen hatten wieder Glanz, der Mund war sehr rot, und die Haut schimmerte matt. »Fabelhaft, wie schnell das geht«, sagte ich. »Das ist sicher der Rum.«
Sie lächelte. »Es ist auch das Bett, Robby. Ich erhole mich am besten im Bett. Das ist meine Zuflucht.«
»Merkwürdig. Ich würde verrückt, wenn ich so früh im Bett liegen müßte. Allein, meine ich.«
Sie lachte. »Für eine Frau ist das etwas anderes.«
»Sag nicht für eine Frau. Du bist keine Frau.«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht. Aber keine Frau. Wenn du eine richtige, normale Frau wärest, könnte ich dich nicht lieben.«
Sie sah mich an. »Kannst du überhaupt lieben?«
»Na«, sagte ich, »das ist allerhand beim Abendessen. Hast du noch mehr solcher Fragen?«
»Vielleicht. Aber wie ist es mit dieser?«
Ich schenkte mir ein Glas Rum ein. »Prost, Pat! Kann sein, daß du recht hast. Vielleicht können wir es alle nicht. So wie früher, meine ich. Aber es ist darum nicht schlechter. Nur anders. Man sieht es nicht so.«
Es klopfte. Fräulein Müller kam herein. Sie hatte einen winzigen Glaskrug in der Hand, in dem ein bißchen Flüssigkeit hin und her schaukelte. »Hier bringe ich Ihnen den Rum.«
»Danke«, sagte ich und betrachtete gerührt den gläsernen Fingerhut.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber wir haben uns schon geholfen.«
»O Gott!« Sie beschaute erschreckt die vier Flaschen auf dem Tisch. »Trinken Sie so viel?«
»Nur als Medizin«, erwiderte ich sanft und vermied es, Pat anzusehen. »Vom Arzt verschrieben. Ich habe eine zu trockene Leber, Fräulein Müller. Aber wollen Sie uns nicht die Ehre geben?«
Ich machte die Portweinflasche auf. »Auf Ihr Wohl! Daß das Haus bald voller Gäste ist.«
»Danke vielmals!« Sie seufzte, machte eine kleine Verbeugung und nippte wie ein Vogel. »Auf gute Ferien!« Dann lächelte sie mir verschmitzt zu. »Der ist aber stark. Und gut.«
Mir fiel vor Erstaunen über diese Wandlung fast das Glas aus der Hand. Fräulein Müller bekam rote Bäckchen und blitzende Augen und fing an zu reden von allerlei Dingen, die uns nicht interessierten. Pat hatte eine Engelsgeduld mit ihr. Schließlich wandte sie sich an mich. »Herrn Köster geht es also gut?«
Ich nickte.
»Er war immer so ruhig damals«, sagte sie. »Oft sprach er tagelang kein Wort. Tut er das jetzt auch noch?«
»Na, jetzt redet er schon manchmal.«
»Er war fast ein Jahr hier. Immer allein...«
»Ja«, sagte ich. »Dann redet man immer weniger.«
Sie nickte ernsthaft und sah zu Pat hinüber. »Sie sind sicher müde.«
»Etwas«, sagte Pat.
»Sehr«, fügte ich hinzu.
»Dann will ich nur gehen«, erwiderte sie erschreckt. »Gute Nacht also! Schlafen Sie gut!«
Sie ging zögernd.
»Ich glaube, die wäre am liebsten noch länger geblieben«, sagte ich.
»Komisch, auf einmal, was?«
»Das arme Geschöpf«, erwiderte Pat. »Sitzt sicher jeden Abend allein in ihrem Zimmer und hat Sorgen.«
»Ach so, ja...«, sagte ich. »Aber ich denke, daß ich mich alles in allem doch ganz nett zu ihr benommen habe.«
»Das hast du.« Sie strich mir über die Hand. »Mach die Tür ein bißchen auf, Robby.«
Ich ging hin und öffnete die Tür. Draußen war es klarer geworden, und ein Streifen Mondlicht fiel über den Weg hinweg bis in das Zimmer. Es war, als hätte der Garten nur darauf gewartet, daß die Tür geöffnet würde — so stark drang sofort der Nachtduft der Blumen herein, der süße Geruch von Goldlack, Reseda und Rosen. Er erfüllte das ganze Zimmer.
»Sieh nur«, sagte ich und zeigte hinaus.
Man konnte im voller werdenden Mondlicht den ganzen Gartenweg entlang sehen. Die Blumen standen mit geneigten Stengeln am Rande, die Blätter hatten die Farbe oxydierten Silbers, und die Blüten, die am Tage bunt geleuchtet hatten, schimmerten jetzt in matten Pastelltönen geisterhaft und zart. Das Mondlicht und die Nacht hatten ihren Farben die Kraft genommen — dafür aber war ihr Duft voller und süßer als jemals am Tage.
Ich sah zu Pat hinüber. Zart und schmal und zerbrechlich lag ihr Kopf mit dem dunklen Haar auf den weißen Kissen. Sie hatte nicht viel Kraft — aber auch sie hatte das Geheimnis des Zerbrechlichen, das Geheimnis der Blumen in der Dämmerung und im schwebenden Licht des Mondes.
Sie richtete sich ein wenig auf. »Ich bin wirklich sehr müde, Robby. Ist das schlimm?«
Ich setzte mich zu ihr an das Bett. »Gar nicht. Du wirst gut schlafen.«
»Aber du willst doch noch nicht schlafen.«
»Ich gehe dann noch etwas an den Strand.«
Sie nickte und legte sich zurück. Ich blieb noch eine Weile sitzen. »Laß die Tür über Nacht offen«, sagte sie schlaftrunken. »Das ist, als ob man im Garten schläft...«
Sie begann tiefer zu atmen, und ich stand leise auf und ging in den Garten hinaus. Neben dem Holzzaun blieb ich stehen und rauchte eine Zigarette. Ich konnte von hier in das Zimmer hineinsehen. Pats Bademantel hing über einem Stuhl, ihr Kleid und ein bißchen Wäsche waren darübergeworfen, und auf dem Boden, vor dem Stuhl, standen ihre Schuhe. Einer war umgekippt. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl von Heimat, als ich das so sah, und ich dachte daran, daß nun jemand da war und dasein würde, daß ich nur wenige Schritte zu machen brauchte, um ihn zu sehen und bei ihm zu sein, heute, morgen und auf lange Zeit vielleicht...
Vielleicht, dachte ich, vielleicht — immer dieses Wort, ohne das man nicht mehr auskam! Es war die Sicherheit, die einem fehlte — es war die Sicherheit, die allem und allen fehlte.
Ich ging zum Strand hinunter, zum Meer und zum Wind, zu dem dumpfen Brausen, das wie ferner Kanonendonner heraufscholl.

17

XVI

Ich saß am Strande und sah zu, wie die Sonne unterging. Pat war nicht mitgekommen. Sie hatte sich den Tag über nicht wohl gefühlt. Als es dunkel wurde, stand ich auf, um nach Hause zu gehen. Da sah ich hinter dem Walde das Dienstmädchen herankommen. Es winkte und rief etwas. Ich verstand es nicht; der Wind und das Meer waren zu laut. Ich winkte zurück, sie solle stehenbleiben, ich käme schon. Aber sie lief weiter und hob die Hände zum Mund. »Frau...«, verstand ich — »rasch...«
Ich lief. »Was ist los?«
Sie jappte nach Luft. »Rasch — Frau — Unglück...«
Ich rannte den Sandweg entlang, durch den Wald, dem Hause zu. Das hölzerne Gartentor verhedderte sich, ich sprang hinüber und stürzte ins Zimmer. Da lag Pat auf dem Bett, mit blutiger Brust und gekrampften Händen, und Blut lief ihr aus dem Munde. Neben ihr stand Fräulein Müller mit Tüchern und einer Schale Wasser.
»Was ist los?« rief ich und schob sie beiseite.
Sie sagte etwas. »Bringen Sie Verbandzeug!« rief ich. »Wo ist die Wunde?«
Sie sah mich mit zitternden Lippen an. »Es ist keine Wunde —«
Ich richtete mich auf. »Ein Blutsturz«, sagte sie.
Mir war, als hätte ich einen Hammerschlag erhalten. »Ein Blutsturz?« Ich sprang auf und nahm ihr die Schüssel mit Wasser aus der Hand. »Holen Sie Eis, holen Sie rasch etwas Eis.«
Ich tauchte das Handtuch in die Schüssel und legte es Pat auf die Brust. »Wir haben kein Eis im Hause«, sagte Fräulein Müller.
Ich drehte mich um. Sie wich zurück. »Holen Sie Eis, um Gottes willen, schicken Sie zur nächsten Kneipe, und telefonieren Sie sofort dem Arzt!«
»Wir haben doch kein Telefon...«
»Verflucht! Wo ist das nächste Telefon?«
»Bei Maßmann.«
»Laufen Sie hin. Schnell. Telefonieren Sie sofort an den nächsten Arzt. Wie heißt er? Wo wohnt er?« Ehe sie einen Namen nannte, schob ich sie hinaus.
»Schnell, schnell, laufen Sie rasch! Wie weit ist es?«
»Drei Minuten«, sagte die Frau und hastete los.
»Bringen Sie Eis mit!« rief ich ihr nach.
Sie nickte und lief.
Ich holte Wasser und tauchte das Handtuch wieder ein. Ich wagte nicht, Pat anzurühren. Ich wußte nicht, ob sie richtig lag, ich war verzweifelt, weil ich es nicht wußte, das einzige, was ich wissen mußte: ob ich ihr das Kissen unter den Kopf schieben oder sie flach hinlegen sollte.
Sie röchelte, dann bäumte sie sich, und ein Schuß Blut quoll aus ihrem Munde. Sie atmete hoch und jammernd ein, ihre Augen waren unmenschlich entsetzt, sie verschluckte sich und hustete, und wieder spritzte das Blut, ich hielt sie fest und gab nach, die Hand unter ihrer Schulter, ich spürte die Erschütterungen ihres armen gequälten Rückens, es schien endlos zu dauern, dann fiel sie schlapp zurück...
Fräulein Müller trat ein. Sie sah mich an wie ein Gespenst.
»Was sollen wir machen?« rief ich.
»Der Arzt kommt sofort«, flüsterte sie, »Eis — auf die Brust, und wenn es geht, in den Mund...«
»Tief oder hoch legen, so reden sie doch, himmelverflucht, rasch.«
»So lassen — er kommt sofort...«
Ich packte Pat die Eisstücke auf die Brust, erlöst, daß ich etwas tun konnte, ich schlug Eis klein für Kompressen und legte sie auf und sah immer nur diesen süßen, geliebten, verzerrten Mund, diesen einzigen Mund, diesen blutenden Mund...
Da rasselte ein Fahrrad. Ich sprang hoch. Der Arzt. »Kann ich helfen?« fragte ich. Er schüttelte den Kopf und packte seine Tasche aus. Ich stand dicht bei ihm am Bett und umklammerte die Pfosten. Er sah auf. Ich ging einen Schritt zurück und behielt ihn fest im Auge. Er betrachtete die Rippen Pats. Pat stöhnte.
»Ist es gefährlich?« fragte ich.
»Wo war Ihre Frau in Behandlung?« fragte er zurück.
»Was? In Behandlung?« stotterte ich.
»Bei welchem Arzt?« fragte er ungeduldig.
»Ich weiß nicht —«, antwortete ich — »nein, ich weiß nichts — ich glaube nicht...« Er sah mich an. »Das müssen Sie doch wissen...« »Ich weiß es aber nicht. Sie hat mir nie etwas davon gesagt.« Er beugte sich zu Pat hinunter und fragte. Sie wollte antworten. Aber wieder brach der Husten rot durch. Der Arzt fing sie auf. Sie biß in die Luft und holte pfeifend Atem. »Jaffé«, stieß sie gurgelnd hervor. »Felix Jaffé? Professor Felix Jaffé?« fragte der Arzt. Sie nickte mit den Augen. Er wendete sich zu mir. »Können Sie ihm telefonieren? Es ist besser, ihn zu fragen.«
»Jaja«, antwortete ich, »ich werde sofort. Ich hole Sie dann! Jaffé?«
»Felix Jaffé«, sagte der Arzt, »verlangen Sie bei der Auskunft die Nummer.«
»Kommt sie durch?« fragte ich.
»Sie muß aufhören zu bluten«, sagte der Arzt.
Ich faßte das Mädchen und rannte los, den Weg entlang. Sie zeigte mir das Haus mit dem Telefon. Ich klingelte. Eine kleine Gesellschaft saß bei Kaffee und Bier. Ich umfaßte sie mit einem kreisenden Blick und begriff nicht: daß Menschen Bier tranken, während Pat blutete. Ich verlangte ein dringendes Gespräch und wartete am Apparat. Während ich in die surrende Dunkelheit hineinhorchte, sah ich durch die Portieren den Ausschnitt des anderen Zimmers wolkig und überdeutlich. Ich sah eine Glatze hin und her schwanken, gelb vom Licht bespiegelt, ich sah eine Brosche auf dem schwarzen Taft eines geschnürten Kleides und ein Doppelkinn mit einem Kneifer und aufgetürmter Frisur darüber — eine knochige, alte Hand mit dicken Adern, die auf den Tisch trommelte —, ich wollte es nicht sehen, aber es war, als ob ich wehrlos sei: Es drang in meine Augen wie überstarkes Licht.
Endlich meldete sich die Nummer. Ich fragte nach dem Professor.
»Bedaure«, sagte die Schwester, »Professor Jaffé ist ausgegangen.«
Mein Herz hörte auf zu schlagen und haute dann wie ein Schmiedehammer los. »Wo ist er denn? Ich muß ihn sofort sprechen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er noch einmal in die Klinik gegangen.«
»Bitte, rufen Sie die Klinik an. Ich warte hier. Sie haben doch noch einen zweiten Apparat.«
»Einen Moment.« Das Sausen setzte wieder ein, die bodenlose Dunkelheit, über der hur der dünne Metallfaden schwebte. Ich zuckte zusammen. Neben mir, in einem verhängten Bauer fing ein Kanarienvogel an zu zirpen. Die Stimme der Schwester kam wieder. »Professor Jaffé ist aus der Klinik schon fortgegangen.«
»Wohin?«
»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen, mein Herr.«
Aus. Ich lehnte mich an die Wand. »Hallo!« sagte die Schwester, »sind Sie noch da?« »Ja — hören Sie, Schwester, Sie wissen nicht, wann er zurückkommt?«
»Das ist ganz unbestimmt.«
»Hinterläßt er das denn nicht? Das muß er doch. Wenn mal was passiert, muß er doch zu erreichen sein.«
»Es ist ein Arzt in der Klinik.«
»Können Sie denn den« — nein, es hatte ja keinen Zweck, der wußte es ja nicht — »gut, Schwester«, sagte ich todmüde, »wenn Professor Jaffé kommt, bitten Sie ihn, sofort dringend hier anzurufen.« Ich sagte ihr die Nummer. »Aber bitte, dringend, Schwester.«
»Sie können sich darauf verlassen, mein Herr.« Sie wiederholte die Nummer und hängte ab.
Ich stand da, allein. Die schwankenden Köpfe, die Glatze, die Brosche, das andere Zimmer waren weit weg, glänzender Gummi, der schwankte. Ich sah mich um. Ich war fertig hier. Ich brauchte den Leuten nur noch zu sagen, daß sie mich holten, wenn angerufen wurde. Aber ich konnte mich nicht entschließen, das Telefon loszulassen. Es war, als ließe ich ein Rettungsseil los. Und plötzlich hatte ich es. Ich hob den Hörer wieder ab und sagte Kösters Nummer hinein. Er mußte da sein. Es ging einfach nicht anders.
Und da kam sie, aus dem Gebrodel der Nacht, die ruhige Stimme Kösters. Ich wurde sofort selbst ruhig und sagte ihm alles. Ich fühlte, er schrieb schon mit.
»Gut«, sagte er, »ich fahre sofort los, ihn zu suchen. Ich rufe an. Sei ruhig. Ich finde ihn.«
Vorbei. Vorbei? Die Welt stand still. Der Spuk war aus. Ich lief zurück.
»Nun?« fragte der Arzt, »haben Sie ihn erreicht?«
»Nein«, sagte ich, »aber ich habe Köster erreicht.«
»Köster? Kenne ich nicht! Was hat er gesagt? Wie hat er sie behandelt?«
»Behandelt? Behandelt hat er sie nicht. Köster sucht ihn.«
»Wen?«
»Jaffé.«
»Herrgott, wer ist denn dieser Köster?«
»Ach so — entschuldigen Sie. Köster ist mein Freund. Er sucht Professor Jaffé. Ich konnte ihn nicht erreichen.«
»Schade«, sagte der Arzt und wandte sich wieder Pat zu.
»Er wird ihn erreichen«, sagte ich. »Wenn er nicht tot ist, wird er ihn erreichen.«
Der Arzt sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Dann zuckte er die Achseln.
Das Licht der Lampe brütete im Zimmer. Ich fragte, ob ich helfen könne. Der Arzt schüttelte den Kopf. Ich starrte aus dem Fenster. Pat röchelte. Ich schloß das Fenster und stellte mich in die Tür. Ich beobachtete den Weg.
Plötzlich hörte ich rufen. »Telefon!«
Ich drehte mich um. »Telefon. Soll ich hingehen?«
Der Arzt sprang auf. »Nein, ich. Ich kann ihn besser fragen. Bleiben Sie hier. Tun Sie nichts weiter. Ich komme sofort wieder.«
Ich setzte mich zu Pat an das Bett. »Pat«, sagte ich leise. »Wir sind alle da. Wir passen auf. Es wird dir nichts passieren. Es darf dir nichts passieren. Der Professor spricht jetzt schon. Er sagt uns alles. Morgen kommt er sicher selbst. Er wird dir helfen. Du wirst gesund werden. Weshalb hast du mir denn nie etwas davon gesagt, daß du noch krank bist? Das bißchen Blut ist nicht schlimm, Pat. Wir geben es dir wieder. Köster hat den Professor geholt, jetzt ist alles gut, Pat.«
Der Arzt kam zurück. »Es war nicht der Professor...«
Ich stand auf.
»Es war ein Freund von Ihnen, Lenz.«
»Köster hat ihn nicht gefunden?«
»Doch. Er hat ihm Anweisungen gegeben. Ihr Freund Lenz hat sie mir telefoniert. Ganz klar und richtig sogar. Ist Ihr Freund Lenz Arzt?« »Nein. Er wollte es werden. Und Köster?« Der Arzt sah mich an. »Lenz hat telefoniert, Köster sei vor wenigen Minuten abgefahren. Mit dem Professor.« Ich mußte mich anlehnen. »Otto«, sagte ich. »Ja«, fügte der Arzt hinzu, »das ist das einzige, was er falsch gesagt hat. Er hat gemeint, sie wären in zwei Stunden hier. Ich kenne die Strecke. Sie brauchen bei schärfster Fahrt über drei Stunden. Immerhin...«
»Doktor«, erwiderte ich, »Sie können sich darauf verlassen. Wenn er sagt zwei Stunden, dann ist er in zwei Stunden hier.«
»Es ist unmöglich. Die Strecke ist kurvig, und es ist Nacht.«
»Warten Sie ab«, sagte ich.
»Immerhin — wenn er dann hier ist — es ist besser, daß er kommt.«
Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich ging ins Freie. Draußen war es neblig geworden. Das Meer rauschte in der Ferne. Von den Bäumen tropfte es. Ich sah mich um. Ich war nicht mehr allein. Hinter dem Horizont im Süden heulte jetzt ein Motor. Hinter den Nebeln raste die Hilfe über die blassen Straßen, die Scheinwerfer spritzten Licht, die Reifen pfiffen und zwei Hände hielten eisern das Steuer, zwei Augen bohrten sich in das Dunkel, kalt, beherrscht: die Augen meines Freundes — Später hörte ich von Jaffé, wie es gewesen war.
Köster hatte sofort nach dem Anruf Lenz telefoniert, er solle sich bereit halten. Dann hatte er Karl geholt und war mit Lenz zur Klinik Jaffés gerast. Die Stationsschwester nahm an, der Professor sei zum Abendessen gegangen. Sie nannte Köster eine Anzahl Lokale, in den er vielleicht zu treffen wäre. Köster fuhr los. Er überfuhr alle Verkehrszeichen — er kümmerte sich nicht um die heranstürzenden Schupos. Er riß den Wagen wie ein Pferd durch den Verkehr. Im vierten Lokal fand er den Professor.
Jaffé erinnerte sich sofort. Er ließ sein Essen stehen und kam gleich mit. Sie fuhren zu seiner Wohnung, um die notwendigsten Sachen zu holen. Dies war die einzige Strecke, die Köster zwar schnell fuhr, aber nicht raste. Er wollte den Arzt nicht vorzeitig erschrecken. Unterwegs fragte Jaffé, wo Pat liege. Köster nannte einen vierzig Kilometer entfernt liegenden Ort. Er wollte den Professor nur erst einmal im Wagen haben. Alles Weitere ergab sich dann von selbst. Während Jaffé seine Tasche packte, gab er Lenz Anweisung, was zu telefonieren sei. Dann stieg er zu Köster ein.
»Ist es gefährlich?« fragte Köster.
»Ja«, sagte Jaffé.
In diesem Augenblick verwandelte sich Karl in ein weißes Gespenst. Er sprang mit einem Satz vom Start und fegte los. Er zwängte sich durch, er fuhr mit zwei Rädern über den Bürgersteig, er jagte in falscher Richtung durch Einbahnstraßen, er suchte den kürzesten Weg aus der Stadt heraus.
»Sind Sie verrückt?« rief der Professor. Köster schoß unter den hohen Stoßstangen eines Omnibusses schräg hinweg, verringerte das Gas einen Moment und ließ den Motor wieder aufheulen.
»Fahren Sie langsamer«, schrie der Arzt, »was nützt es Ihnen, wenn wir einen Unfall haben.«
»Wir werden keinen Unfall haben.«
»Wenn Sie so weiterfahren, in zwei Minuten.«
Köster riß den Wagen links an einer Elektrischen vorbei.
»Wir werden keinen Unfall haben.« Er hatte jetzt eine lange Straße zu fassen. Er sah den Arzt an. »Ich weiß selbst, daß ich Sie heil hinbringen muß. Verlassen Sie sich darauf, daß ich so fahre.«
»Aber was nützt Ihnen die Raserei schon! Sie holen ein paar Minuten heraus.«
»Nein«, sagte Köster und wich einem Lastwagen mit Steinen aus, »wir haben noch zweihundertvierzig Kilometer zu fahren.«
»Was?«
»Ja...« Der Wagen drehte sich zwischen einem Postauto und einem Autobus durch — »Ich wollte es Ihnen vorhin nicht sagen.«
»Das wäre egal gewesen«, knurrte Jaffé, »ich richte meine Hilfe nicht nach Kilometern. Fahren Sie zum Bahnhof. Wir kommen mit der Eisenbahn schneller hin.«
»Nein.« Köster hatte die Vorstadt erreicht. Der Wind riß ihm die Worte vom Mund. »Schon erkundigt — Zug fährt zu spät...« Er sah Jaffé noch einmal an, und der Arzt mußte wohl irgendwas in seinem Gesicht gesehen haben. »In Gottes Namen«, brummte er. »Ihre Freundin?«
Köster schüttelte den Kopf. Er antwortete nicht mehr. Er hatte die Schrebergärten hinter sich und kam auf die Landstraße. Der Wagen fuhr jetzt mit vollen Touren. Der Arzt kroch hinter der schmalen Windschutzscheibe zusammen. Köster schob ihm seine Lederhaube hin. Die Hupe röhrte ununterbrochen. Die Wälder warfen den Schrei zurück. Köster ging in den Dörfern mit dem Tempo nur herunter, wenn es gar nicht anders ging. Hinter dem donnernden Widerhall der ungedrosselten Explosionen schlugen die Häuserreihen zusammen wie Schattentücher, der Wagen wischte hindurch, riß sie in die fahle Helle seiner Scheinwerfer und fraß sich weiter mit dem Lichtstrudel vor sich durch die Nacht. Die Reifen begannen zu knarren — zu zischen — zu heulen — zu pfeifen — der Motor gab jetzt alles her, was er hatte. Köster lag nach vorn geduckt, sein Körper war ein einziges gewaltiges Ohr, ein Filter, der das Donnern und Pfeifen auf Geräusche durchsiebte und auf der Lauer lag nach jedem winzigen Nebenlaut, jedem verdächtigen Schurren und Schleifen, das die Panne und den Tod bergen konnte.
Die Straße wurde feucht. Auf der lehmigen Straße schwänzelte der Wagen und schleuderte. Köster mußte mit dem Tempo herunter. Dafür ging er nachher noch schärfer in die Kurven. Er fuhr nicht mehr mit dem Kopf; er fuhr nur noch mit dem Instinkt. Die Scheinwerfer leuchteten die Kurven nur zur Hälfte aus. In dem Moment, wo der Wagen drehte, war die Kurve schwarz und ohne Sicht. Köster half sich mit dem Sucher; aber der Strahl war sehr schmal. Der Arzt schwieg. Plötzlich flirrte die Luft vor den Scheinwerfern, sie bekam Farbe, blasses Silber, wolkige Schleier. Es war der einzige Augenblick, wo Jaffé Köster fluchen hörte. Eine Minute später waren sie im dichten Nebel.
Köster blendete die Scheinwerfer ab. Sie schwammen in Watte, Schatten huschten hindurch, Bäume, undeutliche Schemen in einem milchigen Meer, es gab keine Straße mehr, nur Zufall und Ungefähr, Schatten, die wuchsen und schwanden im Gebrüll des Motors.
Als sie nach zehn Minuten herauskamen, war Kösters Gesicht verfallen. Er sah Jaffé an und murmelte etwas. Dann ging er mit vollem Gas weiter, geduckt, kalt und wieder beherrscht...
Wie Blei brütete die klebrige Wärme in der Stube. »Hört es noch nicht auf?« fragte ich.
»Nein«, sagte der Arzt.
Pat sah mich an. Ich lächelte ihr zu. Es wurde eine Grimasse. »Noch eine halbe Stunde«, sagte ich.
Der Arzt blickte auf. »Noch anderthalb Stunden, wenn nicht zwei. Es regnet.«
Die Tropfen rauschten leise singend in die Blätter und Büsche des Gartens. Ich sah mit geblendeten Augen hinaus. Wie lange war das her, daß wir nachts aufgestanden waren und uns zwischen Levkojen und Goldlackbüsche gekauert hatten und Pat kleine Kinderlieder gesummt hatte. Wie lange war es her, daß der Weg weiß im Mond leuchtete und Pat wie ein schmales Tier zwischen den Büschen entlanglief...
Ich ging zum hundertsten Male vor die Tür. Es war sinnlos, ich wußte es; aber es verkürzte das Warten. Die Luft war diesig. Ich fluchte; ich wußte, was das für Köster hieß. Ein Vogel schrie durch den Dunst. »Halt's Maul!« knurrte ich. Die Geschichten von Totenvögeln fielen mir ein. »Unsinn«, sagte ich laut und fröstelte trotzdem. Ein Käfer summte irgendwo — aber er kam nicht näher — er kam nicht näher. Er summte gleichmäßig leise; jetzt setzte er einmal aus — jetzt war er wieder da — jetzt noch einmal — ich zitterte plötzlich —, das war kein Käfer, das war ein sehr weiter Wagen, der mit hohen Touren in die Kurve ging. Ich stand stocksteif, ich hielt den Atem an, um besser hören zu können: Wieder — wieder — das leise, hohe Summen, wie eine zornige Wespe. Und jetzt stärker, ich unterschied den Ton des Kompressors deutlich: Da stürzte der bis zum Zerreißen gespannte Horizont zusammen in eine weiche Unendlichkeit, er begrub die Nacht unter sich, die Angst, das Grauen — ich sprang zurück, ich hielt mich an der Tür, ich sagte: »Sie kommen! Doktor, Pat, sie kommen. Ich höre sie schon!«
Der Arzt hatte mich schon den ganzen Abend für ziemlich verrückt gehalten. Er stand auf und horchte ebenfalls. »Es wird ein anderer Wagen sein«, sagte er schließlich.
»Nein, ich kenne den Motor.«
Er sah mich gereizt an. Er schien sich für einen Autofachmann zu halten. Er war geduldig und vorsichtig wie eine Mutter mit Pat; aber sowie ich von Autos redete, funkelte er mich durch seine Brille an und wußte es besser. »Unmöglich«, sagte er kurz und ging wieder hinein.
Ich blieb draußen. Ich zitterte vor Erregung. »Karl! Karl!« sagte ich. Jetzt wechselten gedämpfte und heulende Schläge — der Wagen mußte im Dorf sein, er fuhr in irrsinnigem Tempo zwischen den Häusern durch. Jetzt wurde das Heulen schwächer; er war hinter dem Wald — und jetzt schwoll es an, rasend, jubelnd, ein heller Strich wischte durch den Nebel, die Scheinwerfer, ein Donnern, der Arzt stand fassungslos neben mir, jäh blendete uns das voll heranschießende Licht, und mit knirschendem Ruck hielt der Wagen vor der Gartentür. Ich rannte hin. Der Professor stieg gerade aus. Er beachtete mich nicht, sondern ging auf den Arzt zu. Hinter ihm kam Köster. »Wie geht es ihr?« sagte er.
»Sie blutet noch.« »Kommt vor«, sagte er, »brauchst dich noch nicht zu ängstigen.« Ich schwieg und sah ihn an. »Hast du eine Zigarette?« fragte er. Ich gab sie ihm. »Gut, daß du gekommen bist, Otto.«
Er rauchte mit tiefen Zügen. »Dachte, es wäre besser so.«
»Du bist sehr schnell gefahren.«
»Es ging. Hatte bloß ein Stück Nebel.«
Wir saßen auf der Bank nebeneinander und warteten. »Denkst du, daß sie durchkommt?« fragte ich.
»Natürlich. Eine Blutung ist nicht gefährlich.«
»Sie hat mir nie etwas davon gesagt.«
Köster nickte. »Sie muß durchkommen, Otto«, sagte ich.
Er sah nicht auf. »Gib mir noch eine Zigarette«, sagte er, »ich habe vergessen, meine einzustecken.«
»Sie muß durchkommen«, sagte ich, »sonst ist alles Scheiße.«
Der Professor kam heraus. Ich stand auf. »Verdammt will ich sein, wenn ich noch einmal mit Ihnen fahre«, sagte er zu Köster.
»Entschuldigen Sie«, sagte Köster, »es ist die Frau meines Freundes.«
»So«, sagte Jaffé und sah mich an.
»Kommt sie durch?« fragte ich.
Er betrachtete mich aufmerksam. Ich blickte zur Seite. »Glauben Sie, daß ich so lange hier bei Ihnen stünde, wenn sie nicht durchkäme?« sagte er.
Ich biß die Zähne zusammen. Ich preßte die Fäuste ineinander. Ich weinte. »Entschuldigen Sie«, sagte ich, »es geht etwas zu schnell.«
»So was kann gar nicht schnell genug gehen«, sagte Jaffé und lächelte.
»Nimm's nicht übel, Otto«, sagte ich, »daß ich flenne.«
Er drehte mich bei den Schultern um und stieß mich zur Tür hin.
»Geh mal da 'rein. Wenn der Professor es erlaubt.«
»Bin schon fertig«, sagte ich, »kann ich 'rein?«
»Ja, aber nicht sprechen«, antwortete Jaffé, »und nur einen Augenblick. Sie darf sich nicht aufregen.«
Ich sah nichts als einen schwimmenden Lichtschein im Wasser.
Ich blinzelte. Das Licht schwankte, glitzerte. Ich wagte nicht, mir die Augen zu wischen, damit Pat nicht meinte, ich weinte, weil es so schlecht stünde. Ich versuchte nur ein Lachen in das Zimmer hinein.
Dann drehte ich mich rasch wieder um.
»War es richtig, daß Sie kamen?« fragte Köster.
»Ja«, sagte Jaffé, »es war besser.«
»Ich kann Sie morgen früh wieder mit zurücknehmen.«
»Lieber nicht«, sagte Jaffé.
»Ich werde vernünftig fahren.«
»Ich will noch einen Tag bleiben und die Sache beobachten. Ist Ihr Bett frei?« fragte er mich. Ich nickte.
»Gut, dann schlafe ich hier. Können Sie im Dorf unterkommen?«
»Ja. Soll ich Ihnen eine Zahnbürste und einen Pyjama besorgen?«
»Nicht nötig. Habe alles bei mir. Bin immer auf so was vorbereitet. Wenn auch nicht gerade auf Rennen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Köster, »ich kann mir gut denken, daß Sie ärgerlich sind.«
»Bin ich nicht«, sagte Jaffé.
»Dann tut's mir leid, daß ich Ihnen nicht gleich die Wahrheit gesagt habe.«
Jaffé lachte. »Sie haben eine schlechte Meinung von Ärzten. Und nun gehen Sie ruhig. Ich bleibe hier.«
Ich holte rasch ein paar Sachen für Köster und mich. Wir gingen ins Dorf. »Bist du müde?« fragte ich.
»Nein«, sagte er, »wir wollen uns noch irgendwo hinsetzen.«
Nach einer Stunde wurde ich unruhig. »Wenn er dableibt, ist es doch sicher gefährlich, Otto«, sagte ich. »Weshalb sollte er es sonst tun...«
»Ich glaube, er bleibt aus Vorsicht da«, antwortete Köster. »Er mag Pat sehr gern. Er hat es mir erzählt, als wir hier einfuhren. Er hat schon ihre Mutter behandelt...«
»Hat die denn auch...«
»Ich weiß nicht«, sagte Köster rasch, »kann auch was anderes gewesen sein. Wollen wir schlafen gehen?«
»Geh ruhig, Otto. Ich möchte doch noch mal — nur so von weitem...«
»Schön. Ich geh' mit.«
»Ich will dir was sagen, Otto. Ich schlafe sehr gern draußen bei dem warmen Wetter. Laß dich nicht stören. Hab's letzthin schon öfter gemacht.«
»Es ist ja naß.«
»Das macht nichts. Ich mach' Karls Verdeck hoch und setze mich da ein bißchen 'rein.«
»Gut. Ich schlafe auch gern mal draußen.«
Ich merkte, daß ich ihn nicht loswurde. Wir packten ein paar Decken und Kissen zusammen und gingen zurück zu Karl. Wir machten die Gurtbänder los und drückten die Vordersitze nach hinten. So konnte man ganz gut liegen. »Besser als manchmal im Felde«, sagte Köster. Der helle Fleck des Fensters schien durch die diesige Luft. Ein paarmal sah ich den Schatten Jaffés davor. Wir rauchten eine Schachtel  Zigaretten  leer.  Dann  wurde  das  Licht abgeschaltet,  und  es  brannte  nur  noch  die  kleine Nachttischlampe.       
»Gott sei Dank«, sagte ich.     
Es rieselte auf das Verdeck. Ein schwacher Wind wehte. Es wurde kühl. »Kannst meine Decke auch noch haben, Otto«, sagte ich.
»Nein, laß nur, bin warm genug.«
»Tadelloser Kerl, der Jaffé, was?«
»Tadellos. Sehr tüchtig, glaub' ich.«
»Bestimmt.«
Ich fuhr aus einem unruhigen Halbschlaf empor. Es war grau und kühl draußen. Köster war schon wach. »Hast du nicht geschlafen, Otto?«
»Doch.«
Ich kletterte aus dem Wagen und schlich über den Gartenweg zum Fenster. Die kleine Nachttischlampe brannte noch immer. Ich sah Pat mit geschlossenen Augen im Bett liegen. Einen Moment fürchtete ich, daß sie tot sein könnte. Aber dann bemerkte ich, wie ihre rechte Hand sich bewegte. Sie war sehr blaß. Aber sie blutete nicht mehr. Jetzt machte sie wieder eine Bewegung. Im selben Moment öffnete Jaffé, der auf dem zweiten Bett schlief, die Augen. Ich trat rasch zurück. Ich war beruhigt; er paßte auf.
»Ich denke, wir verschwinden hier«, sagte ich zu Köster, »damit er nicht sieht, daß wir ihn kontrolliert haben.«
»Alles in Ordnung drinnen?« fragte Otto.
»Ja, was man sehen kann. Hat den richtigen Schlaf, der Professor. Pennt bei Trommelfeuer, aber erwacht, wenn eine Maus an seinem Brotbeutel knabbert.«
»Wir können baden gehen«, sagte Köster. »Wunderbare Luft hier.« Er dehnte sich.
»Geh du«, sagte ich.
»Komm mit«, erwiderte er.
Der graue Himmel zerriß. Orangerote Streifen quollen hindurch. Am Horizont hob sich der Wolkenvorhang, und dahinter erschien ein sehr klares Apfelgrün.
Wir sprangen ins Wasser und schwammen. Das Wasser leuchtete in Grau und Rot.
Dann gingen wir zurück. Fräulein Müller war schon auf. Sie schnitt Petersilie im Garten. Sie zuckte zusammen, als ich sie ansprach. Verlegen versuchte ich ihr klarzumachen, daß ich gestern wohl etwas zuviel geflucht hätte. Sie fing an zu weinen. »Die arme Dame. Sie ist so schön und noch so jung.«
»Sie wird hundert Jahre alt«, sagte ich ärgerlich, weil sie weinte, als müsse Pat sterben. Pat würde nicht sterben. Der kühle Morgen, der Wind, das helle meergepeitschte Leben in mir: Pat konnte nicht sterben. Sie konnte nur sterben, wenn ich den Mut verlor. Da stand Köster, mein Kamerad — da stand ich, Pats Kamerad —, erst mußten wir sterben. Solange wir lebten, würden wir sie herausholen. So war es immer. Solange Köster lebte, konnte ich nicht sterben. Und solange wir beide lebten, konnte Pat nicht sterben.
»Man muß demütig gegen das Schicksal sein«, sagte das alte Fräulein und sah mich mit seinem braunen, verrunzelten Bratapfelgesicht etwas vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich meinte sie meine Schimpferei.
»Demütig?« sagte ich. »Wozu demütig? Es nützt ja nichts. Man muß alles bezahlen im Leben, doppelt und dreifach. Wozu soll man da demütig sein?«
»Doch, doch — es ist besser.«
Demütig, dachte ich. Was änderte das? Kämpfen, kämpfen, das war das einzige in dieser Balgerei, in der man zuletzt doch unterlag. Kämpfen um das bißchen, was man liebte. Demütig konnte man mit siebzig Jahren werden.
Köster sprach ein paar Worte mit ihr. Sie lächelte rasch wieder und fragte ihn, was er zu Mittag essen wolle.
»Siehst du«, sagte Otto, »das ist das Geschenk des Alters. Tränen und Lachen — alles wechselt schnell. Ohne Widerhaken.
Das sollte man auch für sich vorwegnehmen«, meinte er nachdenklich.
Wir strichen um das Haus herum. »Gut für jede Minute, die sie schläft«, sagte ich. Wir gingen wieder in den Garten. Fräulein Müller hatte ein Frühstück fertiggemacht. Wir tranken heißen schwarzen Kaffee. Die Sonne ging auf. Es wurde sofort warm. Die Blätter der Bäume funkelten von Licht und Nässe. Vom Meer hörte man das Schreien der Möwen. Fräulein Müller stellte einen Busch Rosen auf den Tisch. »Den wollen wir ihr nachher geben«, sagte sie. Die Rosen dufteten nach Gartenmauer und Kindheit. »Weißt du, Otto«, sagte ich, »ich habe ein Gefühl, als wäre ich selber krank gewesen. Man ist doch nicht mehr wie früher. Ich hätte ruhiger sein müssen. Überlegter. Je ruhiger man sich hält, um so besser kann man helfen.«
»Geht nicht immer, Robby. Habe auch so Zeiten gehabt. Je länger man lebt, um so nervöser wird man. Das ist wie bei einem Bankier, der immer neue Verluste hat.«
Da ging die Tür. Jaffé kam im Pyjama heraus. »Gut, gut«, winkte er ab, als er sah, daß ich fast den Kaffeetisch umwarf, »so gut es möglich ist.«
»Darf ich 'rein?«
»Noch nicht. Jetzt ist erst das Mädchen drin. Waschen und so was.«
Ich schenkte ihm Kaffee ein. Er blinzelte in die Sonne und wandte sich an Köster. »Eigentlich sollte ich Ihnen dankbar sein. So komme ich wenigstens einen Tag mal 'raus.«
»Das könnten Sie doch öfter machen«, sagte Köster. »Abends wegfahren und am nächsten Abend wieder zurück.«
»Können, können«, antwortete Jaffé. »Haben Sie schon gemerkt, daß wir in einer Zeit der Selbstzerfleischung leben? Daß man vieles, was man tun könnte, trotzdem nicht tut, man weiß nicht, warum? Arbeit ist heute eine so ungeheure Sache geworden, weil so viele Menschen keine haben, daß sie alles andere erdrückt. Wie schön das hier ist! Seit ein paar Jahren habe ich das nicht gesehen. Ich habe zwei Autos, eine Zehnzimmerwohnung und genug Geld — was habe ich davon! Was ist das gegen diesen Sommermorgen im Freien! Arbeit — eine finstere Besessenheit — immer mit der Illusion, daß es später mal anders wird. Es wird nie anders. Komisch, was man so aus seinem Leben macht.«
»Ich finde, ein Arzt ist einer der wenigen Menschen, die wissen, wozu sie leben«, sagte ich. »Was soll denn dann ein Buchhalter sagen?«
»Lieber Freund«, erwiderte Jaffé, »es ist ein Irrtum, anzunehmen, alle Menschen hätten die gleiche Empfindungsfähigkeit.«
»Richtig«, sagte Köster, »aber die Menschen haben ihre Berufe nicht nach ihrer Empfindungsfähigkeit bekommen.«
»Stimmt«, antwortete Jaffé. »Schwierige Dinge.« Er nickte mir zu. »Jetzt — aber ruhig, nicht anfassen, nicht sprechen lassen...«
Sie lag in den Kissen, ohne Kraft, wie hingeschlagen. Ihr Gesicht war verfärbt, blaue, tiefe Schatten lagerten unter den Augen, und der Mund war blaß. Nur die Augen waren groß und glänzend.
Viel zu groß und zu glänzend.
Ich nahm ihre Hand auf. Sie war kühl und matt. »Pat, alter Bursche«, sagte ich verlegen und wollte mich zu ihr setzen. Da entdeckte ich am Fenster das Teiggesicht des Dienstmädchens, das mich neugierig anstarrte. »Gehen Sie mal 'raus«, sagte ich ärgerlich.
»Ich soll doch die Gardinen zuziehen«, erwiderte sie.
»Schön, machen Sie das und gehen Sie dann 'raus.«
Sie zog die gelben Vorhänge vors Fenster. Aber sie ging noch immer nicht. Langsam begann sie die Vorhänge mit Nadeln zuzustecken.
»Hören Sie«, sagte ich, »hier ist keine Theatervorstellung. Verschwinden Sie schleunigst.«
Sie drehte sich pomadig um. »Erst soll ich sie zustecken und dann wieder nicht.«
»Hast du ihr das gesagt?« fragte ich Pat.
Sie nickte.
»Tut dir das Licht von draußen weh?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Besser, du siehst mich heute nicht so genau...«
»Pat!« sagte ich erschreckt, »du darfst noch nicht sprechen! Aber wenn das der ganze Grund ist...«
Ich machte die Tür auf, und das Dienstmädchen verschwand endlich. Ich ging zurück. Ich war jetzt nicht mehr verlegen. Ich war sogar ganz froh über das Dienstmädchen. Es hatte mich über den ersten Augenblick weggebracht. Es war doch eine verfluchte Sache gewesen, Pat so daliegen zu sehen.
Ich setzte mich neben das Bett. »Pat«, sagte ich, »bald bist du wieder durch...«
Sie bewegte den Mund. »Morgen schon...«
»Morgen noch nicht, aber in ein paar Tagen. Dann darfst du aufstehen, und wir fahren nach Hause. Wir hätten nicht hierherfahren sollen, die Luft ist viel zu rauh für dich...«
»Doch«, flüsterte sie, »ich bin ja nicht krank, Robby. Es war nur ein Unfall...«
Ich sah sie an. Wußte sie denn wirklich nicht, daß sie krank war? Oder wollte sie es nicht wissen? Ihre Augen gingen unruhig hin und her. »Brauchst keine Angst zu haben...«, flüsterte sie. Ich verstand nicht sofort, was sie meinte und weshalb es so wichtig war, daß gerade ich keine Angst haben sollte. Ich sah nur, daß sie erregt war, ihre Augen hatten einen eigentümlich gequälten, dringenden Ausdruck. Und plötzlich kam mir ein Gedanke. Ich begriff, was sie dachte. Sie glaubte, ich hätte Angst vor ihr, weil sie krank war. »Lieber Gott, Pat«, sagte ich, »ist das vielleicht der Grund, daß du mir nie etwas Genaues gesagt hast?«
Sie antwortete nicht, aber ich sah, daß es das war.
»Verdammt«, sagte ich, »wofür hältst du mich eigentlich?«
Ich beugte mich über sie. »Lieg mal einen Augenblick ganz still, aber beweg dich nicht.« Ich küßte sie. Ihre Lippen waren trocken und heiß. Als ich mich aufrichtete, sah ich, daß sie weinte. Sie weinte lautlos, mit weit offenen Augen, und ihr Gesicht bewegte sich nicht. Die Tränen stürzten nur so hervor.
»Um Gottes willen, Pat...«
»Ich bin ja glücklich«, sagte sie.
Ich stand da und sah sie an. Es war nur ein Wort gewesen, aber es war ein Wort, das ich so noch nie gehört hatte. Ich hatte Frauen gekannt, aber immer waren es flüchtige Begegnungen gewesen, Abenteuer, eine bunte Stunde manchmal, ein einsamer Abend, Flucht vor sich selbst, vor der Verzweiflung, vor der Leere. Ich hatte es auch gar nicht anders gewollt, denn ich hatte gelernt, daß man sich auf nichts anderes verlassen konnte als auf sich selbst und höchstens noch auf einen Kameraden. Jetzt sah ich plötzlich, daß ich einem Menschen etwas sein konnte, einfach weil ich da war, und daß er glücklich war, weil ich bei ihm war. Wenn man das so sagt, klingt es sehr einfach, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es eine ungeheure Sache, die überhaupt kein Ende hat. Es ist etwas, das einen ganz zerreißen und verändern kann. Es ist Liebe und doch etwas anderes. Etwas, wofür man leben kann. Für die Liebe kann ein Mann nicht leben. Für einen Menschen wohl.
Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte es nicht. Es ist schwer, Worte zu finden, wenn man wirklich etwas zu sagen hat. Und selbst, wenn man die richtigen Worte weiß, dann schämt man sich, sie auszusprechen. Alle diese Worte gehören noch in frühere Jahrhunderte. Unsere Zeit hat für ihre Gefühle die Worte noch nicht. Sie kann nur burschikos sein — alles andere ist unecht.
»Pat«, sagte ich, »alter tapferer Bursche...«
In diesem Augenblick trat Jaffé ein. Er überblickte sofort die Situation. »Fabelhafte Leistung«, knurrte er, »hab' mir schon so was Ähnliches gedacht.«
Ich wollte ihm etwas entgegnen, aber er warf mich kurzerhand 'raus.

18

XVII

Es war zwei Wochen später. Pat hatte sich so weit erholt, daß wir zurückreisen konnten. Wir hatten unsere Sachen gepackt und warteten auf Gottfried Lenz. Er sollte den Wagen abholen. Pat und ich wollten mit der Eisenbahn fahren.
Es war ein warmer, milchiger Tag. Die Wolken standen regungslos wie Watte am Himmel, die heiße Luft zitterte über den Dünen, und das Meer lag bleiern in hellem, flimmerndem Dunst.
Gottfried kam nach dem Mittagessen an. Ich sah seinen blonden Kopf schon von weitem über die Hecken leuchten. Erst als er in den Fahrweg zur Villa Fräulein Müllers einbog, bemerkte ich, daß er nicht allein war — neben ihm tauchte eine Rennfahrerimitation in Miniaturformat auf — eine riesige karierte Mütze, die mit dem Schild nach hinten aufgesetzt war, eine mächtige Staubbrille, ein weißer Overall und ein paar gewaltige, rubinrot leuchtende Ohren.
»Mein Gott, das ist ja Jupp!« sagte ich erstaunt.
»Persönlich, Herr Lohkamp!« erwiderte Jupp grinsend.
»Und in dem Aufzug! Was ist denn bloß los mit dir?«
»Das siehst du doch«, erklärte Lenz vergnügt und schüttelte mir die Hand. »Er wird zum Rennfahrer herangebildet. Seit acht Tagen bekommt er bei mir Fahrunterricht. Da hat er mich angefleht, daß ich ihn heute mitnehmen soll. Gute Gelegenheit für ihn, seine erste Überlandtour zu machen.«
»Werde die Sache schon schmeißen, Herr Lohkamp!« bestätigte Jupp eifrig.
»Und wie er sie schmeißen wird!« Gottfried schmunzelte.
»Ich habe so was von einem Verfolgungswahnsinnigen noch nicht gesehen! Am ersten Tag seines Fahrunterrichtes hat er schon versucht, mit unserem alten, guten Taxi einen Mercedes-Kompressor zu überholen. Ein verdammter kleiner Satan!«
Jupp schwitzte vor Glück und sah Lenz anbetend an. »Dachte, ich könnte den protzigen Vogel vernaschen, Herr Lenz! Wollte ihn in der Kurve schnappen, wie Herr Köster.«
Ich mußte lachen. »Du fängst ja gut an, Jupp.«
Gottfried blickte mit väterlichem Stolz auf seinen Fahrschüler herab.
»Zunächst schnapp dir jetzt mal die Koffer und bring sie zum Bahnhof.«
»Allein?« Jupp explodierte fast vor Spannung. »Darf ich das Stück bis zum Bahnhof ganz allein fahren, Herr Lenz?«
Gottfried nickte, und Jupp raste ins Haus.
Wir gaben die Koffer auf. Dann holten wir Pat ab und fuhren zum Bahnhof. Es war noch eine Viertelstunde zu früh, als wir ankamen. Der Bahnsteig war leer. Nur ein paar Milchkannen standen herum.
»Fahrt nur los«, sagte ich. »Ihr kommt sonst zu spät nach Hause.«
Jupp am Steuer sah mich beleidigt an.
»Solche Bemerkungen gefallen dir nicht, was?« fragte Lenz ihn.
Jupp richtete sich auf. »Herr Lohkamp«, sagte er vorwurfsvoll, »ich habe mir die Sache genau durchgerechnet. Wir sind bequem um acht Uhr in der Werkstatt.«
»Sehr richtig!« Lenz klopfte ihm auf die Schulter. »Biete ihm doch eine Wette an, Jupp. Um eine Flasche Selterswasser.« »Selterswasser nicht«, erwiderte Jupp, »aber eine Schachtel Zigaretten riskiere ich sofort.« Er schaute mich herausfordernd an. »Weißt du auch, daß die Straßen ziemlich schlecht sind?« fragte ich. »Alles einkalkuliert, Herr Lohkamp!« »Und an die Kurven hast du auch gedacht?« »Kurven machen mir nichts aus. Ich habe keine Nerven.« »Gut, Jupp«, sagte ich ernsthaft. »Dann halte ich die Wette. Aber Herr Lenz darf unterwegs nicht fahren.« Jupp legte die Hand auf die Brust. »Mein Ehrenwort!« »Gut, gut. Aber sag mal, was hältst du denn da so krampfhaft in der Hand?« »Meine Stoppuhr. Ich will unterwegs die Zeit nehmen. Möchte doch mal sehen, was der Schlitten leistet.« Lenz schmunzelte. »Ja, Kinder, Jupp ist prima ausgerüstet. Ich glaube, der brave, alte Citroen zittert schon in allen Knochen vor ihm.« Jupp überhörte die Ironie. Er zerrte aufgeregt an seiner Mütze. »Dann wollen wir los, Herr Lenz, was? Wette ist Wette!« »Natürlich, du kleiner Kompressor! Auf Wiedersehen, Pat! Bis nachher, Robby!« Gottfried kletterte in den Sitz. »So, Jupp, nun zeige der Dame mal, wie ein Kavalier und künftiger Weltmeister startet!«
Jupp schob die Rennbrille vor die Augen, winkte wie ein Alter und zog schneidig im ersten Gang über das Kopfsteinpflaster der Chaussee zu.
Pat und ich saßen noch eine Weile vor dem Bahnhof auf einer Bank. Die heiße, weiße Sonne lag breit auf der hölzernen Wand, die den Bahnsteig absperrte. Es roch nach Harz und Salz. Pat lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Sie saß ganz still, das Gesicht der Sonne zugewendet.
»Bist du müde?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Robby.«
»Da kommt der Zug«, sagte ich.
Die Lokomotive stampfte heran, schwarz, klein und verloren vor der zitternden, großen Weite. Wir stiegen ein. Der Zug war wenig besetzt. Er fuhr schnaufend an. Der Rauch der Lokomotive blieb dick und schwarz in der Luft stehen. Langsam drehte sich die Landschaft vorbei, das Dorf mit den braunen Strohdächern, die Wiesen mit Kühen und Pferden, der Wald, und dann, friedlich und sehr verschlafen in der Mulde hinter den Dünen, das Haus von Fräulein Müller.
Pat stand neben mir am Fenster und schaute hinüber. Die Strecke führte in einer Kurve näher heran, und man konnte deutlich die Fenster unserer Zimmer sehen. Sie standen offen, und das weiße Bettzeug war halb herausgelegt in die Sonne.
»Da ist Fräulein Müller«, sagte Pat.
Sie stand vor der Haustür und winkte. Pat holte ihr Taschentuch hervor und ließ es zum Fenster hinausflattern.
»Das sieht sie nicht«, sagte ich, »es ist zu klein und zu dünn. Hier, nimm meines.«
Sie nahm es und winkte. Fräulein Müller winkte heftig zurück.
Der Zug gewann allmählich das freie Feld. Das Haus versank, und die Dünen blieben zurück. Hinter dem schwarzen Strich des Waldes blinkte eine Zeitlang noch ab und zu das Meer auf. Es blinkte wie ein lauerndes, müdes Auge. Dann kam das sanfte Goldgrün der Felder und dehnte sich im weichen Wind der Ähren bis zum Horizont.
Pat gab mir mein Taschentuch zurück und setzte sich in eine Ecke. Ich zog das Fenster hoch. Vorbei! dachte ich, Gott sei Dank, vorbei! Es war nichts als ein Traum! Ein verfluchter, böser Traum!
Kurz vor sechs Uhr kamen wir in der Stadt an. Ich nahm ein Taxi und verstaute die Koffer. Dann fuhren wir zu Pats Wohnung.
»Kommst du mit herauf?« fragte sie.
»Natürlich.«
Ich brachte sie hinauf, dann fuhr ich wieder herunter, um mit dem Chauffeur zusammen die Koffer zu holen. Als ich zurückkam, stand Pat noch im Vorraum. Sie sprach mit Oberstleutnant von Hake und seiner Frau.
Wir gingen in ihr Zimmer. Es war heller, früher Abend draußen. Auf dem Tisch stand eine Glasvase mit blaßroten Rosen. Pat ging ans Fenster und sah hinaus. Dann wandte sie sich um. »Wie lange waren wir eigentlich fort, Robby?«
»Genau achtzehn Tage.«
»Achtzehn Tage. Mir kommt es viel länger vor.«
»Mir auch. Das ist aber immer so, wenn man mal 'rauskommt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht...«
Sie öffnete die Balkontür und trat hinaus. Draußen lehnte ein zusammengeklappter, weißer Liegestuhl an der Wand.
Sie schob ihn zu sich heran und sah ihn schweigend an.
Als sie wieder hereinkam, war ihr Gesicht verändert, und ihre Augen waren dunkel.
»Sieh nur die Rosen«, sagte ich. »Sie sind von Köster. Hier liegt seine Karte dabei.«
Sie nahm die Karte auf und legte sie dann wieder auf den Tisch. Sie sah die Rosen an, aber ich sah, daß sie sie kaum bemerkte. Sie war mit ihren Gedanken noch bei dem Liegestuhl. Sie hatte geglaubt, ihm schon entronnen zu sein, und nun wurde er vielleicht doch wieder ein Teil ihres Lebens.
Ich ließ sie ruhig gewähren und sagte nichts mehr. Es hatte keinen Zweck, sie abzulenken. Sie mußte damit fertig werden, und es war besser, es geschah jetzt, während ich dabei war. Man konnte es mit noch so viel Worten höchstens verschieben, aber einmal kam es dann doch, und vielleicht war es dann noch viel schwerer.
Sie stand eine Weile neben dem Tisch, das Gesicht gesenkt und die Hände aufgestützt. Dann hob sie den Kopf und blickte mich an. Ich sagte nichts. Sie ging langsam um den Tisch herum und legte mir die Hände auf die Schultern.
»Alter Bursche«, sagte ich.
Sie lehnte sich an mich. Ich hielt sie fest. »Jetzt werden wir die Sache mal angehen, was?«
Sie nickte. Dann strich sie sich das Haar zurück. »War nur so ein Augenblick, Robby.«
»Natürlich.«
Es klopfte. Das Dienstmädchen kam mit dem Teewagen. »Das ist gut«, sagte Pat.
»Willst du Tee?« fragte ich.
»Nein, Kaffee, guten, starken Kaffee.«
Ich blieb noch eine halbe Stunde. Dann wurde sie müde. Ich sah es an ihren Augen. »Du solltest etwas schlafen«, schlug ich ihr vor.
»Und du?«
»Ich gehe nach Hause und schlafe auch etwas. Dann hole ich dich in zwei Stunden zum Essen ab.«
»Du bist müde?« fragte sie zweifelnd.
»Ja, etwas. Es war heiß im Zuge. Ich muß nachher auch noch mal in die Werkstatt.«
Sie fragte nichts mehr. Sie war sehr müde und fiel nur so zusammen. Ich brachte sie zu Bett und deckte sie zu. Sie schlief sofort ein. Ich stellte die Rosen neben sie und legte auch die Karte Kösters hinzu, damit sie gleich etwas hatte, um daran zu denken, wenn sie aufwachte. Dann ging ich.
Unterwegs blieb ich vor einem Telefonautomaten stehen. Ich beschloß, Jaffé gleich jetzt anzurufen. Zu Hause war es schwierig. Da mußte ich damit rechnen, daß die ganze Pension zuhörte.
Ich nahm den Hörer ab und meldete die Nummer der Klinik an. Nach einer Weile kam Jaffé an den Apparat. »Hier ist Lohkamp«, sagte ich und räusperte mich. »Wir sind heute zurückgekommen. Seit einer Stunde sind wir wieder hier.«
»Sind Sie mit dem Wagen gefahren?« fragte Jaffé. »Nein, mit der Bahn.«
»So, und wie geht es?«
»Gut«, erwiderte ich.
Er überlegte einen Augenblick. »Ich werde Fräulein Hollmann morgen untersuchen. Morgen vormittag um elf. Wollen Sie ihr das bestellen?«
»Nein«, sagte ich. »Ich möchte nicht, daß sie weiß, daß ich Sie angerufen habe. Sie wird sicher morgen selbst telefonieren. Vielleicht sagen Sie es ihr dann.«
»Gut. Machen wir es so. Ich werde es ihr sagen.«
Ich schob mechanisch das dicke, fettige Telefonbuch beiseite. Es lag auf einem kleinen, hölzernen Pult. Darüber waren mit Bleistift Telefonnummern an die Wand gekritzelt. »Darf ich dann morgen nachmittag bei Ihnen vorbeikommen?« fragte ich.
Jaffé antwortete nicht. »Ich möchte gern wissen, wie es mit ihr steht«, sagte ich.
»Das kann ich Ihnen morgen noch nicht sagen«, erwiderte Jaffé. »Ich muß sie mindestens eine Woche lang beobachten. Aber ich werde Ihnen dann Bescheid geben.«
»Danke.« Ich starrte immer noch auf das Pult vor mir. Jemand hatte da etwas gezeichnet. Ein dickes Mädchen mit einem großen Strohhut. Ella, du Ziege! stand darunter. »Muß sie inzwischen noch etwas Besonderes tun?« fragte ich.
»Das werde ich morgen sehen. Aber ich glaube, sie ist mit der Pflege ganz gut aufgehoben in ihrer Wohnung.«
»Ich weiß nicht. Ich habe gehört, daß die Leute nächste Woche verreisen. Dann ist sie allein, nur mit dem Dienstmädchen.«
»So? Gut, dann werde ich morgen mit ihr auch darüber sprechen.«
Ich schob das Telefonbuch wieder über die Zeichnung.
»Glauben Sie, daß sie — daß sich so ein Anfall wiederholen kann?«
Jaffé zögerte eine Sekunde. »Möglich ist es natürlich«, sagte er dann, »aber es ist nicht wahrscheinlich. Ich werde Ihnen das erst sagen können, wenn ich sie genau untersucht habe. Ich rufe Sie dann an.«
»Ja, danke.«
Ich hängte den Hörer an. Draußen stand ich noch eine Weile auf der Straße herum. Es war staubig und schwül. Dann ging ich nach Hause.
An der Tür stieß ich auf Frau Zalewski. Sie kam wie eine Kanonenkugel aus dem Zimmer von Frau Bender geschossen. Als sie mich sah, stoppte sie. »Was, schon zurück?«
»Wie Sie sehen. Ist inzwischen was gewesen?«
»Für Sie nichts. Post auch nicht. Aber Frau Bender ist ausgezogen.«
»So? Warum denn?«
Frau Zalewski stemmte die Arme in die Seiten. »Weil es überall Lumpen gibt. Ins Christliche Hospiz ist sie gezogen. Mit ihrer Katze und ganzen sechsundzwanzig Mark Vermögen.«
Sie erzählte, daß das Kinderheim, in dem Frau Bender Säuglingsschwester gewesen war, inzwischen verkracht sei. Der Leiter, ein Pastor, hatte unglücklich an der Börse spekuliert. Frau Bender war entlassen worden und hatte dabei noch ihr rückständiges Gehalt für zwei Monate eingebüßt.
»Hat sie schon was Neues gefunden?« fragte ich gedankenlos.
Frau Zalewski sah mich nur an.
»Na ja, natürlich nicht«, sagte ich.
»Ich habe ihr gesagt, sie könne ruhig wohnen bleiben. Mit dem Bezahlen eile es nicht. Aber sie wollte nicht.« »Arme Leute sind meistens ehrlich«, sagte ich. »Wer zieht denn da jetzt ein?« »Hasses. Es ist billiger als das Zimmer, das Hasses bis jetzt hatten.« »Und das von Hasses?« Sie zuckte die Achseln. »Mal sehen. Viel Hoffnung habe ich nicht, daß jemand kommt.« »Wann wird es denn frei?« »Morgen. Hasses sind schon am Umziehen.« »Was soll das Zimmer eigentlich kosten?« fragte ich. Mir war plötzlich eine Idee gekommen. »Siebzig Mark.« »Viel zu teuer«, sagte ich, jetzt ganz wach. »Mit Morgenkaffee, zwei Brötchen und reichlich Butter?« »Erst recht. Den Morgenkaffee Fridas müssen Sie abziehen. Fünfzig, nicht einen Pfennig mehr.« »Wollen Sie es etwa mieten?« fragte Frau Zalewski. »Vielleicht.« Ich ging in meine Bude und betrachtete nachdenklich die Verbindungstür zu dem Hasseschen Zimmer. Pat in der Zalewskischen Pension! Nein, das war nicht gut auszudenken! Aber trotzdem ging ich nach einer Weile hinüber und klopfte an.
Frau Hasse war da. Sie saß mitten in dem halbausgeräumten Zimmer vor dem Spiegel, einen Hut auf dem Kopf, und puderte sich.
Ich begrüßte sie und schaute mir dabei den Raum an. Er war größer, als ich gedacht hatte. Jetzt, wo die Möbel zum Teil heraus waren, sah man es erst. Die Tapeten waren einfarbig, hell und ziemlich neu, die Türen und Fenster frisch gestrichen, und der Balkon war sehr groß und schön. »Was er mir jetzt zumutet, haben Sie ja wohl schon gehört«, sagte Frau Hasse. »In das Zimmer von der Person da drüben soll ich ziehen! Diese Schande!«
»Schande?« fragte ich.
»Ja, Schande!« brach sie erregt los. »Sie wissen doch, daß wir uns nicht leiden konnten, und jetzt zwingt mich Hasse, in ihr Zimmer zu ziehen, ohne Balkon und nur mit einem Fenster. Bloß weil es billiger ist. Was meinen Sie, wie die in ihrem Christlichen Hospiz triumphiert!«
»Ich glaube nicht, daß sie triumphiert.«
»Doch, die triumphiert, diese falsche Säuglingsschwester, dieses stille Wasser, die es faustdick hinter den Ohren hat! Und nebenan dazu noch diese Kokotte, diese Erna Bönig! Und der Katzengestank!«
Ich schaute verblüfft auf. Ein stilles Wasser mit Ohren? Es war merkwürdig: Wirklich neu und bildkräftig im Ausdruck wurde der Mensch nur, wenn er schimpfte. Wie ewig gleichmäßig waren die Ausdrücke der Liebe — und wie wechselvoll dagegen war die Skala der Flüche!
»Katzen sind doch sehr saubere und schöne Tiere«, sagte ich. »Ich war übrigens eben in dem Zimmer. Es riecht nicht nach Katzen.«
»So?« erwiderte Frau Hasse feindselig und schob ihren Hut zurecht, »das kommt dann ja wohl auf die Nase an.
Aber ich denke nicht daran, noch was dazu zu tun! Soll er sich selbst die Möbel 'rüberschleppen! Ich gehe aus! Wenigstens das will ich von diesem Hundeleben haben!«
Sie stand auf. Ihr schwammiges Gesicht bebte derart vor Wut, daß der Puder herunterstäubte. Ich sah, daß sie ihre Lippen sehr rot bemalt hatte und überhaupt mächtig aufgedonnert war. Sie roch wie eine ganze Parfümerie, als sie hinausrauschte.
Ich blickte ihr verdutzt nach. Dann schaute ich mir noch einmal genau das Zimmer an. Ich überlegte, wo man Pats Möbel hinstellen könnte. Aber ich hörte bald damit auf. Pat hier, immer hier, bei mir — ich konnte mir das nicht vorstellen! Ich wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, wenn sie gesund gewesen wäre. So aber — ich öffnete die Tür und maß den Balkon aus. Doch dann schüttelte ich den Kopf und ging in meine Bude zurück.
Sie schlief noch, als ich bei ihr eintrat. Ich setzte mich leise in einen Sessel neben das Bett, aber sie erwachte sofort.
»Schade, ich habe dich aufgeweckt«, sagte ich.
»Bist du die ganze Zeit hier gewesen?« fragte sie.
»Nein. Eben erst wiedergekommen.«
Sie dehnte sich und legte ihr Gesicht gegen meine Hand. »Das ist gut. Ich habe nicht gern, wenn man mir beim Schlafen zusieht.«
»Das kann ich verstehen. Ich habe es auch nicht gern. Ich wollte dir auch nicht zusehen. Ich wollte dich nur nicht wecken. Willst du noch ein bißchen schlafen?«
»Nein, ich bin ganz ausgeschlafen. Ich stehe gleich auf.«
Ich ging in das Zimmer nebenan, während sie sich anzog.
Es wurde draußen langsam dunkel. Aus einem offenen Fenster gegenüber quakte ein Grammophon den Hohenfriedberger Marsch. Ein Mann mit einer Glatze und mit Hosenträgern bediente den Apparat. Er ging im Zimmer hin und her und machte zu der Musik Freiübungen. Seine Glatze leuchtete aus dem Halbdunkel wie ein aufgeregter Mond. Ich sah gleichgültig zu. Ich fühlte mich stumpf und traurig.
Pat kam herein. Sie sah wunderschön aus, ganz frisch und gar nicht mehr abgespannt. »Du siehst glänzend aus«, sagte ich überrascht.
»Ich fühle mich auch gut, Robby. Als wenn ich eine ganze Nacht geschlafen hätte. So etwas wechselt rasch bei mir.«
»Ja, weiß Gott! Manchmal geht es so rasch, daß man kaum mitkommt.«
Sie lehnte sich an meine Schulter und sah mich an. »Zu rasch, Robby?«
»Nein. Höchstens bei mir zu langsam. Ich bin oft etwas langsam, Pat.«
Sie lächelte. »Langsam ist fest. Und fest ist gut.«
»Ich bin so fest wie ein Kork auf dem Wasser«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist viel fester, als du glaubst. Du bist überhaupt ganz anders, als du denkst. Ich habe selten jemand gesehen, der so über sich selber im Irrtum ist wie du.«
Ich ließ ihre Schulter los.
»Ja, Liebling«, sagte sie und nickte, »das ist wirklich so.
Und nun komm, wir wollen jetzt essen gehen.«
»Wohin wollen wir denn gehen?« fragte ich.
»Zu Alfons. Ich muß all das wiedersehen. Ich habe das Gefühl, als wäre ich eine Ewigkeit fortgewesen.«
»Gut!« sagte ich. »Aber hast du auch den richtigen Hunger dafür? Zu Alfons kann man nicht gehen ohne Hunger. Er wirft einen sonst 'raus.«
Sie lachte. »Ich habe sogar einen furchtbaren Hunger.«
»Dann los!« Ich war plötzlich sehr froh.
Der Einzug bei Alfons war triumphal. Er begrüßte uns, verschwand gleich darauf und kam wieder, einen weißen Kragen und eine grüngepunktete Krawatte umgebunden. Das hätte er beim deutschen Kaiser nicht gemacht. Er war auch selbst etwas verlegen über dieses unerhörte Zeichen von Dekadenz.
»Also, Alfons, was gibt es Gutes?« fragte Pat und stemmte beide Hände auf den Tisch.
Alfons schmunzelte, blies die Lippen auf und machte die Augen klein. »Sie haben Glück gehabt! Es gibt heute Krebse!«
Er trat einen Schritt zurück, um die Wirkung zu beobachten. Sie war erstklassig. »Dazu ein Glas jungen Moselwein«, flüsterte er verzückt und trat noch einen Schritt zurück. Er erntete stürmischen Beifall, merkwürdigerweise auch von der Tür her. Dort erschien nämlich mit wildem gelbem Haar und sonnenverbrannter Nase gerade der grinsende Schädel des letzten Romantikers.
»Gottfried?« schrie Alfons auf, »du? Persönlich? Mensch, was für ein Tag! Komm an meine Brust!«
»Jetzt kannst du was erleben«, sagte ich zu Pat.
Die beiden stürzten sich in die Arme. Alfons klopfte Lenz auf den Rücken, daß es klang, als wäre nebenan eine Schmiede. »Hans«, schrie er dann zu dem Kellner hinüber, »bring den Napoleon!«
Er schleppte Gottfried zur Theke. Der Kellner brachte eine große, verstaubte Flasche heran. Alfons schenkte zwei Gläser voll.
»Prost, Gottfried, du verdammter Schweinebraten!«
»Prost, Alfons, alter, guter Zuchthäusler!«
Beide tranken die Gläser auf einen Zug leer.
»Erstklassig!« sagte Gottfried. »Ein Kognak für Madonnen!«
»Eine Schande, ihn so 'runterzusaufen«, bestätigte Alfons.
»Aber wie soll man langsam trinken, wenn man sich freut!
Komm, wir nehmen noch einen!«
Er schenkte ein und hob das Glas. »Verfluchte, treulose Tomate, du!« Lenz lachte. »Mein alter, geliebter Alfons!«
Alfons bekam feuchte Augen. »Noch einen, Gottfried«, sagte er bewegt.
»Immer los!« Lenz hielt ihm sein Glas hin. »Zu dem Kognak sage ich erst nein, wenn ich den Kopf nicht mehr vom Fußboden hochkriegen kann.«
»Das ist ein Wort!« Alfons schenkte das dritte Glas ein.
Etwas atemlos kam Lenz zurück an den Tisch. Er zog seine Uhr.
»Zehn Minuten vor acht mit dem Citroen in der Werkstatt angekommen. Was sagt ihr dazu?«
»Ein Rekord«, erwiderte Pat. »Jupp soll leben! Ich werde ihm ebenfalls eine Schachtel Zigaretten stiften.«
»Und du kriegst dafür eine Portion Krebse extra!« erklärte Alfons, der Gottfried auf dem Fuße gefolgt war. Dann übergab er uns eine Art von Tischtüchern. »Zieht eure Jacken mal aus und bindet das hier um! Die Dame erlaubt es doch, oder nicht?«
»Ich halte es sogar für notwendig«, sagte Pat.
Alfons nickte erfreut. »Sie sind eine vernünftige Frau, das wußte ich. Krebse muß man gemütlich essen. Ohne Angst vor Flecken.« Er schmunzelte. »Sie selbst bekommen natürlich etwas Eleganteres.«
Der Kellner Hans brachte einen schneeweißen Küchenkittel. Alfons entfaltete ihn und half ihr hinein. »Steht Ihnen gut«, lobte er.
»Heftig, heftig!« erwiderte sie und lachte.
»Freut mich, daß Sie sich das gemerkt haben«, sagte Alfons wohlwollend. »Wärmt einem das Herz.«
»Alfons!« Gottfried knotete sich sein Tischtuch im Nacken zu, daß die Zipfel weit abstanden. »Vorläufig macht das hier nur den Eindruck eines Rasiersalons.«
»Wird gleich anders. Aber erst etwas Kunst.«
Alfons ging zum Grammophon. Gleich darauf donnerte der Pilgerchor aus dem »Tannhäuser« los. Wir lauschten schweigend.
Kaum war der letzte Ton verklungen, da öffnete sich die Küchentür, und der Kellner Hans erschien mit einer Schüssel, so groß wie eine Kinderbadewanne. Sie dampfte und war voller Krebse. Er stellte sie keuchend auf den Tisch. »Bring mir auch eine Serviette«, sagte Alfons.
»Du willst mit uns essen, Goldjunge?« rief Lenz. »Welche Auszeichnung!«
»Wenn die Dame nichts dagegen hat?«
»Im Gegenteil, Alfons!«
Pat rückte ihren Stuhl beiseite, und er nahm neben ihr Platz.
»Ganz gut, wenn ich neben Ihnen sitze«, sagte er etwas verlegen. »Ich bin nämlich ziemlich flott im Zurechtmachen. Für eine Dame ist das ein bißchen langweilig.«
Er griff in die Schüssel und begann mit unheimlicher Geschwindigkeit für sie einen Krebs zu zerlegen. Er machte das mit seinen riesigen Händen so geschickt und elegant, daß sie nichts anderes zu tun hatte, als die ihr appetitlich mit der Gabel dargebotenen Bissen zu essen.
»Schmeckt's?« fragte er.
»Prachtvoll!« Sie hob ihr Glas. »Auf Ihr Wohl, Alfons.«
Alfons stieß feierlich mit ihr an und trank sein Glas langsam aus. Ich sah sie an. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte irgend etwas ohne Alkohol getrunken. Sie spürte meinen Blick.
»Salute, Robby«, sagte sie.
Sie war wunderschön, ganz leuchtend und froh. »Salute, Pat«, sagte ich und trank mein Glas aus.
»Ist es nicht herrlich hier?« fragte sie und sah mich immer noch an.
»Wunderbar!« Ich schenkte mir von neuem ein. »Prost, Pat!«
Ein Schein ging über ihr Gesicht. »Prost, Robby! Prost, Gottfried!« Wir tranken. »Guter Wein«, sagte Lenz.
»Graacher Abtsberg vom letzten Jahr«, erklärte Alfons. »Freut mich, daß du ihn verstehst!«
Er holte einen zweiten Krebs aus der Schüssel und hielt Pat die Schere geöffnet hin.
Sie wehrte ab. »Den müssen Sie selbst essen, Alfons. Sie bekommen ja sonst nichts.«
»Später. Ich bin dafür ja viel schneller als die andern.«
»Also gut.« Sie nahm die Schere. Alfons strahlte vor Vergnügen und versorgte sie weiter. Es sah aus, als wenn ein alter großer Uhu einen kleinen weißen Nestvogel fütterte.
Wir tranken zum Schluß alle noch einen Napoleon und verabschiedeten uns dann von Alfons. Pat war glücklich. »Es war herrlich!« sagte sie. »Ich danke Ihnen auch vielmals, Alfons. Es war wirklich herrlich!« Sie gab ihm die Hand. Alfons murmelte etwas und küßte ihr die Hand. Lenz fielen vor Erstaunen darüber fast die Augen aus dem Kopf. »Kommt bald wieder«, sagte Alfons. »Du auch, Gottfried!«
Draußen stand klein und verlassen unter der Laterne der Citroen.
»Oh«, sagte Pat und blieb stehen. Es zuckte über ihr Gesicht.
»Ich habe ihn nach seiner Leistung heute Herkules getauft!« Gottfried öffnete den Schlag. »Soll ich euch nach Hause fahren?«
»Nein«, sagte Pat.
»Das habe ich mir gedacht. Wo wollen wir denn hin?«
»In die Bar. Oder nicht, Robby?« Sie wandte sich nach mir um.
»Natürlich«, sagte ich, »natürlich gehen wir noch in die Bar.«
Wir fuhren sehr langsam durch die Straßen. Es war warm und klar. Vor den Cafes saßen die Leute. Musik wehte herüber. Pat saß neben mir. Ich begriff plötzlich nicht, daß sie wirklich krank sein sollte, es wurde mir ganz heiß dabei, aber ich konnte es einen Augenblick lang nicht begreifen.
In der Bar trafen wir Ferdinand und Valentin. Ferdinand war glänzender Laune. Er stand auf und ging Pat entgegen.
»Diana«, sagte er, »heimgekehrt aus den Wäldern...«
Sie lächelte. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Bräune kühne Jägerin mit dem silbernen Bogen — was wollen wir trinken?«
Gottfried schob Ferdinands Arm beiseite. »Pathetiker kennen keinen Takt«, sagte er. »Die Dame ist in Begleitung von zwei Herren, das hast du wohl noch nicht bemerkt, du braver Auerochse!«
»Romantiker sind nur ein Gefolge — nie eine Begleitung«, erklärte Grau unerschüttert.
Lenz grinste und wandte sich an Pat. »Ich werde Ihnen jetzt einmal etwas Besonderes mischen. Einen Kolibri-Cocktail. Eine Spezialität aus Brasilien.«
Er ging zur Bartheke, mischte allerlei Sachen und brachte den Cocktail dann heran.
»Wie schmeckt er?« fragte er.
»Etwas dünn, trotz Brasilien«, erwiderte Pat.
Gottfried lachte. »Dabei ist er sehr kräftig. Mit Rum und Wodka gemacht.«
Ich sah mit einem Blick, daß weder Rum noch Wodka darin war — es war Fruchtsaft, Zitrone, Tomatenmark und vielleicht noch ein Tropfen Angostura. Ein alkoholfreier Cocktail. Aber Pat merkte es gottlob nicht.
Sie bekam drei große Kolibris, und ich sah, wie wohl sie sich fühlte, weil sie nicht als Kranke behandelt wurde. Nach einer Stunde brachen wir alle auf, nur Valentin blieb sitzen.
Lenz hatte das so gemacht. Er verfrachtete Ferdinand in den Citroen und dampfte ab. Es sah so nicht so aus, als wenn Pat und ich früher gingen. Es war alles sehr rührend, aber mir wurde doch einen Augenblick hundeelend dabei.
Pat nahm meinen Arm. Sie ging mit ihren schönen geschmeidigen Schritten neben mir her, ich spürte die Wärme ihrer Hand, ich sah den Schimmer der Laternenlichter über ihr belebtes Gesicht gleiten — nein, ich konnte es nicht begreifen, daß sie krank war, ich konnte es nur tagsüber begreifen, aber abends nicht, wenn das Leben zärtlicher und wärmer und verheißungsvoller war...
»Wollen wir noch ein bißchen zu mir gehen?« fragte ich.
Sie nickte.
Der Korridor unserer Pension war hell erleuchtet. »Verdammt noch mal«, sagte ich, »was ist denn da los? Warte mal einen Moment.«
Ich schloß auf und sah nach. Der Korridor lag kahl erleuchtet da wie eine schmale Vorstadtstraße. Die Tür des Zimmers von Frau Bender stand weit offen, und auch da brannte Licht. Wie eine schwarze kleine Ameise tappte Hasse den Flur hinunter, gebückt unter einer Stehlampe mit rosa Seidenschirm. Er zog um.
»Guten Abend«, sagte ich. »So spät noch?«
Er hob sein blasses Gesicht mit dem sanften, dunklen Schnurrbart empor. »Ich bin erst vor einer Stunde aus dem Büro gekommen. Und ich habe ja nur abends Zeit für das Umräumen.«
»Ist Ihre Frau denn nicht da?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist bei einer Freundin. Gott sei Dank, sie hat jetzt eine Freundin, mit der sie viel zusammen ist.«
Er lächelte arglos und zufrieden und tappte weiter.
Ich holte Pat herein.
»Ich glaube, wir machen lieber kein Licht, was?« fragte ich in meinem Zimmer.
»Doch, Liebling. Einmal ganz kurz, dann kannst du es wieder ausmachen.«
»Du bist ein unersättlicher Mensch«, sagte ich, tauchte kurz die rote Plüschherrlichkeit in grelles Licht und machte es schleunigst wieder aus.
Die Fenster standen offen, und von den Bäumen draußen hauchte die Nachtluft frisch wie aus einem Walde herein.
»Schön«, sagte Pat und kauerte sich in die Ecke der Fensterbank.
»Findest du es wirklich schön hier?«
»Ja, Robby. Wie in einem großen Park im Sommer. Es ist herrlich.« »Hast du dir im Vorbeigehen das Zimmer nebenan einmal angesehen?« fragte ich.
»Nein, warum?«
»Hier links dieser prachtvolle, große Balkon gehört dazu. Er ist ganz abgedeckt und ohne Gegenüber. Wenn du da jetzt wohntest, brauchtest du nicht einmal einen Badeanzug für deine Sonnenbäder.«
»Ja, wenn ich da wohnte...«
»Das kannst du«, sagte ich leichthin. »Du hast ja gesehen, das Zimmer wird in den nächsten Tagen frei.«
Sie sah mich an und lächelte.
»Glaubst du, daß so etwas richtig wäre für uns? Dauernd so nahe zusammen zu sein?«
»Wir wären ja gar nicht dauernd zusammen«, erwiderte ich. »Tagsüber bin ich doch überhaupt nicht da. Abends auch oft nicht. Aber wenn wir dann schon mal zusammen wären, brauchten wir nicht in Lokalen zu sitzen oder uns immer wieder so rasch zu trennen, als wären wir beieinander nur zu Besuch.«
Sie rührte sich ein wenig in ihrer Ecke. »Das klingt ja beinahe so, als hättest du es dir schon genau überlegt, Liebling.«
»Habe ich auch«, sagte ich. »Den ganzen Abend schon.«
Sie richtete sich auf. »Meinst du es wirklich im Ernst, Robby?«
»Zum Donnerwetter, ja«, sagte ich, »merkst du das immer noch nicht?«
Sie schwieg einen Augenblick. »Robby«, sagte sie dann, und ihre Stimme war tiefer als vorher, »wie kommst du gerade jetzt darauf?«
»Ich komme darauf«, erwiderte ich, heftiger als ich wollte, denn ich fühlte plötzlich, daß jetzt die Entscheidung kam über vieles mehr noch als über das Zimmer, »ich komme darauf, weil ich gesehen habe in diesen letzten Wochen, wie wunderbar es ist, ganz zusammen zu sein. Ich kann das nicht mehr ertragen, dieses stundenweise Treffen! Ich will mehr von dir haben! Ich will, daß du immer bei mir sein sollst, ich habe keine Lust mehr auf das kluge Versteckspiel der Liebe, es ist mir zuwider, ich brauche es nicht, ich will einfach dich und nochmals dich, ich werde nie genug kriegen von dir, und ich will nicht eine einzige Minute davon entbehren.«
Ich hörte ihren Atem. Sie hockte in der Fensterecke, die Hände um die Knie gelegt, und schwieg. Langsam flackerte der rote Schein der Lichtreklame von gegenüber hinter den Bäumen hoch und warf einen matten Widerschein auf ihre hellen Schuhe. Dann wanderte er über ihren Rock und ihre Hände. »Du kannst mich ruhig auslachen«, sagte ich.
»Auslachen?« erwiderte sie.
»Na ja, weil ich immer sage: Ich will. Du mußt schließlich ja auch wollen.«
Sie sah auf. »Weißt du, daß du dich verändert hast, Robby?«
»Nein.«
»Doch. Du sagst es ja selbst. Du willst. Du fragst nicht mehr so viel. Du willst einfach.«
»Das ist doch keine so große Veränderung. Du kannst ja trotzdem nein sagen, auch wenn ich noch so sehr will.«
Sie beugte sich plötzlich zu mir vor. »Warum sollte ich denn nein sagen, Robby«, sagte sie mit sehr warmer und zärtlicher Stimme, »ich will es ja auch...«
Überrascht nahm ich sie um die Schultern. Ihr Haar streifte mein Gesicht. »Ist das wahr, Pat?«
»Aber ja, Liebling.«
»Verdammt«, sagte ich, »das hatte ich mir viel schwerer vorgestellt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Es liegt doch nur an dir, Robby...«
»Ich glaube beinahe auch«, sagte ich erstaunt.
Sie legte den Arm um meinen Nacken. »Manchmal ist es ganz gut, an nichts denken zu müssen. Nicht alles selbst tun zu brauchen. Sich anlehnen zu können. Ach, Liebling, es ist alles eigentlich ganz leicht; — man muß es sich nur nicht selber schwer machen.«
Ich mußte einen Augenblick die Zähne zusammenbeißen. Daß gerade sie mir das sagte! »Stimmt«, sagte ich dann, »stimmt, Pat.« Es stimmte gar nicht.
Wir standen noch eine Weile am Fenster. »Deine Sachen nehmen wir alle mit«, sagte ich. »Du sollst hier nichts entbehren. Sogar einen Teewagen schaffen wir uns an. Frida wird das schon lernen.«
»Wir haben ja einen, Liebling. Er gehört ja mir.«
»Um so besser. Dann werde ich morgen gleich mit Frida trainieren.«
Sie lehnte den Kopf gegen meine Schulter. Ich spürte, daß sie müde war. »Soll ich dich jetzt nach Hause bringen?«
fragte ich.
»Gleich. Ich lege mich nur noch einen Augenblick hin.«
Sie lag ruhig, ohne zu sprechen, auf dem Bert, als schliefe sie. Aber ihre Augen waren offen, und manchmal fing sich in ihnen der Reflex der Lichtreklamen, die wie bunte Nordlichter lautlos über die Wände und die Decke glitten. Es war draußen still geworden. Nebenan hörte man ab und zu Hasse rumoren unter den Resten seiner Hoffnungen, seiner Ehe und wohl auch seines Lebens.
»Du solltest gleich hierbleiben«, sagte ich.
Sie richtete sich auf. »Heute nicht, Liebling...«
»Ich hätte viel lieber, wenn du hier bliebest...«
»Morgen...«
Sie stand auf und ging leise durch das dunkle Zimmer. Ich dachte an den Tag, als sie zum erstenmal bei mir geblieben und in der grauen Dämmerung der Frühe ebenso still durch das Zimmer gegangen war, um sich anzuziehen. Ich wußte nicht, was es war, aber es hatte etwas rührend Selbstverständliches und fast Erschütterndes an sich, es war wie eine Gebärde aus sehr fernen, verschütteten Zeiten, wie der schweigende Gehorsam unter ein Gebot, das niemand mehr kennt. Sie kam zurück aus der Dunkelheit zu mir und nahm mein Gesicht in ihre Hände. »Es war schön bei dir, Liebling. Sehr schön. Es ist gut, daß du da bist.«
Ich erwiderte nichts. Ich konnte nichts erwidern.
Ich brachte sie nach Hause und ging dann zurück in die Bar. Köster war da. »Setz dich«, sagte er. »Wie geht's?«
»Nicht besonders, Otto.«
»Willst du was trinken?«
»Wenn ich tränke, müßte ich viel trinken. Das will ich nicht. Es muß auch so gehen. Aber ich könnte etwas anderes machen. Ist Gottfried mit dem Taxi unterwegs?«
»Nein.«
»Gut. Dann werde ich noch ein paar Stunden damit losfahren.«
»Ich gehe mit 'runter«, sagte Köster.
Ich holte den Wagen heraus und verabschiedete mich von Otto. Dann fuhr ich an den Stand. Vor mir parkten zwei Wagen. Nachher kamen noch Gustav und Tommy, der Schauspieler, dazu. Dann gingen die beiden vorderen Wagen ab, und kurz darauf bekam ich auch eine Fuhre. Ein junges Mädchen, das ins Vineta wollte.
Das Vineta war ein populäres Tanzbums, mit Tischtelefon, Rohrpost und ähnlichen Sachen für Provinzler. Es lag etwas abseits von den andern Lokalen in einer dunklen Straße.
Wir hielten. Das Mädchen kramte in seinem Täschchen und hielt mir einen Fünfzigmarkschein hin. Ich zuckte die Achseln. »Kann ich leider nicht wechseln.« Der Portier war herangekommen. »Wieviel macht es?«
fragte das Mädchen.
»Eins siebzig.«
Sie wandte sich an den Portier. »Wollen Sie es für mich auslegen? Kommen Sie, ich gebe es Ihnen an der Kasse zurück.«
Der Portier riß die Tür auf und ging mit ihr zur Kasse. Dann kam er zurück. »Da...«
Ich zählte nach. »Eins fünfzig sind das...«
»Quatsch keinen Käse oder bist du noch grün? Zwei Groschen Portierstaxe fürs Wiederkommen. Hau ab!«
Es gab Plätze, wo man dem Portier ein Trinkgeld gab. Aber man gab es ihm, wenn er einem eine Fuhre besorgte, nicht, wenn man eine brachte. »Dafür bin ich nicht grün genug«, sagte ich, »ich kriege eins siebzig.«
»Du kannst was in die Schnauze kriegen«, knurrte er. »Mensch, zieh bloß Leine, ich stehe hier schon länger als du.«
Es lag mir nichts an den zwei Groschen. Ich hatte nur keine Lust, mich anschmieren zu lassen. »Quatsch keine Opern und gib den Rest 'raus«, sagte ich.
Der Portier schlug so schnell zu, daß ich mich nicht decken konnte. Ausweichen konnte ich ohnehin auf meinem Bock nicht. Ich prallte mit dem Kopf gegen das Steuerrad. Benommen richtete ich mich auf. Mein Kopf dröhnte wie eine Trommel, und meine Nase tropfte. Der Portier stand vor mir.
»Willst du noch eine, du Wasserleiche?«
Ich schätzte in der Sekunde meine Chancen ab. Es war nichts zu machen. Der Kerl war stärker als ich. Um ihn zu erwischen, hätte ich ihn überraschen müssen. Vom Bock aus schlagen konnte ich nicht, das hatte keine Kraft. Und bis ich aus dem Wagen kam, hatte er mich dreimal am Boden. Ich sah ihn an. Er blies mir seinen Bieratem ins Gesicht. »Noch ein Ding, und deine Frau ist Witwe.«
Ich sah ihn an. Ich bewegte mich nicht. Ich starrte in dieses breite, gesunde Gesicht. Ich fraß es mit den Augen. Ich sah, wohin ich schlagen mußte, ich war eiskalt zusammengezogen vor Wut. Aber ich rührte mich nicht. Ich sah das Gesicht überdicht, überdeutlich, wie durch ein Vergrößerungsglas, riesig, jede Bartstoppel, die rote, rauhe porige Haut...
Ein Schupohelm blitzte. »Was ist hier los?«
Der Portier verzog servil das Gesicht. »Nichts, Herr Wachtmeister.«
Er sah mich an. »Nichts«, sagte ich.
Er blickte von dem Portier zu mir herüber. »Sie bluten ja.«
»Habe mich gestoßen.«
Der Portier trat einen Schritt zurück. In seinen Augen lag ein Grinsen. Er meinte, ich hätte Angst, ihn anzuzeigen.
»Los, weiterfahren«, sagte der Schupo.
Ich gab Gas und fuhr zum Stand zurück.
»Mensch, siehst du aus!« sagte Gustav.
»Das ist nur die Nase«, erwiderte ich und erzählte die Geschichte.
»Komm mal mit in die Kneipe«, sagte Gustav. »Ich war nicht umsonst mal Sanitätsgefreiter. Schweinerei, auf einen sitzenden Mann loszuschlagen.«
Er nahm mich mit in die Küche der Kneipe, ließ sich Eis geben und bearbeitete mich eine halbe Stunde lang. »Nicht mal 'ne Beule sollst du kriegen«, erklärte er.
Endlich hörte er auf. »Na, wie steht's mit dem Schädel? Gut, was? Dann wollen wir keine Zeit verlieren.«
Tommy kam herein. »War das der große Portier vom Vineta?
Der ist berüchtigt für sein Schlagen. Hat leider noch nie selber Dunst gekriegt.«
»Jetzt kriegt er welchen«, sagte Gustav.
»Ja, aber von mir«, erwiderte ich.
Gustav sah mich mißmutig an. »Bis du aus dem Wagen 'raus bist...«
»Habe mir schon einen Dreh ausgedacht. Wenn ich's nicht schaffe, kannst du ja immer noch losgehen.«
»Schön.«
Ich setzte Gustavs Mütze auf, und wir nahmen auch seinen Wagen, damit der Portier nicht gleich Lunte roch. Sehen konnte er ohnehin nicht viel, dazu war die Straße zu dunkel.
Wir kamen an. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen. Gustav sprang heraus, einen Zwanzigmarkschein in der Hand.
»Verflucht, kein Kleingeld! Portier, können Sie wechseln? Eins siebzig macht es? Legen Sie es doch eben aus.«
Er tat, als ginge er zur Kasse. Der Portier näherte sich mir hustend und schob mir eine Mark fünfzig hin. Ich hielt die Hand weiter hin.
»Schieb ab...«, knurrte er.
»Rest 'raus, dreckiger Hund!« brüllte ich.
Er stand eine Sekunde wie versteinert. »Mensch«, sagte er dann leise und leckte sich die Lippen, »das wird dir noch monatelang leid tun!« Er holte aus. Der Schlag hätte mich bewußtlos gemacht. Aber ich war vorbereitet, drehte und duckte mich, und die Faust sauste mit voller Gewalt auf die scharfe Stahlklaue meiner Andrehkurbel, die ich in der linken Hand versteckt bereitgehalten hatte. Aufheulend sprang der Portier zurück und schüttelte die Hand. Er zischte vor Schmerz wie eine Dampfmaschine und stand ganz frei, ohne Deckung.
Ich schoß aus dem Wagen. »Kennst du mich wieder?« fauchte ich und schlug ihm gegen den Magen.
Er kippte um. »Eins«, begann Gustav von der Kasse her zu zählen, »zwei — drei...«
Bei fünf kam der Portier glasig wieder hoch. Ich sah wie vorher sein Gesicht vor mir, ganz genau, dieses gesunde, breite, dumme, gemeine Gesicht, diesen ganzen gesunden, kräftigen Kerl, dieses Schwein, das nie kranke Lungen haben würde, und ich spürte plötzlich roten Qualm im Gehirn und in den Augen, ich sprang los und schlug und schlug, ich schlug alles, was sich in mir aufgespeichert hatte in diesen Tagen und Wochen hinein in dieses gesunde, breite, blökende Gesicht, bis ich zurückgerissen wurde...
»Mensch, du schlägst ihn ja tot...«, rief Gustav.
Ich sah mich um. Der Portier lehnte blutüberströmt an der Mauer. Jetzt knickte er zusammen, fiel um und begann langsam wie ein riesiges, glitzerndes Insekt in seiner Uniform auf allen vieren dem Eingang zuzukriechen.
»Der schlägt so leicht nicht wieder«, sagte Gustav. »Aber los, jetzt türmen, bevor jemand kommt! Das war schon schwere Körperverletzung.«
Wir warfen das Geld aufs Pflaster, stiegen ein und fuhren ab.
»Blute ich eigentlich auch?« fragte ich, »oder ist das der Portier?«
»Deine Nase wieder«, erklärte Gustav. »Er hat einen sehr schönen Linken darauf gelandet.«
»Habe ich gar nicht gemerkt.«
Gustav lachte.
»Weißt du«, sagte ich, »mir ist jetzt bedeutend besser.«

19

XVIII

Unser Taxi stand vor der Bar. Ich ging hinein, um Lenz abzulösen und mir den Schlüssel und die Papiere zu holen. Gottfried kam mit heraus. »Hast du gute Kasse gehabt?« fragte ich.
»Mäßig«, erwiderte er. »Entweder gibt es zuviel Taxis oder zuwenig Leute, die Taxi fahren. Wie war's denn bei dir?«
»Schlecht. Habe die ganze Nacht herumgestanden und nicht mal zwanzig Mark eingenommen.«
»Trübe Zeiten!« Gottfried zog die Brauen hoch. »Na, dann hast du's ja wohl nicht so sehr eilig heute, was?«
»Nein, warum?«
»Kannst mich mal ein Stück mitnehmen.«
»Gut.« Wir stiegen ein. »Wo willst du denn hin?« fragte ich.
»Zum Dom.«
»Was?« fragte ich. »Glaubst du, daß ich mich verhört habe? Ich habe Dom verstanden.«
»Nein, mein Sohn, du hast dich nicht verhört. Dom ist richtig!«
Ich sah ihn erstaunt an. »Staune nicht, sondern fahre!« sagte Gottfried.
»Na schön.« Wir fuhren los.
Der Dom lag im alten Teil der Stadt, an einem freien Platz, der von den Häusern der Geistlichen umgeben war. Ich hielt vor dem Hauptportal. »Weiter«, sagte Gottfried. »Ganz herum.«
Er ließ mich vor einem kleinen Eingang an der Rückseite halten und stieg aus. »Viel Vergnügen«, sagte ich. »Ich nehme an, daß du beichten willst.«
»Komm mal mit«, erwiderte er.
Ich lachte. »Heute nicht. Ich habe heute morgen schon gebetet. Das reicht bei mir für den ganzen Tag.«
»Rede keinen Unsinn, Baby! Komm mit. Ich will großmütig sein und dir was zeigen.«
Neugierig folgte ich ihm. Wir gingen durch die kleine Eingangstür und kamen von dort sofort in die Kreuzgänge. Sie bildeten ein großes Viereck und bestanden aus langen Bogenreihen, die auf der Innenseite von grauen Granitsäulen gestützt wurden und einen Garten einrahmten. In der Mitte erhob sich ein großes, verwittertes Kreuz mit der Figur Christi. An den Seiten waren steinerne Reliefbilder der Stationen des schmerzhaften Rosenkranzes aufgestellt. Vor jedem Bilde befand sich eine alte Betbank. Der Garten war verwildert und blühte über und über.
Gottfried zeigte auf ein paar mächtige weiße und rote Rosenbüsche. »Das wollte ich dir zeigen! Erkennst du sie wieder?«
Überrascht blieb ich stehen. »Natürlich erkenne ich sie wieder«, sagte ich. »Also hier hast du geerntet, du alter Kirchenräuber!«
Pat war vor einer Woche zu Frau Zalewski umgezogen, und Lenz hatte ihr abends durch Jupp einen riesigen Strauß Rosen geschickt. Es war eine solche Menge gewesen, daß Jupp zweimal herunter mußte und jedesmal mit beiden Armen voll wiederkam. Ich hatte mir schon den Kopf zerbrochen, wo Gottfried sie nur herhaben mochte, denn ich kannte sein Prinzip, Blumen niemals zu kaufen. In den städtischen Anlagen hatte ich sie nie gesehen.
»Das ist eine Idee!« sagte ich anerkennend. »Darauf soll ein Mensch kommen!«
Gottfried schmunzelte. »Der Garten hier ist eine wahre Goldgrube!« Er legte mir feierlich die Hand auf die Schulter. »Hiermit nehme ich dich als Teilhaber auf! Denke, du kannst es gerade jetzt gut gebrauchen!«
»Wieso gerade jetzt?« fragte ich.
»Weil die städtischen Anlagen augenblicklich ziemlich kahl sind. Und die waren ja wohl bisher deine einzige Weide, was?«
Ich nickte.
»Außerdem«, erklärte Gottfried weiter, »kommst du jetzt in die Zeit, wo sich der Unterschied zwischen einem Bourgeois und einem Kavalier zeigt. Der Bourgeois wird immer unaufmerksamer, je länger er eine Frau kennt. Der Kavalier immer aufmerksamer.« Er machte eine weitläufige Handbewegung. »Hiermit kannst du ein geradezu erschütternder Kavalier werden!«
Ich lachte. »Alles ganz gut, Gottfried«, sagte ich. »Aber wie ist das, wenn man erwischt wird? Man kann hier schlecht ausreißen, und fromme Leute bezeichnen so was leicht als Schändung heiliger Stätten.«
»Mein lieber Junge«, erwiderte Lenz, »siehst du hier jemand? Seit dem Kriege gehen die Leute in politische Versammlungen, aber nicht in die Kirche.«
Das war richtig. »Aber wie ist es mit den Pastoren?« fragte ich.
»Den Pastoren sind die Blumen egal, sonst wäre der Garten besser gepflegt. Und der liebe Gott hat höchstens seinen Spaß dran, wenn du jemand damit eine Freude machst. Der ist gar nicht so.«
»Da hast du recht!« Ich betrachtete die riesigen alten Büsche. »Für die nächsten Wochen habe ich damit ausgesorgt, Gottfried.«
»Länger. Du hast Glück. Es ist eine sehr dauerhafte, lange blühende Rosensorte. Du reichst damit mindestens bis September. Und von da an gibt es hier dann Astern und Chrysanthemen. Komm, ich zeige sie dir auch gleich.«
Wir gingen durch den Garten. Die Rosen dufteten betäubend. Wie eine summende Wolke flogen Bienenschwärme von Blüte zu Blüte.
»Sieh dir das an«, sagte ich und blieb stehen. »Wo mögen die nur herkommen? Mitten in der Stadt? Hier gibt es in der Nähe doch gar keine Bienenkörbe. Oder glaubst du, daß die Pastoren welche auf ihren Dächern stehen haben?«
»Nein, Bruder«, erwiderte Lenz. »Die kommen todsicher von irgendeinem Bauernhof. Sie kennen nur eben ihren Weg.« Er zwinkerte mit den Augen. »Wir nicht, was?«
Ich hob die Schultern.
»Vielleicht doch. Wenigstens ein kleines Stück. Soweit man es eben kann. Du nicht?«
»Nein. Will's auch gar nicht wissen. Ziele machen das Leben bürgerlich.«
Ich blickte zum Domturm hinauf. Seidengrün stand er vor dem blauen Himmel, unendlich alt und ruhig, von Schwalben umflogen.
»Wie still es hier ist«, sagte ich.
Lenz nickte. »Ja, mein Alter, hier merkt man, daß einem eigentlich nur Zeit gefehlt hat, um ein guter Mensch zu werden, was?«
»Zeit und Ruhe«, erwiderte ich. »Ruhe auch.«
Er lachte. »Zu spät! Jetzt ist es schon so weit, daß man die Ruhe nicht mehr aushaken könnte. Also los! Wieder hinein in den Radau!«
Ich setzte Gottfried ab und fuhr zum Stand zurück. Unterwegs kam ich am Friedhof vorbei. Ich wußte, daß Pat jetzt in ihrem Liegestuhl auf dem Balkon lag, und hupte ein paarmal. Aber es zeigte sich nichts, und ich fuhr weiter. Dafür sah ich ein Stück weiter Frau Hasse in einer Art taftseidenem Umhang die Straße entlangrudern und um die Ecke verschwinden. Ich fuhr ihr nach, um sie zu fragen, ob ich sie irgendwo hinbringen könnte. Aber als ich an die Kreuzung kam, sah ich, daß sie in einen Wagen stieg, der hinter der Ecke gehalten hatte. Es war eine etwas klapprige Mercedeslimousine aus dem Jahre 23, die gleich darauf losratterte. Ein Mann mit einer Nase wie ein Entenschnabel und einem auffallend karierten Anzug saß am Steuer. Ich schaute dem Wagen ziemlich lange nach. Das kam also dabei heraus, wenn eine Frau dauernd allein zu Hause saß. Nachdenklich fuhr ich zum Stand und stellte mich in die Reihe der wartenden Taxis.
Die Sonne brütete auf das Verdeck. Es ging nur langsam vorwärts. Ich döste vor mich hin und versuchte zu schlafen. Doch das Bild von Frau Hasse ging mir nicht aus dem Kopf. Es war etwas ganz anderes, aber schließlich war Pat auch den ganzen Tag allein.
Ich stieg aus und ging nach vorn zu Gustavs Wagen. »Hier, trink mal«, forderte er mich auf und hielt mir eine Thermosflasche hin.
»Wunderbar kalt! Eigene Erfindung! Kaffee mit Eis. Bleibt stundenlang so bei der Hitze. Ja, Gustav ist praktisch!«
Ich nahm einen Becher und trank ihn aus. »Wenn du so praktisch bist«, sagte ich, »dann erzähl mir doch mal, wie man einer Frau etwas Unterhaltung verschaffen kann, wenn sie viel allein ist.«
»So was Einfaches!« Gustav sah mich überlegen an. »Mensch, Robert! Ein Kind oder ein Hund! Frag mich mal was Schwereres!«
»Ein Hund!« sagte ich überrascht, »verflucht ja, ein Hund! Da hast du recht! Mit einem Hund ist man nie allein.«
Ich bot ihm eine Zigarette an. »Hör mal, hast du zufällig eine Ahnung von so was? So ein Köter muß doch jetzt billig zu kaufen sein.«
Gustav schüttelte vorwurfsvoll den Schädel. »Aber Robert, du weißt wahrhaftig noch gar nicht, was du an mir hast! Mein künftiger Schwiegervater ist doch zweiter Schriftführer vom Dobermannpinscherverein! Natürlich kannst du einen Jungrüden haben, umsonst sogar, erstklassige Blutführung. Wir haben da einen Wurf, vierzwei, Großmutter Siegerin Hertha von der Toggenburg.«
Gustav war ein gesegneter Mensch. Der Vater seiner Braut war nicht nur Dobermannzüchter, sondern auch Gastwirt, Besitzer der Neuen Klause — seine Braut besaß außerdem eine Plisseeplätterei. Gustav stand sich dadurch erstklassig. Beim Schwiegervater aß und trank er umsonst, und die Braut wusch und plättete seine Hemden. Er hütete sich zu heiraten. Dann war er es, der sorgen mußte.
Ich erklärte Gustav, daß ein Dobermann nicht das richtige sei. Er wäre mir zu groß und nicht zuverlässig im Charakter. Gustav überlegte nur kurz. »Komm mal mit«, sagte er. »Wollen mal spekulieren gehen. Ich weiß da was. Darfst mir nur nicht dazwischenreden.«
»Gut.«
Er führte mich zu einem kleinen Geschäft. Im Schaufenster standen veralgte Aquarien. In einer Kiste hockten ein paar trübselige Meerschweinchen. An den Seiten hingen Käfige mit rastlos herumturnenden Zeisigen, Dompfaffen und Kanarienvögeln.
Ein krummbeiniger kleiner Mann mit einer braunen Strickweste kam uns entgegen. Wässerige Augen, fahle Haut, ein Leuchtkolben als Nase: Bier- und Schnapstrinker.
»Sag mal, Anton, was macht Asta?« fragte Gustav.
»Zweiter Preis und Ehrenpreis in Köln«, erwiderte Anton.
»Gemeinheit!« erklärte Gustav. »Warum nicht den ersten?« »Den ersten ha'm sie Udo vom Blankenfels gegeben«, knurrte Anton.
»Daß ich nicht meckere! Bei der Hinterhand!«
Im Hintergrund des Ladens kläffte und winselte es. Gustav ging hinüber. Er brachte im Genick zwei kleine Terrier heran, links einen schwarzweißen, rechts einen rotbraunen. Unmerklich zuckte die Hand mit dem rotbraunen. Ich sah ihn an: ja.
Es war ein wunderschöner, spielerischer Hund. Die Beine gerade, der Körper quadratisch, der Kopf viereckig, klug und frech. Gustav ließ beide laufen.
»Komischer Bastard«, sagte er und zeigte auf den Rotbraunen. »Wo hast du denn den her?«
Anton hatte ihn angeblich von einer Dame, die nach Südamerika gereist war. Gustav brach in ein ungläubiges Gelächter aus. Anton zeigte beleidigt einen Stammbaum vor, der bis auf die Arche Noah ging. Gustav winkte ab und interessierte sich für den Schwarzweißen. Anton verlangte hundert Mark für den Rotbraunen. Gustav bot fünf. Ihm gefiel der Urgroßvater nicht. Er mäkelte auch am Schwanz herum. Die Ohren waren ebenfalls nicht richtig. Der Schwarzweiße, der war tipptopp.
Ich stand in der Ecke und hörte zu. Plötzlich griff etwas nach meinem Hut. Erstaunt drehte ich mich um. Ein kleiner Affe saß in der Ecke auf seiner Stange, ein bißchen zusammengekrümmt, mit gelbem Fell und traurigem Gesicht. Er hatte schwarze, runde Augen und die bekümmerten Lippen einer alten Frau. Um den Bauch hatte er einen Ledergurt geschlungen, an dem eine Kette befestigt war. Die Hände waren klein, schwarz und erschreckend menschlich.
Ich blieb stehen und verhielt mich ruhig. Langsam rückte der Affe auf seiner Stange näher. Er sah mich dabei dauernd an, nicht mißtrauisch, sondern mit einem merkwürdigen, verhaltenen Blick. Vorsichtig streckte er schließlich seine Hand aus. Ich hielt ihm einen Finger hin. Er zuckte zurück, dann nahm er ihn. Es war sonderbar, die kühle Kinderhand zu fühlen, wie sie meinen Finger umklammerte. Es war, als wolle sich ein armer, stummer, in diesen gekrümmten Körper verschlagener Mensch hinausretten. Man konnte die todtraurigen Augen nicht lange ansehen.
Schnaufend tauchte Gustav aus dem Wald von Stammbäumen wieder auf. »Also abgemacht, Anton, du kriegst einen Dobermannrüden aus Hertha dafür. Das beste Geschäft deines Lebens!« Dann wandte er sich zu mir. »Willst du ihn gleich mitnehmen?«
»Was kostet er denn?«
»Nichts. Getauscht gegen den Dobermann, den ich dir vorhin geschenkt habe. Ja, Gustav muß man machen lassen! Gustav ist goldrichtig.«
Wir machten ab, daß ich den Hund später holen sollte, wenn ich mit dem Taxifahren fertig war.
»Weißt du, was du da gekriegt hast?« fragte Gustav mich draußen. »Ganz was Rares. Einen Irischen Terrier. Primissima. Ohne jeden Fehler. Und einen Stammbaum dazu, Mann Gottes, den darfst du dir gar nicht ansehen, sonst muß du dich immer erst verbeugen, bevor du das Vieh anredest.«
»Gustav«, sagte ich, »du hast mir einen großen Gefallen getan. Komm, wir trinken jetzt den ältesten Kognak miteinander, den wir auf treiben können.«
»Heute nicht!« erklärte Gustav. »Heute muß ich eine sichere Hand haben. Ich gehe abends in meinen Verein kegeln. Versprich mir, daß du mal mitkommst. Alles hochanständige Leute da, ein Oberpostsekretär sogar.«
»Ich komme«, sagte ich. »Auch wenn der Oberpostsekretär nicht da ist.«
Kurz vor sechs Uhr fuhr ich in die Werkstatt zurück. Köster erwartete mich. »Jaffé hat heute nachmittag telefoniert. Du sollst ihn anrufen.«
Ich bekam einen Augenblick keinen Atem. »Hat er was gesagt, Otto?«
»Nein, nichts Besonderes. Nur daß er bis fünf in seiner Sprechstunde ist. Nachher im Dorotheenkrankenhaus. Du wirst also dort anrufen müssen.«
»Gut.«
Ich ging ins Büro. Es war warm und stickig, aber ich fror, und der Telefonhörer zitterte in meiner Hand. »Unsinn«, sagte ich und stützte den Arm fest auf den Tisch.
Es dauerte lange, bis ich Jaffé erreichte. »Haben Sie Zeit?« fragte er.
»Ja.«
»Dann kommen Sie doch gleich hier heraus. Ich bin noch eine Stunde da.«
Ich wollte ihn fragen, ob etwas mit Pat passiert sei. Aber ich brachte es nicht fertig. »Gut«, sagte ich, »in zehn Minuten bin ich da.«
Ich legte den Hörer auf und rief sofort zu Hause an. Das Dienstmädchen war am Apparat. Ich fragte nach Pat. »Weiß nicht, ob sie da ist«, sagte Frida brummig. »Will mal nachsehen.«
Ich wartete. Mein Kopf war dick und heiß. Es dauerte endlos. Dann hörte ich ein Scharren und Pats Stimme. »Robby?«
Ich schloß einen Moment die Augen. »Wie geht es, Pat?«
»Gut. Ich hab bis eben auf dem Balkon gesessen und gelesen. Ein aufregendes Buch.«
»So, ein aufregendes Buch«, sagte ich. »Das ist ja schön. Ich wollte dir nur sagen, daß ich heute ein bißchen später nach Hause komme. Bist du schon fertig mit deinem Buch?« »Nein, ich bin mittendrin. Ein paar Stunden reicht es noch.«
»Bis dahin bin ich längst da. Und nun lies rasch weiter.«
Ich blieb einen Augenblick sitzen. Dann stand ich auf.
»Otto«, sagte ich, »kann ich Karl mal haben?«
»Natürlich. Wenn du willst, fahre ich mit. Ich habe hier nichts zu tun.«
»Ist nicht nötig. Es ist weiter nichts. Ich habe schon zu Hause angerufen.«
Welch ein Licht, dachte ich, als Karl auf die Straße hinausschoß, welch ein wunderbares Abendlicht über den Dächern! Wie voll und süß das Leben ist!
Ich mußte ein paar Minuten auf Jaffé warten. Eine Schwester führte mich in ein kleines Zimmer, in dem alte Zeitschriften umherlagen. Ein paar Blumentöpfe mit Rankengewächsen standen auf der Fensterbank. Es waren immer dieselben Zeitschriften in braunen Umschlägen und immer dieselben traurigen Rankengewächse; man fand sie nur in Wartezimmern von Ärzten und Krankenhäusern.
Jaffé kam herein. Er trug einen schneeweißen Mantel, der noch die Plättkniffe zeigte. Aber als er sich zu mir setzte, sah ich an der Innenseite des rechten Ärmels einen ganz kleinen hellroten Blutspritzer. Ich hatte in meinem Leben viel Blut gesehen — aber dieser winzige Fleck wirkte auf einmal beklemmender auf mich als noch so viele blutgetränkte Verbände. Meine zuversichtliche Stimmung erlosch.
»Ich habe Ihnen versprochen zu sagen, wie es mit Fräulein Hollmann steht«, sagte Jaffé.
Ich nickte und sah auf die Tischdecke. Sie hatte ein buntes Plüschmuster. Ich starrte auf die ineinander geschachtelten Sechsecke und hatte das verrückte Gefühl, daß alles gut gehen würde, wenn ich nur aushaken und nicht blinzeln müßte, ehe Jaffé weitersprach.
»Sie war vor zwei Jahren sechs Monate im Sanatorium.
Wissen Sie das?«
»Nein«, sagte ich und sah weiter auf die Tischdecke.
»Es hatte sich danach gebessert. Ich habe sie jetzt genau untersucht. Sie muß diesen Winter unbedingt noch einmal hin. Sie kann nicht hier in der Stadt bleiben.«
Ich blickte noch immer auf die Sechsecke. Sie verschwammen und begannen zu tanzen. »Wann muß sie fort?« fragte ich.
»Im Herbst. Spätestens Ende Oktober.«
»Es war also keine vorübergehende Blutung?«
»Nein.«
Ich hob die Augen. »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen«, fuhr Jaffé fort, »daß diese Krankheit ganz unberechenbar ist. Vor einem Jahr schien sie zu stehen, die Verkapselung war eingetreten, und es war anzunehmen, daß sie geschlossen blieb. Ebenso, wie sie jetzt wieder aufgebrochen ist, kann sie überraschend wieder zum Stillstand kommen. Ich sage das nicht so daher — es ist wirklich so. Ich selbst habe merkwürdige Heilungen erlebt.«
»Verschlimmerungen auch?«
Er sah mich an. »Das auch, natürlich.«
Er begann mir die Einzelheiten zu erklären. Beide Lungenflügel waren angegriffen, der rechte weniger, der linke stärker. Dann unterbrach er sich und klingelte nach der Schwester.
»Holen Sie einmal meine Mappe.«
Die Schwester brachte sie. Jaffé nahm zwei große Fotografien heraus. Er zog die knisternden Umschläge herab und hielt sie gegen das Fenster. »So sehen Sie es besser. Hier haben wir die Röntgenbilder.«
Ich sah die Wirbel eines Rückens auf der durchscheinenden grauen Platte, die Schulterblätter, die Schlüsselbeine, die Gelenkpfannen der Oberarme und die flachen Bogen der Rippen. Aber ich sah mehr als das — ich sah ein Skelett. Dunkel und gespenstisch hob es sich von den fahlen, ineinander verfließenden Schatten der Aufnahme ab. Ich sah das Skelett von Pat. Das Skelett von Pat.
Jaffé zeichnete mit der Pinzette einzelne Linien und Verfärbungen auf der Platte nach und erklärte sie. Er merkte nicht, daß ich gar nicht mehr hinblickte. Die Gründlichkeit des Wissenschaftlers war über ihn gekommen. Schließlich wandte er sich mir zu. »Haben Sie es verstanden?«
»Ja«, sagte ich.
»Was ist denn?« fragte er.
»Nichts«, erwiderte ich. »Ich kann das nur nicht gut sehen.«
»Ach so.« Er rückte an seiner Brille. Dann schob er die Fotografien wieder in die Hüllen zurück und musterte mich forschend. »Machen Sie sich keine unnützen Gedanken.«
»Das tue ich nicht. Aber es ist ein gottverdammtes Elend! Millionen Menschen sind gesund! Warum dieser eine nicht?«
Jaffé schwieg eine Weile.
»Darauf kann niemand eine Antwort geben«, sagte er dann.
»Ja«, erwiderte ich, plötzlich furchtbar erbittert und ganz taub vor Wut, »darauf kann niemand eine Antwort geben! Natürlich nicht! Auf das Elend und das Sterben kann niemand eine Antwort geben! Verflucht! Nicht einmal tun kann man etwas dagegen!«
Jaffé sah mich lange an. »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Aber ich kann mir nichts vormachen. Das ist das Verfluchte.«
Er sah mich immer noch an. »Haben Sie etwas Zeit?« fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Genug.«
Er stand auf. »Ich muß jetzt meine Abendvisite machen. Ich möchte, daß Sie mitkommen. Die Schwester wird Ihnen einen weißen Mantel geben. Für die Patienten gelten Sie dann als mein Assistent.«
Ich wußte nicht, was er wollte; aber ich nahm den Mantel, den die Schwester mir hinhielt.
Wir gingen die langen Korridore entlang. Durch die breiten Fenster fiel rosig der Schein des Abends. Es war ein weiches, gedämpftes, ganz unwirklich schwebendes Licht. Ein paar Fenster standen offen. Der Geruch von blühenden Linden wehte herein.
Jaffé öffnete eine Tür. Stickiger, fauler Geruch schlug uns entgegen. Eine Frau mit wunderbarem Haar in der Farbe von altem Gold, auf dem das Licht in hellen Reflexen schimmerte, hob matt die Hand. Die Stirn war edel und schmal an den Schläfen. Unter den Augen aber begann ein Verband. Er reichte bis zum Munde. Jaffé löste ihn vorsichtig. Ich sah, daß die Frau keine Nase mehr hatte. Sie hatte an ihrer Stelle eine krustige, schmierige rote Wunde mit zwei Löchern darin. Jaffé legte den Verband wieder darüber.
»Gut«, sagte er freundlich und wendete sich zum Gehen.
Er schloß die Tür hinter sich. Ich blieb einen Augenblick draußen stehen und sah in das weiche Licht des Abends.
»Kommen Sie!« sagte Jaffé und ging mir voran in das nächste Zimmer. Das heiße Rasseln und Keuchen eines schwer Fiebernden drang uns entgegen. Es war ein Mann mit bleifarbenem Gesicht, in dem sonderbar grelle rote Flecken standen. Der Mund war aufgerissen, die Augen quollen hervor, und die Hände fuhren ruhelos auf der Decke hin und her. Der Mann war bewußtlos. Die Fiebertafel zeigte durchgehend vierzig Grad. Eine Schwester saß am Bett und las. Sie legte das Buch weg und stand auf, als Jaffé hereintrat. Er blickte auf die Tafel und schüttelte den Kopf. »Doppelte Lungenentzündung und Rippenfellentzündung. Wehrt sich seit einer Woche wie ein Stier. Rückfall. War schon fast gesund. Zu früh gearbeitet. Frau und vier Kinder. Aussichtslos.« Er horchte die Brust ab und prüfte den Puls. Die Schwester half ihm. Dabei fiel ihr Buch zur Erde. Ich hob es auf und sah, daß es ein Kochbuch war. Der Mann im Bett kratzte unaufhörlich mit den spinnenartigen Händen über die Decke. Es war der einzige Laut im Zimmer. »Bleiben Sie die Nacht hier, Schwester«, sagte Jaffé. Wir gingen hinaus. Die rosige Dämmerung draußen war farbiger geworden. Sie erfüllte den Korridor jetzt wie eine Wolke.
»Verdammtes Licht«, sagte ich.
»Warum?« fragte Jaffé.
»Es geht nicht zusammen. Das eine und das andere.«
»Doch«, sagte Jaffé. »Es geht zusammen.«
Im nächsten Zimmer lag eine röchelnde Frau. Sie war nachmittags mit einer schweren Veronalvergiftung eingeliefert worden. Der Mann war am Tage vorher verunglückt. Er hatte sich die Wirbelsäule gebrochen und war der Frau schreiend bei vollem Bewußtsein ins Haus gebracht worden. Dort war er nachts gestorben.
»Kommt sie durch?« fragte ich.
»Wahrscheinlich.«
»Wozu?«
»Ich hatte in den letzten Jahren fünf ähnliche Fälle«, sagte Jaffé. »Nur eine hat zum zweitenmal versucht, ein Ende zu machen. Mit Gas. Sie ist gestorben. Von den andern sind zwei wieder verheiratet.«
Im nächsten Zimmer lag ein Mann, der seit zwölf Jahren gelähmt war. Er hatte eine wächserne Haut, einen dünnen schwarzen Bart und sehr große, stille Augen. »Wie geht es?« fragte Jaffé.
Der Mann machte eine unbestimmte Bewegung. Dann zeigte er auf das Fenster. »Sehen Sie den Himmel! Es wird Regen geben, ich spüre es.« Er lächelte. »Man schläft besser, wenn es regnet.« Vor ihm auf der Bettdecke stand ein ledernes Schachspiel mit feststeckbaren Figuren. Ein Haufen Zeitungen und ein paar Bücher lagen daneben.
Wir gingen weiter. Ich sah eine junge Frau mit entsetzten Augen und blauen Lippen, vollkommen zerrissen von einer schweren Geburt — ein verkrüppeltes Kind mit verdrehten, schwachen Beinen und einem Wasserkopf — einen Mann ohne Magen — eine eulenhafte Greisin, die weinte, weil ihre Angehörigen sich nicht um sie kümmerten; sie starb ihnen zu langsam — eine Blinde, die glaubte, daß sie wieder sehen würde — syphilitisches Kind mit blutigem Ausschlag, und den Vater, der an seinem Bette saß — eine Frau, der am Morgen die zweite Brust abgenommen worden war — eine andere, krumm gezogen von Gelenkrheumatismus — eine dritte, der die Eierstöcke herausgeschnitten waren — einen Arbeiter mit zerquetschten Nieren — Zimmer um Zimmer ging es weiter, Zimmer um Zimmer war es dasselbe — stöhnende, verkrampfte Körper, regungslose, fast erloschene Gestalten, ein Knäuel, eine endlos scheinende Reihe von Jammer, Angst, Ergebung, Schmerz, Verzweiflung, Hoffnung, Not —; und jedesmal, wenn eine Tür sich geschlossen hatte, stand auf dem Korridor dann plötzlich wieder das rosige Licht des unirdischen Abends, immer wieder nach dem Grauen der Zimmerzellen diese zärtliche Wolke aus weichem graugoldenem Glanz, von der man nicht sagen konnte, ob sie wie ein fürchterlicher Hohn wirkte oder wie ein übermenschlicher Trost. Vor dem Eingang zum Operationssaal blieb Jaffé stehen. Scharfes Licht drang durch die Mattglasscheiben der Tür. Zwei Krankenschwestern fuhren einen flachen Wagen herein. Eine Frau lag darauf. Ich begegnete ihrem Blick. Sie sah mich gar nicht an. Sie sah irgendwohin, in eine unbestimmte Ferne. Aber ich zuckte zusammen vor diesen Augen, so viel Tapferkeit und Fassung und Ruhe war darin.
Jaffés Gesicht war plötzlich müde. »Ich weiß nicht, ob es richtig war«, sagte er, »aber es hätte keinen Zweck gehabt, Sie mit Worten zu beruhigen. Sie hätten mir nicht geglaubt. Sie haben jetzt gesehen, daß viele dieser Menschen schlimmer krank sind als Pat Hollmann. Manche von ihnen haben nichts mehr als ihre Hoffnung. Aber die meisten kommen durch. Werden wieder gesund. Das wollte ich Ihnen zeigen.«
Ich nickte. »Es war richtig«, sagte ich.
»Vor neun Jahren starb meine Frau. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt. Nie krank gewesen. Grippe.« Er schwieg einen Augenblick. »Sie verstehen, weshalb ich Ihnen das sage?«
Ich nickte wieder.
»Man kann nichts voraus wissen. Der Todkranke kann den Gesunden überleben. Das Leben ist eine sonderbare Angelegenheit.« Sein Gesicht war jetzt sehr faltig. Eine Schwester kam und flüsterte ihm etwas zu. Er reckte sich auf und nickte zum Operationssaal hinüber.
»Ich muß jetzt da hinein. Zeigen Sie Pat nicht, wenn Sie Sorge haben. Das ist das wichtigste. Können Sie das?«
»Ja«, sagte ich.
Er gab mir die Hand und ging rasch mit der Schwester durch die Glastür in den kalkweiß erleuchteten Saal.
Ich stieg langsam die vielen Treppen hinunter. Je tiefer ich kam, desto dunkler wurde es, und im ersten Stock brannte schon das elektrische Licht. Als ich dann auf die Straße trat, sah ich, wie vom Horizont her noch einmal die rosafarbene Dämmerung wie unter einem tiefen Atemzug aufwehte. Gleich darauf erlosch sie und wurde grau.
Ich blieb eine Zeitlang im Wagen sitzen und starrte vor mich hin. Dann nahm ich mich zusammen und fuhr zurück zur Werkstatt. Köster wartete auf mich vor dem Tor. Ich fuhr den Wagen in den Hof und stieg aus. »Wußtest du es schon?« fragte ich.
»Ja«, erwiderte er. »Aber Jaffé wollte es dir selber sagen.«
Ich nickte.
Köster sah mich an.
»Otto«, sagte ich, »ich bin kein Kind und weiß, daß noch nichts verloren ist. Aber es wird mir vielleicht doch schwer werden, mich heute abend nicht zu verraten, wenn ich mit Pat allein bleibe. Morgen geht es. Dann bin ich durch. Wollen wir heute alle zusammen irgendwohin gehen?«
»Selbstverständlich, Robby. Ich habe schon daran gedacht und Gottfried Bescheid gesagt.«
»Dann gib mir Karl noch einmal. Ich fahre nach Hause und hole erst Pat ab, und dann, in einer Stunde, euch.«
»Gut.«
Ich fuhr los. In der Nikolaistraße fiel mir ein, daß ich den Hund vergessen hatte. Ich drehte um und fuhr zurück, um ihn zu holen. Der Laden war nicht beleuchtet, aber die Tür offen. Anton saß hinten im Laden auf einem Feldbett. Er hatte eine Flasche in der Hand. »Angeschissen hat Gustav mich«, sagte er und stank wie eine ganze Schnapsbrennerei.
Der Terrier sprang mir entgegen, beschnupperte mich und leckte mir die Hand. Seine Augen schimmerten grün im schrägen Schein, der von der Straße hereinfiel. Anton stand auf. Er schwankte und weinte plötzlich. »Mein Hündchen, jetzt gehst du auch weg — alles geht weg — Thilde tot — Minna weg — sagen Sie mal, wozu lebt unsereins eigentlich?«
Das hatte mir noch gefehlt! Die kleine, trostlose, elektrische Birne, die er jetzt anknipste, das leise Rascheln der Schildkröten und der Vögel, und der kleine, gedunsene Mann in diesem Laden. »Die Dicken, die wissen ja — aber sagen Sie mal, wozu lebt unsereins überhaupt? Wozu leben wir Jammerpinscher, Herr?« Der Affe stieß einen Klagelaut aus und sprang wie ein Rasender auf seiner Stange hin und her. Sein Schatten sprang groß auf der Wand mit. »Koko«, schluchzte der kleine Mann, der allein in der Dunkelheit gesessen und getrunken hatte, »mein Einziger, komm!« Er hielt ihm die Flasche hin. Der Affe griff danach.
»Sie machen das Tier kaputt, wenn Sie ihm zu saufen geben«, sagte ich.
»Wennschon«, lallte er. »Paar Jahre länger an der Kette oder nicht — ist doch alles egal — alles egal — Herr...«
Ich nahm den Hund, der sich warm an mich drängte, und ging. Geschmeidig, mit langen, weichen Bewegungen, lief er neben mir her zum Wagen.
Ich fuhr nach Hause und ging vorsichtig, den Hund an der Leine, hinauf. Auf dem Korridor blieb ich stehen und schaute in den Spiegel. Mein Gesicht war wie sonst. Ich klopfte an Pats Tür, öffnete sie ein wenig und ließ den Hund hinein.
Ich blieb draußen stehen, hielt die Leine fest und wartete. Aber statt Pats Stimme hörte ich unvermutet den Baß Frau Zalewskis. »Gott im Himmel.«
Aufatmend sah ich hinein. Ich hatte nur Angst vor der ersten Minute mit Pat allein gehabt. Jetzt war alles leicht. Frau Zalewski war ein Prellbock, auf den man sich verlassen konnte. Sie thronte majestätisch am Tisch, eine Tasse Kaffee neben sich und ein Spiel Karten in mystischer Ordnung vor sich ausgebreitet. Pat hockte mit glänzenden Augen an ihrer Seite und ließ sich die Zukunft weissagen. »Guten Abend«, sagte ich, plötzlich sehr froh.
»Da kommt er«, erklärte Frau Zalewski würdig. »Über den kurzen Weg in der Abendstunde, neben sich einen schwarzen Herrn auf der Spitze des Hauses.«
Der Hund riß sich los und schoß bellend zwischen meinen Beinen hindurch ins Zimmer.
»Mein Gott!« rief Pat. »Das ist ja ein Irischer Terrier!«
»Alle Achtung!« sagte ich. »Vor ein paar Stunden habe ich das noch nicht gewußt.«
Sie beugte sich hinunter, und der Hund sprang stürmisch an ihr hoch.
»Wie heißt er denn, Robby?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich Kognak oder Whisky oder so, nach seinem letzten Besitzer.«
»Gehört er uns?«
»Soweit ein lebendiges Wesen einem andern gehören kann, ja.«
Sie war ganz atemlos vor Freude.
»Wir werden ihn Billy nennen, Robby! Meine Mutter hatte einen als Mädchen. Sie hat mir oft davon erzählt. Er hieß auch Billy!«
»Dann habe ich es ja gut getroffen«, sagte ich.
»Ist er stubenrein?« fragte Frau Zalewski.
»Er hat einen Stammbaum wie ein Fürst«, erwiderte ich. »Und Fürsten sind stubenrein.«
»Wenn sie klein sind, nicht. Wie alt ist er denn?«
»Acht Monate. Das ist soviel wie beim Menschen sechzehn Jahre.«
»Er sieht nicht stubenrein aus«, erklärte Frau Zalewski.
»Er muß mal gewaschen werden, das ist alles.«
Pat stand auf und legte ihren Arm um Frau Zalewskis Schultern. Ich sah ihr perplex zu.
»Ich habe mir immer schon einen Hund gewünscht«, sagte sie. »Wir können ihn doch behalten, nicht wahr? Sie haben doch nichts dagegen?«
Mutter Zalewski wurde zum erstenmal, seit ich sie kannte, verlegen.
»Na also — meinetwegen«, erwiderte sie. »Es stand ja auch in den Karten. Eine Überraschung über einen Herrn ins Haus.«
»Stand auch drin, daß wir heute abend ausgehen?« fragte ich.
Pat lachte. »Soweit waren wir noch nicht, Robby. Wir waren erst bei dir.«
Frau Zalewski erhob sich und raffte ihre Karten zusammen. »Man kann dran glauben, man kann nicht dran glauben, und man kann verkehrt dran glauben, wie Zalewski. Dem stand Pik Neun als Unheilsbote immer über dem flüssigen Element. Er meinte deshalb, er müßte sich vor dem Wasser in acht nehmen. Aber es war der Schnaps und das Pilsener Bier.«
»Pat«, sagte ich, als sie fort war, und nahm sie fest in die Arme, »es ist wunderbar, nach Hause zu kommen und dich hier zu finden. Es ist immer wieder eine Überraschung für mich. Wenn ich das letzte Stück der Treppe emporsteige und die Tür aufschließe, habe ich stets Herzklopfen, daß es nicht wahr sein könnte.«
Sie blickte mich lächelnd an. Sie antwortete fast nie, wenn ich ihr so etwas sagte. Ich hätte es mir auch nicht vorstellen können und es schlecht ertragen, wenn sie mir vielleicht etwas Ähnliches erwidert hätte — ich fand, daß eine Frau einem Mann nicht sagen sollte, daß sie ihn liebte. Sie bekam nur strahlende, glückliche Augen, und damit sagte sie mehr als mit noch so vielen Worten.
Ich hielt sie lange fest, ich spürte die Wärme ihrer Haut und den leichten Duft ihres Haares — ich hielt sie fest, und es war nichts mehr da außer ihr, die Dunkelheit wich zurück, sie war da, sie lebte, sie atmete, und nichts war verloren.
»Gehen wir wirklich fort, Robby?« fragte sie dicht an meinem Gesicht. »Alle zusammen sogar«, erwiderte ich, »Köster und Lenz auch. Karl steht schon vor der Tür.«
»Und Billy?«
»Billy kommt natürlich mit. Was sollen wir sonst mit dem Rest des Abendessens machen! Oder hast du schon gegessen?«
»Nein, noch nicht. Ich habe auf dich gewartet.«
»Du sollst aber nicht auf mich warten. Nie. Es ist schrecklich, auf etwas zu warten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das verstehst du nicht, Robby. Es ist nur schrecklich, nichts zu haben, auf das man warten kann.«
Sie knipste das Licht vor dem Spiegel an. »Jetzt muß ich aber anfangen, mich umzuziehen, sonst werde ich nicht fertig. Ziehst du dich auch um?«
»Später«, sagte ich, »ich bin ja rasch fertig. Laß mich noch etwas hierbleiben.«
Ich rief den Hund zu mir und setzte mich in den Sessel neben das Fenster. Ich liebte es, so still dazusitzen und Pat zuzusehen, während sie sich anzog. Nie empfand ich das Geheimnis des ewig Fremden der Frau mehr als bei diesem leisen Hin- und Hergehen vor dem Spiegel, diesem nachdenklichen Prüfen, diesem ganz In-sich-Versinken, diesem Zurückgleiten in den unbewußten Spürsinn des Geschlechtes. Ich konnte mir nicht gut denken, daß eine Frau sich schwatzend und lachend ankleidete — und wenn sie es tat, dann fehlte ihr das Geheimnis und der undeutbare Zauber des immer wieder Entfliehenden. Ich liebte bei Pat ihre weichen und doch geschmeidigen Bewegungen vor dem Spiegel; es war wunderbar anzusehen, wie sie nach ihrem Haar griff oder einen Augenbrauenstift behutsam und vorsichtig wie einen Pfeil an die Schläfen führte. Sie hatte dann etwas von einem Reh und von einem schmalen Panther und auch etwas von einer Amazone vor dem Kampf. Sie vergaß alles um sich her, ihr Gesicht war ernst und gesammelt, sie hielt es aufmerksam und ruhig ihrem Spiegelbild entgegen, und während sie sich ihm ganz dicht zuneigte, schien es, als wäre es gar kein Spiegelbild mehr, als sähen sich dort aus der Dämmerung der Wirklichkeit und der Jahrtausende zwei Frauen mit uraltem, wissendem Blick kühn und prüfend in die Augen.
Der frische Hauch des Abends wehte vom Friedhof durch das offene Fenster ins Zimmer. Ich saß still da, ich hatte nichts vergessen vom Nachmittag, ich wußte alles noch genau — aber wenn ich zu Pat hinübersah, dann spürte ich, wie die dumpfe Traurigkeit, die wie ein Stein in mir heruntergesunken war, immer wieder überspült wurde von einer wilden Hoffnung, wie sie sich wandelte und sich seltsam damit vermischte, wie eines zum andern wurde, die Traurigkeit, die Hoffnung, der Wind, der Abend und das schöne Mädchen zwischen den beglänzten Spiegeln und Leuchtern, ja, ich hatte einen Augenblick lang plötzlich das sonderbare Empfinden, als ob erst das wirklich und in einem sehr tiefen Sinne das Leben sei und vielleicht sogar das Glück: Liebe mit so viel Schwermut, Furcht und schweigendem Wissen.

20

XIX

Ich stand am Parkplatz und wartete. Gustav kam mit seinem Wagen heran und stellte sich hinter mir auf. »Was macht der Köster, Robert?« fragte er.
»Dem geht's großartig«, sagte ich.
»Und dir?«
Ich winkte mißmutig ab. »Mir würde es auch großartig gehen, wenn ich mehr verdiente. Stell dir vor, zwei ganze Fünfzigpfennigfuhren heute.«
Er nickte. »Es wird immer schlechter. Alles wird immer schlechter. Was das bloß noch geben soll!«
»Dabei müßte ich so notwendig Geld verdienen!« sagte ich. »Gerade jetzt! Viel Geld.«
Gustav kratzte sich am Kinn. »Viel Geld!« Dann sah er mich an. »Reell ist nirgendwo viel Moos zu holen, Robert. Nur durch Spekulationen. Wie wäre es mit dem Toto? Heute sind Rennen. Ich weiß da einen erstklassigen Laden. Habe neulich achtundzwanzigfaches Geld gemacht auf Aida.«
»Was, ist mir egal. Hauptsache ist, daß eine Chance da ist.«
»Hast du schon mal getippt?«
»Nein.«
»Dann hast du die Kinderhand! Damit ist was zu machen.« Er sah nach der Uhr. »Wollen wir los? Schaffen's grade noch.«
»Gut!« Seit der Sache mit dem Hund hatte ich starkes Vertrauen zu Gustav.
Das Wettbüro war ein ziemlich großer Raum. Rechts war ein Zigarrenladen abgeteilt, links befand sich der Totalisator.
Das Schaufenster hing voll von grünen und rosafarbenen Sportzeitungen und mit der Schreibmaschine getippten Rennanzeigen. An einer Wand lief ein Pult mit ein paar Schreibaufsätzen entlang. Dahinter waren drei Männer in wilder Bewegung. Einer schrie am Telefon herum, ein anderer rannte mit Zetteln in den Händen hin und her, und der dritte stand, eine Melone weit auf den Hinterkopf geschoben, eine dicke, schwarze, zerkaute Brasil zwischen den Zähnen rollend, ohne Rock, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln hinter einem der Pulte und notierte die Einsätze. Sein Hemd war von intensivstem Violett.
Zu meinem Erstaunen herrschte mächtiger Betrieb. Es waren fast nur kleine Leute da, Handwerker, Arbeiter, kleine Beamte, ein paar Huren und Zuhälter. Gleich an der Tür hielt uns ein Mann mit schmutzigen grauen Gamaschen, grauer Melone und abgerissenem grauem Gehrock fest. »Von Bieling, Tips, die Herren? Todsicher!«
»Auf dem Mond«, erwiderte Gustav, der in dem Laden plötzlich ein ganz anderes Gesicht bekam.
»Nur fünfzig Pfennig«, drängte Bieling. »Kenne die Trainer persönlich. Von früher«, setzte er auf einen Blick von mir hinzu.
Gustav studierte bereits die Rennlisten. »Wann kommt Auteuil 'raus?« rief er zur Theke hinüber.
»Fünf Uhr«, quakte der Gehilfe.
»Philomene, bombiges Luder«, brummte Gustav. »Staatsgaul bei tiefem Geläuf.« Er schwitzte bereits vor Aufregung. »Was ist das nächste?« fragte er.
»Hoppegarten«, sagte jemand neben ihm.
Gustav studierte wieder. »Wir setzen als Anfang jeder zwei Eier auf Tristan, Sieg«, erklärte er mir.
»Hast du denn eine Ahnung davon?« fragte ich.
»Ahnung? Ich kenne jeden Pferdehuf.«
»Und dann setzen Sie auf Tristan?« sagte jemand neben uns. »Fleißiges Lieschen, Mann, die einzige Chance! Ich kenne Johnny Burns persönlich.«
»Und ich«, gab Gustav zurück, »bin der Besitzer des Stalles Fleißiges Lieschen selber. Ich weiß es noch besser.«
Er rief unsere Sätze dem Mann am Pult zu. Wir erhielten einen Zettel und setzten uns vorn in das Lokal, wo ein paar Tische und Stühle standen. Neben uns schwirrten alle möglichen Namen durch die Luft. Ein paar Arbeiter diskutierten über Rennpferde in Nizza, zwei Postschaffner studierten den Wetterbericht aus Paris, und ein Kutscher renommierte mit seinen Zeiten als Trabrennfahrer. Nur ein dicker Mann mit hochstehenden Haaren saß teilnahmslos an seinem Tisch und aß ein Brötchen nach dem andern. Zwei andere lehnten an der Wand und sahen gierig zu. Sie hatten jeder ein Ticket in den Händen, aber ihre Gesichter waren so eingefallen, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen.
Das Telefon schrillte. Alles spitzte die Ohren. Der Gehilfe rief die Namen aus. Von Tristan war weit und breit nichts zu hören. »Verdammt«, sagte Gustav und lief rot an, »Salomon hat's gemacht. Wer hätte das gedacht, Sie etwa?« fragte er ärgerlich das Fleißige Lieschen. »Sie waren auch unter: ferner liefen...«
Von Bieling erschien zwischen uns. »Meine Herrschaften, hätten Sie auf mich gehört — Salomon hätte ich Ihnen gesagt! Nur Salomon! Wollen Sie zum nächsten Rennen?«
Gustav hörte gar nicht hin. Er hatte sich beruhigt und war mit dem Fleißigen Lieschen in ein Fachgespräch verwickelt.
»Verstehen Sie was von Pferden?« fragte Bieling mich.
»Nichts«, sagte ich.
»Dann setzen Sie! Setzen Sie! Aber nur heute«, fügte er flüsternd hinzu, »und nie wieder. Hören Sie auf mich. Setzen Sie — es ist ganz egal — König Lear oder Silbermotte — vielleicht auch L'heure bleue. Ich will nichts verdienen. Geben Sie mir nur etwas, wenn Sie gewinnen.« Er zitterte mit dem Kinn vor Spielleidenschaft. Ich kannte die Regel vom Poker her: Anfänger gewannen oft. »Schön«, sagte ich, »worauf?«
»Was Sie wollen — was Sie wollen...«
»L'heure bleue klingt nicht häßlich«, sagte ich, »also zehn Mark auf L'heure bleue.«
»Bist du verrückt?« fragte Gustav.
»Nein«, sagte ich.
»Zehn Eier auf diesen Kracher, aus dem sie schon längst Wurst hätten machen müssen?«
Das Fleißige Lieschen, das eben Gustav noch einen Abdecker genannt hatte, stimmte mit vollen Backen ein. »So was! Laeure blaeue setzt der! Das ist eine Kuh und kein Pferd, Herr! Maientraum vernascht den auf zwei Beinen, wie er will! Sieg?«
Bieling sah mich beschwörend an und machte mir Zeichen.
»Sieg«, sagte ich.
»Laß dir begraben«, grunzte das Fleißige Lieschen verächtlich.
»Mensch!« Auch Gustav sah mich an, als ob ich mich in einen Hottentotten verwandelt hätte. »Gipsy II, das weiß doch ein Säugling im Mutterleib schon.«
»Ich bleibe bei meiner L'heure bleue«, erklärte ich. Es wäre gegen alle geheimen Glücksrittergesetze gewesen, jetzt noch zu wechseln.
Der Mann mit dem lila Hemd übergab mir meinen Zettel. Gustav und das Fleißige Lieschen betrachteten mich, als hätte ich die Beulenpest. Sie rückten sichtbar von mir ab und drängten zum Pult, um dort mit gegenseitigem Hohngelächter, in dem aber doch der Respekt der Fachleute voreinander steckte, Gipsy II und Maientraum zu tippen.
In diesem Augenblick kippte jemand um. Es war einer der mageren Leute, die vorn neben den Tischen gestanden hatten. Er rutschte an der Wand entlang und schlug hart auf die Erde. Die beiden Postschaffner hoben ihn auf und packten ihn auf einen Stuhl. Sein Gesicht war grauweiß. Der Mund stand offen.
»Jotte doch!« sagte eine der Huren, eine volle schwarze Person mit glattem Haar und niedriger Stirn, »hol mal einer 'n Becher Wasser.«
Ich wunderte mich, wie wenige Leute sich um den Ohnmächtigen kümmerten. Die meisten sahen nur flüchtig hin, dann wandten sie sich wieder den Wetten zu. »Kommt alle Augenblicke vor«, sagte Gustav. »Arbeitslose. Verwetten jeden Pfennig. Lauern immer auf das ganz große Geld, tausend zu zehn.«
Der Kutscher kam aus der Zigarrenabteilung mit einem Glas Wasser. Die schwarze Hure tauchte ihr Taschentuch hinein und wischte dem Mann damit über die Stirn und die Schläfen. Er seufzte und öffnete plötzlich die Augen. Es hatte etwas Unheimliches, wie sie auf einmal lautlos wieder da waren in dem ganz erloschenen Gesicht — so, als blickte neugierig und kalt ein anderes, unbekanntes Wesen durch die Schlitze einer starren, grauweißen Maske.
Das Mädchen nahm das Glas Wasser und gab dem Mann zu trinken. Es hielt ihn dabei wie ein Kind im Arm. Dann langte sie dem teilnahmslosen Esser mit den hochstehenden Haaren ein Brötchen vom Tisch. »Komm, iß mal — aber langsam, langsam — beiß mir nicht den Finger ab —; so, und nun trink wieder...«
Der Mann am Tisch schielte seinem Brötchen nach, sagte aber nichts. Der andere bekam langsam wieder Farbe. Er aß noch eine Weile, dann taumelte er hoch. Das Mädchen stützte ihn bis zur Tür. Dann warf sie rasch einen Blick zurück und knipste ihre Handtasche auf. »Da, nun hau ab und friß lieber, statt zu wetten.«
Einer der Zuhälter, der ihr die ganze Zeit den Rücken gekehrt hatte, drehte sich um. Er hatte ein Raubvogelgesicht mit abstehenden Ohren und trug Lackschuhe und eine Sportmütze.
»Was hast du ihm gegeben?« fragte er.
»Groschen.«
Er stieß sie mit dem Ellbogen vor die Brust. »Wird schon mehr gewesen sein! Nächstens fragste mich.«
»Mach's halblang, Ede«, sagte ein anderer. Die Hure holte ihre Puderdose heraus und malte sich die Lippen. »Ist doch wahr«, sagte Ede.
Die Hure erwiderte nichts.
Das Telefon klingelte. Ich beobachtete Ede und paßte nicht auf. »Das nennt die Welt Schwein!« hörte ich plötzlich Gustav schmettern, »Herrschaften, das ist schon mehr als Schwein, das ist eine Riesenmuttersau mit zwanzig Ferkeln!« Er schlug mir auf die Schulter. »Hundertachtzig Eier hast du getrudelt, Mann Gottes! Dein Hottehüh mit dem komischen Namen hat's gemacht!«
»Was, tatsächlich?« fragte ich.
Der Mann mit der zerkauten Brasilzigarre und dem farbenprächtigen Hemd nickte sauer und nahm mir meinen Zettel ab. »Wer hat Ihnen den Tip gegeben?«
»Ich«, sagte Bieling eilig mit einem schrecklich demütigen, erwartungsvollen Lächeln und drängte sich mit einer Verbeugung vor. »Ich, wenn Sie gestatten — meine Beziehungen...«
»Na, Mensch...« Der Chef sah ihn gar nicht an und zahlte mir das Geld aus. Einen Augenblick entstand völlige Stille im ganzen Raum. Alles sah zu. Sogar der unentwegte Esser hob den Kopf.
Ich steckte die Scheine ein. »Aufhören!« flüsterte Bieling. »Aufhören!« Er hatte rote Flecke im Gesicht. Ich schob ihm zehn Mark in die Hand. Gustav schmunzelte und boxte mich in die Rippen. »Siehst du, was habe ich dir gesagt! Mußt nur auf Gustav hören, dann scheffelst du Geld!«
Ich vermied es, den ehemaligen Sanitätsgefreiten an Gipsy II zu erinnern. Es fiel ihm gleich darauf auch wohl selber ein. »Wollen losgehen«, sagte er, »ist heute kein richtiger Tag für Künstler.«
An der Tür zupfte mich jemand am Ärmel. Es war das Fleißige Lieschen. »Was würden Sie beim Maslowski-Gedächtnisrennen tippen?« fragte er mit gierigem Respekt.
»Nur o Tannenbaum«, sagte ich und ging mit Gustav in die nächste Kneipe, um auf die Gesundheit von L'heure bleue ein Glas zu trinken.
Eine Stunde später hatte ich dreißig Mark wieder verloren. Ich hatte es doch nicht lassen können. Aber dann hörte ich auf. Bieling steckte mir beim Fortgehen einen Zettel zu. »Wenn Sie mal irgendwas brauchen! Oder Ihre Bekannten.
Ich habe die Vertretung.« Es war eine Reklame für Heimkinos. »Ich vermittle auch den Verkauf getragener Garderobe«, rief er mir noch nach. »Barzahlung!«
Um sieben Uhr fuhr ich in die Werkstatt zurück. Karl stand auf dem Hof und röhrte. »Gut, daß du kommst, Robby«, rief Köster, »wir wollen gerade 'raus und ihn ausprobieren! Steig ein.«
Die ganze Firma stand erwartungsvoll bereit. Otto hatte an Karl einiges verbessert und geändert, weil er in vierzehn Tagen mit ihm zu einem Bergrennen starten wollte. Jetzt sollte die erste Probefahrt erfolgen.
Wir stiegen ein. Jupp saß neben Köster, seine mächtige Rennbrille vor dem Gesicht. Ihm wäre das Herz gebrochen, wenn er nicht mitgekonnt hätte. Lenz und ich setzten uns nach hinten.
Karl stob davon. Wir erreichten die lange Ausfallstraße und gingen auf hundertvierzig Kilometer. Lenz und ich bückten uns dicht auf die Lehnen der Vordersitze; es war ein Wind, daß man meinte, der Kopf würde einem weggerissen. Die Pappeln zu beiden Seiten der Straße stürzten vorüber, die Reifen pfiffen, und der wunderbare Ton des Motors ging uns wie der wilde Schrei der Freiheit durch alle Knochen. Eine Viertelstunde später sahen wir vor uns einen schwarzen Punkt, der rasch größer wurde. Es war ein ziemlich schwerer Wagen, der eine Geschwindigkeit von ungefähr achtzig bis hundert Kilometern hatte. Er lag nicht besonders gut auf der Straße, sondern schwänzelte hin und her. Die Strecke war ziemlich schmal. Köster ging deshalb mit dem Tempo herunter. Als wir auf hundert Meter heran waren und hupen wollten, sahen wir plötzlich auf einem Seitenweg von rechts einen Motorradfahrer herankommen, der gleich darauf hinter einer Hecke vor der Kreuzung verschwand. »Verflucht! Das gibt was!« rief Lenz.
Im selben Augenblick sahen wir den Motorradfahrer auf der Straße auftauchen, zwanzig Meter vor dem Wagen. Er hatte wahrscheinlich dessen Tempo unterschätzt und versuchte deshalb jetzt, im Bogen vorher noch vorbeizukommen. Der Wagen ruckte scharf nach links, um so auszuweichen, aber das Motorrad rutschte jetzt ebenfalls nach links herüber. Der Wagen wurde wieder nach rechts gerissen und streifte mit dem Kotflügel das Motorrad, das herumflog. Der Fahrer stürzte vornüber auf die Straße. Der Wagen schleuderte, kam nicht wieder in die Bahn, riß den Wegweiser um, knickte eine Laterne ab und prallte mit knatterndem Getöse gegen einen Baum.
Das alles geschah in wenigen Sekunden. Im nächsten Augenblick waren wir mit unserm immer noch hohen Tempo heran, die Reifen knirschten, Köster warf Karl wie ein Pferd zwischen dem Motorradfahrer, dem Rad und dem querstehenden, dampfenden Wagen hindurch, er berührte links fast die Hand des Gestürzten und rechts das Heck des Wagens, dann brüllte der Motor auf, zwang Karl wieder in die Gerade, die Bremsen kreischten, und es wurde still. »Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz.
Wir liefen zurück und rissen die Türen des Wagens auf. Der Motor lief noch. Köster griff zum Schaltbrett und zerrte den Schlüssel heraus. Das Keuchen der Maschine erstarb, und wir hörten Stöhnen.
Sämtliche Scheiben der schweren Limousine waren zersplittert. Im Halbdunkel des Innern sahen wir das blutüberströmte Gesicht einer Frau. Neben ihr war ein Mann, zwischen Steuerrad und Sitz gequetscht. Wir hoben zuerst die Frau heraus und legten sie auf die Straße. Ihr Gesicht war voller Schnitte, ein paar Splitter steckten noch darin, aber das Blut lief regelmäßig. Schlimmer war der rechte Arm. Der Ärmel der weißen Kostümjacke war hellrot und tropfte stark. Lenz schnitt ihn auf. Ein Schwall Blut floß heraus, dann pulste es weiter. Die Ader war zerschnitten. Lenz drehte sein Taschentuch zu einem Knebel. »Macht den Mann frei, ich werde hier schon fertig«, sagte er. »Wir müssen rasch ins nächste Krankenhaus.«
Um den Mann loszubekommen, mußten wir die Sitzlehne abschrauben. Zum Glück hatten wir Werkzeug genug bei uns, und es ging ziemlich schnell. Der Mann blutete ebenfalls und hatte anscheinend ein paar Rippen gebrochen. Als wir ihm heraushalfen, fiel er mit einem Schrei um. Es war auch was mit dem Knie los. Aber wir konnten im Augenblick nichts daran tun.
Köster fuhr Karl rückwärts bis dicht an die Unglücksstelle heran. Die Frau bekam einen Schreikrampf vor Angst, als sie ihn so näher kommen sah, obschon er im Schritt fuhr. Wir legten die Lehne eines der Vordersitze zurück und konnten so den Mann hinlegen. Die Frau setzten wir auf den Hintersitz. Ich stellte mich neben sie auf das Trittbrett, Lenz hielt ebenso von der andern Seite den Mann fest. »Bleib hier und paß auf den Wagen auf, Jupp«, sagte Lenz.
»Wo ist eigentlich der Motorradfahrer geblieben?« fragte ich.
»Abgehauen, als wir am Arbeiten waren«, erklärte Jupp.
Wir fuhren langsam los. In der Nähe des nächsten Dorfes war ein kleines Sanatorium. Wir hatten es oft im Vorüberfahren gesehen. Es lag weiß und niedrig auf einem Hügel. Soviel wir wußten, war es eine Art Privatirrenanstalt für leichtkranke, reiche Patienten — aber sicher war ein Arzt da und ein Verbandsraum.
Wir fuhren den Hügel hinauf und klingelten. Eine sehr hübsche Schwester kam heraus. Sie wurde blaß, als sie das Blut sah, und lief zurück. Gleich darauf kam eine zweite, bedeutend ältere. »Bedaure«, sagte sie sofort, »wir sind nicht auf Unfälle eingerichtet. Sie müssen zum Virchow-Krankenhaus fahren. Es ist nicht weit.«
»Es ist fast eine Stunde von hier«, erwiderte Köster.
Die Schwester sah ihn abweisend an. »Wir sind gar nicht auf so etwas eingerichtet. Es ist auch kein Arzt da...«
»Dann verstoßen Sie gegen das Gesetz«, erklärte Lenz. »Privatanstalten Ihrer Art müssen einen ständigen Arzt haben. Würden Sie mir erlauben, einmal Ihr Telefon zu benützen? Ich möchte mit der Polizeidirektion und der Redaktion des Tageblattes telefonieren.«
Die Schwester wurde unschlüssig. »Ich glaube, Sie können beruhigt sein«, sagte Köster kalt. »Ihre Arbeit wird Ihnen sicher gut bezahlt werden. Wir brauchen zunächst eine Tragbahre. Den Arzt werden Sie ja wohl erreichen können.« Sie zögerte immer noch. »Eine Tragbahre«, erläuterte Lenz, »gehört ebenfalls laut Gesetz, ebenso wie ausreichendes Verbandsmaterial...«
»Jaja«, erwiderte sie hastig, scheinbar niedergeschmettert durch so viel Kenntnisse, »sofort, ich schicke jemand...«
Sie verschwand. »Allerhand«, sagte ich.
»Kann dir auch im Städtischen Krankenhaus passieren«, antwortete Gottfried gleichmütig. »Erst kommt das Geld, dann die Bürokratie, dann die Hilfe.«
Wir gingen zum Wagen zurück und halfen der Frau heraus. Sie sagte nichts; sie blickte nur auf ihre Hände. Wir brachten sie in einen kleinen Ordinationsraum im Parterre. Dann kam die Tragbahre für den Mann. Wir hoben ihn hinauf. Er stöhnte. »Einen Augenblick...«
Wir sahen ihn an. Er schloß die Augen. »Ich möchte, daß niemand etwas erfährt«, sagte er mühsam.
»Sie waren völlig ohne Schuld«, erwiderte Köster. »Wir haben den Unfall genau gesehen und sind gern Zeugen für Sie.«
»Das ist es nicht«, sagte der Mann. »Ich möchte aus anderen Gründen, daß nichts bekannt wird. Sie verstehen...« Er blickte nach der Tür, durch die die Frau gegangen war.
»Dann sind Sie hier am richtigen Platz«, erklärte Lenz. »Es ist ein Privathaus. Das einzige wäre nur noch, daß Ihr Wagen verschwindet, ehe die Polizei ihn sieht.«
Der Mann stützte sich auf. »Würden Sie das für mich noch machen? Eine Reparaturanstalt anrufen? Und geben Sie mir bitte Ihre Adresse! Ich möchte — ich bin Ihnen zu Dank...«
Köster wehrte mit einer Handbewegung ab. »Doch«, sagte der Mann, »ich wüßte gern...«
»Ganz einfach«, erwiderte Lenz. »Wir haben selbst eine Reparaturwerkstatt und sind Spezialisten für Wagen wie den Ihren. Wir werden ihn gleich mitnehmen, wenn Sie einverstanden sind, und ihn wieder in Ordnung bringen. Damit ist Ihnen geholfen und uns gewissermaßen auch.«
»Gern«, sagte der Mann. »Wollen Sie meine Adresse — ich komme dann selbst, den Wagen holen. Oder schicke jemand.«
Köster steckte die Visitenkarte in die Tasche, und wir trugen ihn hinein. Der Arzt, ein junger Mann, war inzwischen gekommen. Er hatte das Blut vom Gesicht der Frau abgewaschen, und man sah jetzt die tiefen Schnitte. Die Frau hob sich auf den gesunden Arm und starrte in das blinkende Nickel einer Schale auf dem Verbandstisch. »Oh«, sagte sie leise und ließ sich zurückfallen, mit entsetzten Augen.
Wir fuhren zum Dorf und fragten nach einer Werkstatt. Dort liehen wir uns bei einem Schmied eine Abschleppvorrichtung und ein Seil und versprachen dem Mann zwanzig Mark dafür. Doch der war mißtrauisch und wollte den Wagen sehen. Wir nahmen ihn mit und fuhren zurück.
Jupp stand mitten auf der Straße und winkte. Aber wir sahen ohne ihn schon, was los war. Ein alter, hochbordiger Mercedes stand am Straßenrand, und vier Leute waren dabei, den Stutz abzuschleppen.
»Da kommen wir ja gerade noch zurecht«, sagte Köster.
»Das sind die Brüder Vogt«, erwiderte der Schmied. »Gefährliche Bande. Wohnen drüben. Was die in den Fingern haben, geben sie nicht wieder her.«
»Mal sehen«, sagte Köster.
»Ich habe denen da schon alles erklärt, Herr Köster«, flüsterte Jupp. »Schmutzkonkurrenz. Wollen den Wagen für ihre eigene Werkstatt haben.«
»Schön, Jupp. Bleibt mal vorläufig hier.«
Köster ging auf den größten der vier zu und sprach ihn an. Er erklärte ihm, daß der Wagen uns gehöre. »Hast du irgend etwas Hartes bei dir?« fragte ich Lenz.
»Nur einen Schlüsselbund, und den brauche ich selber.
Nimm einen kleinen Engländer.«
»Lieber nicht«, sagte ich, »das könnte zu schwerer Körperverletzung führen. Schade, daß ich so leichte Schuhe anhabe. Sonst wäre Treten immer noch das beste.«
»Machen Sie mit?« fragte Lenz den Schmied. »Dann sind wir vier gegen vier.«
»Ich werde mich hüten! Damit die mir morgen die Bude einschlagen. Ich bleibe streng neutral.«
»Auch richtig«, sagte Gottfried.
»Ich mache mit«, erklärte Jupp.
»Untersteh dich!« sagte ich. »Du paßt auf, ob jemand kommt, weiter nichts.«
Der Schmied entfernte sich ein Stück von uns, um seine strenge Neutralität noch deutlicher zu zeigen.
»Quatsch keine Opern!« hörte ich gleich darauf den größten der Brüder Vogt Köster anknarren. »Wer zuerst da ist, mahlt zuerst! Fertig! Und nun schiebt ab!«
Köster erklärte nochmals, daß der Wagen uns gehöre. Er bot Vogt an, ihn in das Sanatorium zu fahren, damit er sich dort erkundigen könne. Der grinste verächtlich. Lenz und ich kamen näher. »Ihr wollt wohl auch ins Krankenhaus, was?« fragte Vogt. Köster antwortete nicht, sondern ging an das Auto heran. Die drei andern Vogts richteten sich auf. Sie standen jetzt dicht zusammen. »Gebt mal das Abschleppseil her«, sagte Köster zu uns. »Mensch«, erwiderte der älteste Vogt. Er war einen Kopf größer als Köster. »Tut mir leid«, sagte Köster, »aber wir werden den Wagen mitnehmen.« Lenz und ich schlenderten noch näher heran, die Hände in den Taschen. Köster bückte sich zu dem Wagen herunter. Im gleichen Moment schleuderte Vogt ihn mit einem Tritt beiseite. Otto hatte damit gerechnet; er hatte in derselben Sekunde das Bein gefaßt und Vogt umgerissen. Dann kam er hoch und schlug dem nächsten der Brüder, der gerade die Stange des Wagenhebers hob, vor den Magen, daß er taumelte und ebenfalls zu Boden ging. Im nächsten Augenblick sprangen Lenz und ich auf die beiden andern zu. Ich bekam sofort einen Schlag ins Gesicht. Es war nicht schlimm, aber meine Nase fing an zu bluten, ich verfehlte den nächsten Schlag, rutsche am fettigen Kinn des andern ab, bekam einen zweiten Hieb gegen das Auge und stürzte so unglücklich, daß mich der Vogt mit dem Magenschlag am Boden zu fassen kriegte. Er drückte mich gegen den Asphalt und umklammerte meinen Hals. Ich spannte die Muskeln an, damit er mich nicht würgen konnte, und versuchte, mich zu krümmen und herumzurollen, um ihn mit den Füßen wegzustoßen oder ihm in den Bauch zu treten. Aber Lenz und sein Vogt waren über meinen Beinen am Ringen, und ich kam nicht frei. Der Atem wurde mir schwer trotz der angespannten Halsmuskeln, weil ich durch die blutende Nase keine Luft bekam. Allmählich wurde alles glasig um mich her, das Gesicht Vogts zitterte vor meinen Augen wie Gallert, und ich spürte schwarze Schatten hinter meinem Schädel. Mit dem letzten Blick sah ich Jupp plötzlich neben mir; — er kniete im Straßengraben, verfolgte ruhig und aufmerksam mein Zucken und schlug, als in einer Sekunde der Stille alles für ihn parat schien, mit einem Hammer gegen Vogts Handgelenk. Beim zweiten Schlag ließ Vogt los und griff vom Boden aus wütend nach Jupp, der einen halben Meter zurückrutschte und ihm in aller Ruhe einen dritten saftigen Schlag auf die Finger und dann einen auf den Kopf versetzte. Ich kam hoch, rollte mich auf Vogt und begann ihm meinerseits den Hals zuzuschnüren. In diesem Augenblick erscholl ein tierisches Brüllen und dann ein Wimmern: »Loslassen — loslassen!«
Es war der älteste Vogt. Köster hatte ihm einen Arm umgedreht und über den Rücken hochgerissen. Vogt war mit dem Kopf voran zu Boden gegangen, und Köster kniete jetzt auf seinem Rücken und drehte den Arm weiter. Gleichzeitig schob er ihn mit dem Knie näher zum Nacken heran. Vogt heulte, aber Köster wußte, daß er ihn richtig fertigmachen mußte, wenn wir Ruhe haben wollten. Er renkte ihm mit einem Ruck den Arm aus und ließ ihn erst dann los. Vogt blieb eine Weile am Boden liegen. Ich sah auf. Einer der Brüder stand noch, aber das Schreien seines Bruders hatte ihn förmlich gelähmt.
»Macht euch weg, sonst geht's noch mal los«, sagte Köster zu ihm.
Ich schlug meinem Vogt zum Abschied noch einmal den Schädel auf die Straße und ließ dann los. Lenz stand schon neben Köster. Seine Jacke war zerrissen. Er blutete aus dem Mundwinkel. Der Kampf schien unentschieden gewesen zu sein, denn sein Vogt blutete zwar auch, stand aber ebenfalls. Die Niederlage des ältesten Bruders hatte alles entschieden. Keiner wagte noch ein Wort. Sie halfen dem ältesten auf und gingen zu ihrem Wagen. Der Unverletzte kam noch einmal zurück und holte den Wagenheber. Er schielte Köster an, als wäre er der Teufel. Dann rasselte der Mercedes los.
Auf einmal war der Schmied wieder da. »Die haben genug«, sagte er. »So was ist denen lange nicht passiert. Der älteste hat schon wegen Totschlag gesessen.«
Niemand antwortete ihm. Köster schüttelte sich plötzlich. »Schweinerei«, sagte er. Dann drehte er sich um. »Los!«
»Bin schon da«, erwiderte Jupp und rollte den Schleppesel heran.
»Komm mal her«, sagte ich. »Ab heute bist du Unteroffizier und darfst mit Zigarrenrauchen anfangen.«
Wir bockten den Wagen auf und befestigten ihn mit dem Drahtseil hinter Karl. »Glaubst du, daß es ihm nicht schadet?« fragte ich Köster. »Karl ist schließlich ein Rennpferd und kein Packesel.«
Er schüttelte den Kopf. »Ist ja nicht weit. Und ebene Straße.« Lenz setzte sich in den Stutz, und wir fuhren langsam los. Ich drückte mein Taschentuch gegen die Nase und schaute über die abendlichen Felder und in die sinkende Sonne. Es war ein ungeheurer, durch nichts zu erschütternder Friede darin, und man spürte, daß es der Natur völlig gleichgültig war, was dieses bösartige Ameisengewimmel, Menschheit genannt, auf der Welt trieb. Es war viel wichtiger, daß die Wolken jetzt allmählich zu goldenen Gebirgen wurden, daß die violettfarbenen Schatten der Dämmerung lautlos vom Horizont heranwehten, daß die Lerchen aus der grenzenlosen Weite des Himmels heimkehrten in ihre Ackerfurchen und daß es langsam Nacht wurde.
Wir fuhren auf unsern Hof ein. Lenz kletterte aus dem Stutz und nahm feierlich den Hut vor ihm ab. »Sei gegrüßt, Gesegneter! Du kommst aus traurigem Anlaß hierher, aber uns wirst du, mit liebevollem Auge oberflächlich geschätzt, etwa drei- bis dreieinhalbtausend Mark einbringen. Und jetzt gebt mir ein großes Glas Kirschwasser und ein Stück Seife — ich muß die Familie Vogt loswerden!«
Wir tranken alle ein Glas, dann gingen wir sofort daran, den Stutz möglichst weit auseinanderzunehmen. Es genügte nämlich nicht immer, daß der Besitzer allein den Auftrag zur Reparatur gab; — oft kam nachträglich noch die Versicherungsgesellschaft um den Wagen anderswohin, in eine ihrer Vertragswerkstätten, zu geben. Je weiter wir deshalb kamen, um so besser war es. Die Kosten für die Neumontage waren dann schon so hoch, daß es billiger war, den Wagen bei uns zu lassen. Es war dunkel, als wir aufhörten. »Fährst du heute abend noch Taxi?« fragte ich Lenz.
»Ausgeschlossen«, erwiderte Gottfried. »Man soll das Geldverdienen auf keinen Fall übertreiben. Der Stutz genügt mir.«
»Mir nicht«, sagte ich. »Wenn du nicht fährst, werde ich von elf bis zwei die Nachtlokale abgrasen.«
»Laß das lieber«, schmunzelte Gottfried. »Sieh statt dessen mal in den Spiegel. Du hast in letzter Zeit Pech mit deiner Nase. Mit der Runkelrübe steigt kein Mensch bei dir ein. Geh ruhig nach Hause und leg dir Kompressen drauf.«
Er hatte recht. Es ging wirklich nicht mit meiner Nase. Ich verabschiedete mich deshalb bald und ging nach Hause. Unterwegs traf ich Hasse und ging mit ihm das letzte Stück zusammen. Er sah verstaubt und elend aus. »Sie sind dünner geworden«, sagte ich.
Er nickte und erzählte mir, daß er abends nicht mehr richtig äße. Seine Frau sei fast jeden Tag bei den Bekannten, die sie gefunden hätte, und käme immer erst spät nach Hause. Er sei froh, daß sie Unterhaltung habe, aber abends hätte er keine Lust, sich allein etwas zu essen zu machen. Er hätte auch nicht viel Hunger; er sei viel zu müde dazu.
Ich sah ihn von der Seite an, während er mit hängenden Schultern neben mir herging. Vielleicht glaubte er wirklich, was er sagte, aber es war doch jammervoll, es mit anzuhören. Es war nur ein bißchen Sicherheit und ein bißchen Geld, woran diese Ehe und dieses sanfte, bescheidene Leben scheiterte. Ich dachte daran, daß es Millionen solcher Menschen gab und daß es immer nur das bißchen Sicherheit und das bißchen Geld war. Das Dasein war in einer entsetzlichen Weise zusammengeschrumpft zu dem armseligen Kampf um die nackte Existenz. Ich dachte an die Prügelei heute nachmittag, ich dachte an das, was ich in den letzten Wochen gesehen hatte, ich dachte an alles, was ich schon gemacht hatte, und dann dachte ich an Pat und hatte plötzlich das Gefühl, daß das nie zusammenkommen könnte. Der Sprung war zu groß, das Leben war zu dreckig geworden für das Glück, es konnte nicht dauern, man glaubte nicht mehr daran, es war eine Atempause, aber kein Hafen.
Wir stiegen die Treppe hinauf und schlossen die Tür auf. Auf dem Vorplatz blieb Hasse stehen. »Also dann auf Wiedersehen...«
»Essen Sie heute mal was«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf mit einem schwachen Lächeln, als wollte er um Entschuldigung bitten, und ging in sein leeres dunkles Zimmer. Ich blickte ihm nach. Dann ging ich weiter den Schlauch des Korridors entlang. Plötzlich hörte ich leises Singen. Ich blieb stehen und horchte. Es war nicht Erna Bönigs Grammophon, wie ich zuerst glaubte; es war die Stimme Pats. Sie war allein in ihrem Zimmer und sang. Ich sah nach der Tür hinüber, hinter der Hasse verschwunden war, ich beugte mich wieder vor und lauschte, und dann preßte ich plötzlich die Hände zusammen — verflucht, mochte es tausendmal nur eine Atempause und kein Hafen sein, mochte es tausendmal zu weit auseinanderliegen, so daß man nicht daran glauben konnte — gerade weil man nicht daran glauben konnte, gerade deshalb war es immer und immer wieder bestürzend neu und überwältigend, das Glück!
Pat hörte mich nicht kommen. Sie saß auf dem Boden vor dem Spiegel und probierte an einem Hut herum, einer kleinen schwarzen Kappe. Neben ihr auf dem Teppich stand die Lampe. Das Zimmer war voll von einer warmen braungoldenen Dämmerung, und nur ihr Gesicht war hell vom Licht bestrahlt. Sie hatte sich einen Stuhl herangerückt, von dem ein bißchen Seide herunterhing. Auf dem Sitz lag eine Schere und blitzte.
Ich blieb ruhig an der Tür stehen und sah zu, wie sie ernsthaft an der Kappe arbeitete. Sie liebte es, auf dem Boden zu sitzen, und ich hatte sie manchmal schon abends eingeschlafen in irgendeiner Zimmerecke auf dem Boden gefunden, neben sich ein Buch und den Hund.
Der Hund lag auch jetzt neben ihr und begann zu knurren. Pat blickte auf und sah mich im Spiegel. Sie lächelte, und mir schien, als ob alles in der Welt heller dadurch würde. Ich ging durch das Zimmer, kniete hinter ihr nieder und legte meinen Mund nach all dem Dreck des Tages auf die warme, weiche Haut des Nackens vor mir.
Sie hob die schwarze Kappe hoch. »Ich habe sie geändert, Liebling. Gefällt sie dir so?«
»Es ist ein ganz herrlicher Hut«, sagte ich.
»Aber du siehst ja gar nicht hin! Ich habe hinten den Rand abgeschnitten und ihn vorn hochgeklappt.«
»Ich sehe ihn ganz genau«, sagte ich mit dem Gesicht in ihrem Haar, »es ist ein Hut, bei dem die Pariser Schneider vor Neid erbleichen würden, wenn sie ihn sähen.«
»Aber Robby!« Lachend schob sie mich zurück. »Du hast keine Ahnung davon. Siehst du überhaupt manchmal, was ich anhabe?«
»Ich sehe jede Kleinigkeit«, erklärte ich und hockte mich dicht neben sie auf den Boden, allerdings etwas in den Schatten, wegen meiner Nase.
»So? Was habe ich denn gestern abend angehabt?«
»Gestern?« Ich dachte nach. Ich wußte es tatsächlich nicht.
»Das habe ich erwartet, Liebling! Du weißt ja überhaupt fast gar nichts von mir.«
»Stimmt«, sagte ich, »aber das ist gerade das Schöne. Je mehr man voneinander weiß, desto mehr mißversteht man sich. Und je näher man sich kennt, desto fremder wird man sich. Sieh mal die Familie Hasse an; — die wissen alles voneinander und sind sich mehr zuwider als die fremdesten Menschen.«
Sie setzte die kleine schwarze Kappe auf und probierte sie vor dem Spiegel. »Was du da sagst, stimmt nur halb, Robby.«
»Das ist mit allen Wahrheiten so«, erwiderte ich. »Weiter kommen wir nie. Dafür sind wir Menschen. Und wir machen schon genug Unsinn mit unsern halben Wahrheiten. Mit den ganzen könnten wir überhaupt nicht leben.«
Sie setzte den Hut ab und legte ihn fort. Dann drehte sie sich um. Dabei erblickte sie meine Nase. »Was ist denn das?« fragte sie erschrocken.
»Nichts Schlimmes. Es sieht nur so aus. Beim Arbeiten unter dem Wagen ist mir was drauf gefallen.«
Sie sah mich ungläubig an. »Wer weiß, wo du wieder gewesen bist! Du sagst mir ja nie etwas. Ich weiß von dir ebensowenig wie du von mir.«
»Das ist auch besser«, sagte ich.
Sie holte eine Schale mit Wasser und ein Tuch und machte mir eine Kompresse. Dann betrachtete sie mich noch einmal. »Es sieht wie ein Schlag aus. Dein Hals ist auch zerkratzt. Du wirst sicher irgendein Abenteuer gehabt haben, Liebling.«
»Mein größtes Abenteuer heute kommt noch«, sagte ich.
Sie sah überrascht auf. »So spät noch, Robby? Was hast du denn noch vor?«
»Ich bleibe hier!« erwiderte ich, warf die Kompresse weg und nahm sie in die Arme. »Ich bleibe den ganzen Abend hier mit dir zusammen!«


Âû çäåñü » Ñëàâÿíñêàÿ Ôåäåðàöèÿ » Êëàññèêà » Erich Maria Remarque - Drei Kameraden